Alle Artikel mit dem Schlagwort " Leser-fragen"

Darf man Terroristen „Kämpfer“ nennen? Mehr als ein Streit um Worte

Geschrieben am 25. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Leser empören sich über ein Wort: „IS-Kämpfer“. Sie schreiben Briefe an Redaktionen und protestieren: Das sind keine Kämpfer, das sind Terroristen.

In der Thüringer Allgemeine empfahl ein Leser aus Sömmerda:

Kämpfer ist ein zu positiver Ausdruck für eine Bande von Verbrechern und Mördern. Vor allem bei Jugendlichen wird dadurch – auch durch PC-Spiele, in denen es immer um Kämpfer geht – ein positiver Eindruck erweckt. Benutzen Sie doch bitte den zutreffenden Ausdruck „IS-Terroristen“

Interims-Chefredakteur Thomas Bärsch gibt in seiner Kolumne „Leser fragen“ dem Leser Recht, verweist aber auch auf eine Mitteilung des Oberlandesgerichts Celle in Niedersachsen; das verhandelt gegen zwei Männer, die für den IS gekämpft haben: „Die beiden Angeklagten sollen sich als Kämpfer bzw. Selbstmordattentäter zur Verfügung gestellt haben.“ Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Auch die Staatsanwaltschaft kommt an dem Wort „Kämpfer“ nicht vorbei; noch schwieriger wird es, wenn wir das Verb bedenken: Welches nutzen wir statt „kämpfen“? Was schreiben wir statt „IS-Terroristen kämpfen um die Stadt XY?“

Das Substantiv „Kämpfer“ können wir noch ersetzen durch „Mörder“ oder „Terroristen“. Das Verb „kämpfen“ ist nur schwer zu ersetzen.

Der TA-Chefredakteur verweist darauf: Der „Kämpfer“ rutscht in der Wendung „IS-Kämpfer“ von einer positiven in eine negative Bedeutung. Und er schlägt den Lesern vor: „Wir in der Redaktion haben uns dennoch darauf verständigt, IS-Kämpfer möglichst sparsam zu verwenden.“

Er hätte auch noch auf Goethes „West-östlichen Divan“ verweisen können. Huri, der Wächter vor dem Paradies der Muslime, kommt dem Dichter verdächtig vor, der Einlass verlangt:

Zählst du dich zu jenen Helden? Zeige deine Wunden an, die mir Rühmliches vermelden. Und ich führe dich heran.

Und Goethe, der Humanist aus Weimar, spielt mit den Worten und lässt den Dichter antworten:

Lass mich immer nur herein: Denn ich bin ein Mensch gewesen. Und das heißt ein Kämpfer sein.

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Quelle: Thüringer Allgemeine, 21. November 2015, Leser fragen

 

Wie schreiben über das Leben in der DDR? Was ist Wahrheit? Was ist subjektiv?

Geschrieben am 9. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Einem Leser missfällt, wenn Menschen, die an der DDR-Grenze gelebt und gelitten haben, zu Wort kommen – und „in die Rolle eines Opfers der DDR gerückt werden“. Seit einigen Wochen ist in der Thüringer Allgemeine die Serie „Die Grenze“ zu lesen, eine politische Wanderung entlang der kompletten innerdeutschen Grenze.

„Leider, ich weiß nicht aus welchen Gründen auch immer, kommen Ihre Darstellungen nicht ohne das Bedienen von Ressentiments aus“, schreibt der Leser. Er habe andere Erfahrungen gemacht, so hatte er beispielsweise „jahrelang permanent unmittelbar (in wenigen Meter Abstand) an der Grenze zu tun und durfte dies auch, ohne auch nur hundertprozentig zu sein, denn ich war weder Genosse und auch kein IM“.

Er schließt seine freundliche Mail: „Es kommt mir manchmal so vor, dass ähnlich wie zu DDR-Zeiten, wo kaum ein Fachvortrag ohne die Erwähnung des x-ten Parteitages der SED begann, auch heute in vielen Artikeln in mindestens einer Passage auf die permanente Unterdrückung und Unfreiheit hingewiesen werden muss, sei es auch mit Un- oder Halbwahrheiten. Vielleicht lassen sich auch solche nicht unbedingt relevanten Aussagen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt vor einer Veröffentlichung überprüfen.“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Es ist kaum möglich, an der Grenze jene links liegenzulassen, die von Schikanen, Vertreibungen und Unfreiheit, von Tod, Verstümmelung und unbewältigten Träumen berichten. Es dürfte auch schwer möglich sein, diese Geschichten als unwichtig zu erachten, wenn wir die Wahrheit der Geschichte erkunden.

Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Bruders, der immer noch unter der Enthauptung seines Bruders leidet? Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Menschen, den heute noch die Blicke der Arbeiter verfolgen, wenn er als junger Häftling in einen Betrieb einmarschierte?

Wie sollen wir ein Trauma, eine tiefe Verletzung überprüfen? Und – wer hat das Recht, diesen Menschen ihre Erfahrungen zu nehmen? Sicher sind das subjektive Erfahrungen, aber auch diese Erfahrungen gehören zur Geschichte.

Wo es möglich ist, haben wir in Dokumenten geforscht, haben Briefe und Urkunden gesichtet – und zitieren eifrig daraus. Wenn die Wahrheit im grauen Nebel verschwindet – wie beim Tod des Grenzers Rudi Arnstadt oder den Schüssen auf Wahlhausen -, dann schreiben wir auch das.

Aber den Opfern ihr Opfer zu bestreiten, käme einer zweiten Erniedrigung gleich. Es zu verschweigen, wäre zumindest unwahrhaftig.

 

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Thüringer Allgemeine, 8. August 2015, Leser fragen

Kommentare von Lesern online:

  • raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
  • Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?

Wie lange will die Redaktion noch von Beate Zschäpe berichten? Es reicht (Leser fragen)

Geschrieben am 1. August 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 1. August 2015 von Paul-Josef Raue in G. Wie Journalisten informieren.
Eine „treue Leserin“, die ihren Namen verschweigt, schickt an den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine eineTrauerkarte, wie man sie zu einem Todesfall versendet, packt dazu einen Bericht über den Zschäpe-Prozess und fragt: „Wie lange werden noch Seiten von Ihrer Zeitung damit gefüllt?“Sie ergänzt die Frage mit diesen Kommentaren: „Das Geld könnte wirklich an anderen Stellen nötiger gebraucht werden. Die Dame spielt doch mit der Justiz.“
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Werte treue Leserin,Sie haben Recht: Beate Zschäpe spielt mit Richtern, Opfern, Nebenklägern und mit ihren Verteidigern – und sie spielt mit unserem Rechtsstaat. Sie hasst offenbar unsere Demokratie, sie zählt sich zu einer Bande, die mit Menschen, die sie zu Opfern erklären, kurzen Prozess machen; wahrscheinlich verachtet sie auch uns, die mit ihr im Gerichtssaal und in der Öffentlichkeit fair umgehen.

Wenn Zschäpe und ihre Mitstreiter, wenn Neonazis und Terroristen die Macht hätten, dann bekämen wir eine Justiz der kurzen Prozesse. Wir wissen von den Diktaturen in Deutschland, wie ein Staat das Recht beugt: Die Urteile stehen schon vorher fest, sie werden von oben den Richtern diktiert; es geht nicht um die Wahrheit, es geht um Exempel, die statuiert werden, es geht um das Schüren von Angst. Solch einen Unrechtsstaat wollen wir nicht mehr.

Es würde Beate Zschäpe so passen, wenn wir nichts mehr berichteten, wenn der Prozess platzte, wenn wir einfach zur Tagesordnung übergingen. Doch wir bleiben dabei, wir hören aufmerksam zu. Der Prozess macht an nahezu jedem Tag deutlich: Es geht nicht nur um eine Frau, die uns nicht in die Augen blicken will, sondern um einen großen Kreis von Sympathisanten, der eine beispiellose Mordserie ermöglicht hat.

Wir schauen in den Untergrund unserer Gesellschaft, der noch lebendig ist. Das ist ein Grund, warum wir weiter berichten müssen: Dieser Hass auf unsere Gesellschaft verschwindet ja nicht, wenn wir ihn nicht mehr wahrnehmen – im Gegenteil: Er wuchert noch schneller.

Der zweite Grund ist unser Rechtsstaat: Wir zeigen, dass sich unsere Demokratie nicht von ihren Feinden verbiegen lässt. Und wir, als unabhängige Journalisten, und Sie als wache Leser und Bürger, achten darauf, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Wir stellen zudem Öffentlichkeit her, damit die Unbelehrbaren sehen, wie fair wir mit denen umgehen, die unseren Staat zerstören wollen.

Sicher kostet das Geld. Aber Recht ist am Ende viel preiswerter als Unrecht.

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 1. August 2015

Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über die Grenze fast ein Verbrechen ist (Leser fragen)

Geschrieben am 25. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Was geschah wirklich an der innerdeutschen Grenze? Wie lebten die Menschen am Todesstreifen? Wie die Westdeutschen im Zonengrenzgebiet? Wie leben sie heute? Die Thüringer Allgemeine erzählt die Antworten in einer umfangreichen Sommer-Serie „Die Grenze“. Diese „politische Wanderung“ provoziert bei den Lesern auch Widerspruch:

Leser fordert: Nutzt die automatische Rechtschreibprüfung und die Zeitung wird besser! (Leser fragen)

Geschrieben am 17. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Einem Leser aus Erfurt sind selbst Fehler im Promille-Bereich zu viele Fehler: „Das entschuldigt im Zeitalter der automatischen Rechtschreibeprüfung kaum die vielen Schreibfehler in unseren Zeitungen und Zeitschriften. Oder nutzen so viele Autoren noch die gute alte mechanische Schreibmaschine?“ Er geht so auf eine Kolumne des Chefredakteurs ein, der sich gegen den Vorwurf verteidigt hatte: In der Zeitung gibt es zu viele Fehler.

Auf den Vorschlag der „automatischen Rechtschreibeprüfung“ reagiert der Chefredakteur in seiner samstäglichen Kolumne „Leser fragen“:

Unsere Redakteure nutzen keine Schreibmaschinen mehr, aber sie nutzen auch keine automatischen Rechtschreibe-Programme. Automatische Prüfung bedeutet: Eine Software vergleicht alle Wörter mit denen in einem Wörterbuch. Findet sie das Wort nicht, geht sie von einem Fehler aus und ersetzt es ein durch ein Wort, das ähnlich geschrieben wird.

Eine Zeitung aus Sachsen hatte sich einmal auf einen Automaten verlassen: Der kannte nicht den Ministerpräsidenten Georg Milbradt und verbesserte ihn in: „Georg Milzbrand“.

Der Text wurde so gedruckt, die Zeitung bat um Entschuldigung, der Regierungschef nahm’s gelassen.

Leser einer niedersächsischen Zeitung lasen von „Pennern“ als Bewohner einer Stadt: Der Automat hatte aus den Bürgern von Peine „Penner“ gemacht.

Aus unserer Landeswellen-Moderatorin Nadine Haubold wollte der Automat eine Nadine Raufbold machen. Wir haben es verhindert.

Unsere Sprache lebt, verändert sich, bekommt neue Wörter – und taugt somit nicht für einen Automaten. Wir nehmen gerne zur Kenntnis, wenn die Rechtschreib-Prüfung ein Wort nicht kennt; wir lassen es aber nicht automatisch „korrigieren“.

 

FACEBOOK von Wolfgang Molitor (Stuttgarter Nachrichten) Das Programm bietet an: Eiterpickel für Leitartikel

Was dürfen Journalisten? Presserat entschied über Beschwerden zu Germanwings-Absturz (Leser fragen)

Geschrieben am 15. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

430 Leser von deutschen Zeitungen haben sich nach dem Absturz der Germanwings-Maschine an den Presserat gewandt und sich über die Berichterstattung beschwert. Eine Leserin der Thüringer Allgemeine hatte sich direkt an die Redaktion gewandt und kritisierte die „respektlose und pietätlose und vor allen Dingen lauthalse Berichterstattung über den Absturz der Unglücksmaschine“: Er sei „zutiefst menschenunwürdig und nur einem verachtungswürdigen Voyeurismus geschuldet“.

Ein anderer Leser wollte gleich den Staat einschalten, damit er Medien verbiete, „persönliche Daten in solchen Fällen zu veröffentlichen. Normalerweise müssten hier empfindliche Strafen ausgesprochen werden. Bis zum Berufsverbot. Allerdings, wie vereinbart sich das dann mit dem Grundgesetz?“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete der Chefredakteur:

Sehr geehrter Herr W.,

Sie fragen zu Recht: Wie vereinbaren sich Berufsverbote und harte Strafen für Journalisten mit dem Grundgesetz?

Gar nicht, so lautet die klare Antwort. Die Presse kontrolliert den Staat und nicht der Staat die Presse – so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. „Eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet: Keiner darf Journalisten zwingen, über eine Sache oder eine Person zu schreiben oder dies zu unterlassen. Die Presse ist frei.

Allerdings müssen auch Journalisten die Persönlichkeits-Rechte beachten und dürfen, falls sie dagegen verstoßen, bestraft werden; sie dürfen nicht beleidigen oder die Unwahrheit schreiben.

So läuft zurzeit ein umstrittenes Gerichtsverfahren in Mecklenburg: Ein Reporter muss 1000 Euro bezahlen, weil er einen Jäger „Rabauken“ genannt hat; der Jäger hatte ein totes Reh an seiner Anhänger-Kupplung befestigt und über die Landstraße gezogen. Der Nordkurier akzeptiert diese Strafe nicht und zieht in die nächste Instanz. Der Chefredakteur in Neubrandenburg spricht von einer Gefährdung der Pressefreiheit durch Staatsanwalt und Richterin:

„Dieses Land hat zwei Diktaturen hinter sich und leider auch eine entsprechend fürchterliche Justizgeschichte. Die beiden über die freie Presse herfallenden Juristen haben daraus nichts gelernt. Vielleicht wäre es ihnen genehm, wenn der Nordkurier seine Artikel künftig den Behörden vorab zur Begutachtung vorlegt – war doch früher auch schon so.“

Der Staatsanwalt hat Anzeige gegen den Chefredakteur gestellt.

Sehr geehrte Frau Z.,

der Presserat entscheidet, ob Journalisten gegen den Pressekodex, also die Moral der Medien, verstoßen haben. Er hat so über die Beschwerden gegen die Berichterstattung zum Flugzeug-Absturz entschieden:

1. Der Name des Piloten durfte genannt werden.

Nach der Pressekonferenz des französischen Staatsanwalts durften Journalisten davon ausgehen, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Der Sprachrekorder war ausgewertet und Ermittlungen der Luftfahrtbehörde lagen öffentlich vor. Von Vorverurteilung konnte keine Rede mehr sein.

Zwar war durch die Namensnennung auch die Identifizierung der Eltern möglich, aber das öffentliche Interesse wog stärker als das Verschweigen des Nachnamens bei dieser außergewöhnlich schweren Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist.

Eine besondere Zurückhaltung, die bei Selbstmorden geboten wäre, tritt mit dem Blick auf 149 Todesopfer zurück.

2. Bilder von den Opfern durften nicht veröffentlicht werden.

Opfer und ihre Angehörigen dürfen im Bild nur gezeigt werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt. Also durften Fotos der Angehörigen, aufgenommen an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona, nicht gedruckt werden.

Die TA hatte ein solches Foto gedruckt; wir haben dafür um Entschuldigung gebeten.

3. Die Partnerin des Co-Piloten durfte nicht erkennbar sein.

Eine Zeitung hatte zwar nicht den vollständigen Namen genannt, jedoch waren in dem Text so viele persönliche Details enthalten, dass die Partnerin des Co-Piloten identifizierbar war. Das verstößt gegen den Pressekodex und ist zu rügen, entschied der Presserat.

Auch die Berufe der Eltern des Co-Piloten zu erwähnen und ihr Wohnhaus nebst Umgebung zu zeigen, verletzt den Persönlichkeitsschutz.

Thüringer Allgemeine, 13. Juni 2015, Kolumne „Leser fragen“

Wie wirken Bilder in der Zeitung? Welche bleiben hängen? Welche regen an oder auf? (Leser fragen)

Geschrieben am 31. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 31. Mai 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.
  • <br /><br /><br />
        <p>Air Berlin übte in Erfurt. Dieses Foto in der TA vom 19. Mai entsetzte Leser: Ein Flugzeug zwischen den Türmen der Severi-Kirche auf dem Erfurter Domberg.</p><br /><br /><br />
„Air Berlin“ übte in Erfurt Start und Landung. Die Thüringer Allgemeine berichtete und druckte dieses Foto (TA, 19. Mai): Ein Flugzeug zwischen den Türmen der Severi-Kirche auf dem Erfurter Domberg.
Eine Leserin  aus Weimar fragt: „Muss man denn so ein Bild veröffentlichen? Jeder, dem ich diese Seite zeigte, war entsetzt: Der Fotograf hat sicher einen tollen Schnappschuss gemacht – ich gratuliere ihm -, aber diese Bilder kennt man noch zu genau vom 11. September 2001. Ich bitte, demnächst etwas mehr darüber nachzudenken.“


Der Chefredakteur  antwortete in der TA:

Sie haben Recht mit Ihrer Vermutung: Der Fotograf war stolz auf seinen Schnappschuss, die Redaktion freute sich über ein ungewöhnliches Bild – und keiner dachte an den 11. September und den Terror in New York.

Ich glaube nicht, dass dies eine Frage des Nachdenkens ist. Ein Redakteur hätte gereicht in unserer Konferenz, dem sein Blitzlicht-Gedächtnis das Foto gezeigt hätte, mit dem das Flugzeug im Anflug auf einen der Zwillingstürme. Diese Erinnerung wäre sicher der Grund gewesen, das Foto nicht zu drucken.

Wie verarbeiten wir Bilder in unserem Gedächtnis?

Eine Viertelsekunde bleibt ein Bild normalerweise auf der Netzhaut, nach einer halben Sekunde ist es verflogen. Wir speichern die meisten Bilder nicht, wir würden dabei untergehen – erst recht bei der Masse an Medien-Fotos, die auf uns eintrommeln.

Nur wenige Bilder bleiben ein Leben lang mit vielen Details in unserem Gedächtnis hängen, die Hirnforscher nennen sie „Blitzlicht-Erinnerungen“. Darunter sind persönliche Katastrophen und Augenblicke großen Glücks, aber auch kollektive Bilder wie Brandts Kniefall in Warschau, die Erschießung eines Vietkong durch den Polizeichef von Saigon, der DDR-Grenzsoldat beim Sprung über den Stacheldraht, die Jubelfeiern am Brandenburger Tor, als die Mauer fiel – und eben die Flugzeuge, die in die Zwillingstürme rasten.

Dabei können die Gefühle durchaus verschieden sein: Ein Araber, der positiv über Al Kaida denkt, könnte das Bild der Terror-Flugzeuge anders empfinden als eine Weimarerin.

Wir Redakteure sind in Gefahr, in der Masse der Bilder unterzugehen, vielleicht stumpfen wir auch ab. Trotzdem bitten wir alle, die sich entsetzten, um Entschuldigung. Wir wollten keinen verletzen!

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 30.  Mai 2015

Redaktionen verstoßen nach Airbus-Absturz gegen ihre Regeln: Trauernde ungepixelt auf Titelseite (Leser fragen)

Geschrieben am 9. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser aus Erfurt beklagt sich bei der Thüringer Allgemeine über das Foto auf der Titelseite, das die Zeitung am Tag nach dem Absturz der German-Wings-Flugzeugs veröffentlichte:

Als wenig rücksichtsvoll, ja pietätlos, empfinde ich die Veröffentlichung eines von Alejandro Garcia angebotenen Fotos. Es gehört sich nicht, das Foto trauernder Menschen nach einem solchen Unglück sowie nach dem Verlust eines Angehörigen in der Zeitung zu präsentieren. Sie bewegen sich damit auf der Ebene von Boulevardjournalismus. Das muss zukünftig unterbleiben.

Der Leser fragt:

War Ihre Zeitung überhaupt autorisiert, dieses Foto zu veröffentlichen? Wo bleibt die Selbstkontrolle der Journalisten? Wo bleibt der Schutz des persönlichen Bilds? Oder gilt das nicht, weil die abgebildeten Personen aus Spanien sind und sich gegen die Veröffentlichung in Thüringen kaum wehren können?


Der Chefredakteur antwortet:

Sehr geehrter Herr K.,

Sie haben Recht! Wir haben gegen unsere eigenen Grundsätze verstoßen, von denen einer lautet: Wir zeigen keine Familienangehörige oder Freunde im Bild, die nach einer Katastrophe trauern, einem Unglück, einem Mord oder Attentat.

Für diesen Regelverstoß bitten wir um Entschuldigung.

Ich möchte Ihre Fragen beantworten und erklären, wie es zu unserer Entscheidung kam – an einem Tag, der uns alle verwirrt hat.

Das Foto stammt von der seriösen spanischen Nachrichten-Agentur Efe, die in 110 Ländern mit 3000 Mitarbeitern vertreten ist. Wir müssen feststellen: Die moralischen Maßstäbe sind offenbar im vereinten Europa recht unterschiedlich. Außerhalb Deutschlands ist es in vielen Ländern üblich und weder ethisch noch rechtlich umstritten, dass Agenturen und seriöse Zeitungen Opfer von Unfällen oder Verbrechen sowie deren Angehörige abbilden. Das gilt auch für Spanien.

So schickte die Agentur eine Serie von Bildern von Angehörigen aus Barcelona – ohne jegliche Bedenken. Dazu kam: Einige Bilder aus dem Flughafen wurden mit verpixelten Gesichtern gesendet, andere gar nicht. So sind wir davon ausgegangen, dass die Trauernden ihre Zustimmung zum Druck gegeben haben.

Dies Verfahren ist nicht ungewöhnlich: So hat beispielsweise die Opern-Sängerin Maria Radner im Stern über Karen Cargill geschrieben, mit der sie zusammen auf der Bühne gestanden hat – und dabei wie selbstverständlich ein Archiv-Foto des Absturz-Opfers veröffentlicht.

Dies ist eine Erklärung und ein Blick in das Innenleben einer Redaktion an einem ungewöhnlichen Tag – aber kein Wegreden der Entschuldigung. Wir hätten trotz allem richtig entscheiden müssen.

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 11. April 2015

Lügenpresse (3): Des Lesers Lust an der Verschwörung

Geschrieben am 6. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser greift die „Lügenpresse“ auf, den Ruf der Pegida-Demonstranten: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit.“ Er nennt ein Beispiel:

„Ein Reporter befragt 100 Leute über das Freihandelsabkommen mit den USA. 80 Leute sind dagegen, 20 sind dafür. In der Presse werden die Meinungen der 20 Befürworter bekannt gegeben. Zwei Kommentare der Gegner. Es erweckt nun den Anschein, dass die Meistbefragten dem Abkommen zustimmen. Die Presse hat somit nicht gelogen. Sie hat nur nicht die Wahrheit berichtet.“

Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Vor gut zwei Jahrtausenden stritten sich in Griechenland die Philosophen darüber: Was ist die Wahrheit? Die einen, Sophisten genannt, schätzten die schöne Rede, die ironische Wendung, die List und die Tücke – um den eigenen Standpunkt zu stärken und Macht zu bekommen; die Wahrheit dürfe so lange gebogen werden, bis sich die eigenen, die guten Interessen durchgesetzt haben.

Sokrates war der Gegenspieler der Sophisten, ein Liebhaber der Wahrheit, der lehrte: Ein guter, ein moralischer Mensch verdreht nicht die Wörter, bis sie ihm passen; er verführt nicht die Menschen mit falschen, aber schön anzuhörenden Geschichten.

Es gab offenbar zu allen Zeiten eine Lust an Verschwörungs-Theorien, die meist gründen in der Vorstellung: Es gibt die Bösen, und es gibt die Guten, zu denen ich gehöre.

Die Wirklichkeit ist dagegen eher grau, mal ein wenig heller, mal ein wenig dunkler. Diese Wirklichkeit ist die Welt der seriösen Medien, sie macht Mühe, und sie fordert die Kunst der Unterscheidung.

Die Wahrheit ist stets die Suche nach der Wahrheit.

Die Geschichte von dem Reporter, der eine Umfrage manipuliert – und das wäre eine Lüge -, ist schön erzählt und wäre in mancher Runde von beifälligem Kopfnicken begleitet. Nur – woher hat der Erzähler das Beispiel?

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 28. März 2015

Absturz von 4U9525 und der Leser Fragen: Was ist Boulevard?

Geschrieben am 5. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:

Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.

Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:

Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:

„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“

In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.

Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.

Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.

In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.

Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.

Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.

Wie würden Sie entscheiden?

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THÜRINGER ALLGEMEINE
, 4. April 2015, Leser fragen

Seiten:12»

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