Die Einheit nach 26 Jahren: Die meisten Zeitungen im Osten ohne Vergangenheit

Geschrieben am 3. Oktober 2016 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 3. Oktober 2016 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.
Christiane Baumann schrieb das Buch über den DDR-Vorläufer des Nordkurier in Neubrandenburg.

Christiane Baumann schrieb das Buch über den DDR-Vorläufer des Nordkurier in Neubrandenburg.

Die meisten der fünfzehn ehemaligen DDR-Bezirkszeitungen haben sich nicht oder nicht  öffentlich mit ihrer Vergangenheit beschäftigt, stellt die Germanistin Christiane Baumann fest. Sie war im Revolutionsjahr 26 Jahre jung,  recherchierte über das Schweriner Theater in der DDR, über den SPD-Politiker Ibrahim Böhme, der als IM enttarnt wurde, und über die Geschichte der Zeitung Freie Erde in Neubrandenburg, die heute Nordkurier heißt.  Baumann über sich selbst:

Meine persönlichen Erfahrungen unterscheiden sich vermutlich nicht von denen anderer, die in den achtziger Jahren mit einem gewissen kritischen Blick lebten. Ich gehörte zu keiner Partei, auch nicht zu Oppositionsgruppen, kam zum Ende der DDR in die Nähe des Neuen Forums und dann als Quereinsteigerin in den Journalismus. Das Thema Ideologiekritik als solches hat mich aber seit dem Studium schon beschäftigt.

Ihre Recherchen zur Freien Erde – und vor allem die Veröffentlichung – sind ein Tabu-Bruch, provoziert von Lutz Schumacher, dem  Geschäftsführer und Chefredakteur des Nordkurier. Schon zuvor haben einige Zeitungen ihre DDR-Geschichte recherchieren lassen – aber die Ergebnisse im Giftschrank eingeschlossen: Zu groß war die Furcht über IM-Enttarnungen und die Reaktionen der Leser – und der Redakteure.

Christiane Baumann berichtete in einem Interview mit der Thüringer Allgemeine, die im vergangenen Jahr ebenfalls ihre DDR-Geschichte recherchieren ließ:

Die Berliner Zeitung hat zur Stasibelastung ihrer Mitarbeiter eine Studie erstellt, deren Ergebnisse aber nur teilweise veröffentlicht. Die Ostsee-Zeitung in Rostock riss in einer Serie zum 50. Jubiläum DDR-Themen zwar an, sparte aber Heikles wie die Stasi-Anbindung ihrer Redakteure aus.

Der Neubrandenburger Chefredakteur veröffentlichte die Ergebnisse der Recherche in einer Serie im Nordkurier, die abschließend in einer Broschüre zusammengefasst wurde; ähnlich verfuhr die Thüringer Allgemeine.

Die Lausitzer Rundschau in Cottbus haben die Professoren Michael Heghmanns  und Wolff Heintschel von Heinegg im Auftrag des Verlags untersucht; ihre Recherche veröffentlichten sie nur in einem Band der Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; sie nennen sämtliche Namen der IM. Das Buch ist vergriffen, aber kann als Datei komplett heruntergeladen werden:

Der Staatssicherheitsdienst in der Lausitzer Rundschau. Absicherung der Berichterstattung der SED-Bezirkszeitung Lausitzer Rundschau durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

Die Autoren kommen zu dem Schluss:

Der  Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Berichterstattung der Lausitzer Rundschau war äußerst gering. Soweit von einer inhaltlichen Kontrolle die Rede sein kann, ging diese nicht über die allseits bekannten Formen der direkten oder indirekten Einflussnahme hinaus. Dies bedeutet, dass zum einen die Vorgaben der SED selbstverständlich Beachtung fanden und zum anderen die Mitarbeiter der Redaktionen hinreichend ’sensibilisiert‘ waren, so dass sie bereits im Wege der Selbstkontrolle alles vermieden, was zu einem Widerspruch zu den genannten Vorgaben hätte führen können.

Diese Einschätzung teilt auch Christiane Baumann nach ihren Recherchen in Neubrandenburg und Erfurt:

Es wäre völlig irrwitzig, wenn man davon ausginge, dass die Stasi das Sagen in der Zeitung hatte. Zeitungen wurden straff kontrolliert durch die Partei selbst, da war sowieso wenig Spielraum. Die Stasi schaffte darüber hinaus eine Art Parallelkontrolle. Es gab die Kontrolle nach Innen, aber es gab auch den Redakteur, der bei Künstlern, Sportlern oder in Betrieben Informationen einholte und weitergab.

Die komplette Kress-Kolumne JOURNALISMUS! zum Thema: Intellektuelle Spießer, Bevormundung und Bespitzelung

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Info: Literatur zum Thema

(bis auf die Bücher von Baumann und Maron  nur antiquarisch erhältlich):

  • „Die Zeitung ‚Freie Erde‘. Kader, Themen, Hintergründe – Beschreibung eines SED-Bezirksorgans“, wird herausgegeben von der Landesbeauftragen für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Schwerin 2013, 179 Seiten, zu beziehen über die Landesbeauftragte für 6 Euro)
  • Über „Das Volk“ und seine Stasi-Instrumentierung wird demnächst auch ein Buch von Christiane Baumann herausgegeben, Klarnamen von IM inklusive.
  • „Willfährige Propagandisten. MfS und SED-Bezirksparteizeitungen“ von Ulrich Kluge, Steffen Birkefeld und Silvia Müller thematisiert die Berliner Zeitung, Sächsische Zeitung und den Neuen Tag
  • Monika Marons Roman „Flugasche“ spielt in Bitterfeld, dem großen Chemie-Standort der DDR, er gründet in Marons Erfahrungen als Redakteurin für die Ost-Berliner Wochenpost im Chemierevier der DDR: Die Redakteurin soll ein Porträt eines „Helden der Arbeit“ schreiben, will die Wahrheit schreiben, aber scheitert damit in der Redaktion und der Partei. Das Buch erschien 1981 nur im Westen.
  • Brigitte Klumps „Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede des Stasi“. Die Ex-Studentin in der Journalistenschule der DDR schrieb 1978 den Bericht, der nur im Westen erschien.
  • Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. DIE SED-Informationsdiktatur (1997). Überblick mit vielen Beispielen
  • Stefan Panne: Die Weiterleiter. Funktion und Selbstverständnis ostdeutscher Journalisten (1992). Befragung von 22 ostdeutschen Journalisten und Auswertung von 110 DDR-Romanen, in denen Journalisten eine Rolle spielen
  • Ilona Wuschig: Anspruch ohne Wirklichkeit. 15 Jahre Medien in Ostdeutschland (2005). Die Dissertation geht der – immer noch aktuellen – Frage nach, „warum ostdeutsche Journalisten seltener als ihre westdeutschen Kollegen das Gefühl haben, dass dieser ‚Staat auch ihr Staat‘ sei“ und „warum große Teile der ostdeutschen Bevölkerung kein Vertrauen in die Politik entwickelt haben und was dies für Medien bedeutet“.

 

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