Die Unlogik der Sprache: Ist die Untiefe seicht oder tief? (Friedhof der Wörter)
„In einer Untiefe kann man nicht ertrinken“, tadelt ein Leser aus Weimar, nachdem er in einer der „Friedhof“-Kolumnen vom Ertrinken in den „Untiefen von Begriffen” gelesen hatte. „Die Vorsilbe ,un‘ verneint“, schreibt der Leser.
Das wäre schön und logisch, aber die zwei Buchstaben „un“ sind das Unsinnigste, was es in unserer Sprache gibt. Kaum eine andere Silbe hat mehr Bedeutungen:
• Sie bedeutet eine Verneinung wie in „unmöglich“, also: nicht möglich; oder in „unfreundlich“, also: nicht freundlich.
• Sie bedeutet eine Bejahung im Sinne einer Verstärkung wie in „Unmenge“, also: eine besonders große Menge.
• Sie bedeutet noch etwas anderes, etwas Unbestimmtes wie in „Unrat“, das den Rat weder verneint noch verstärkt.
Die „Untiefe“ ist die Krönung der Unlogik:
• Sie bedeutet – als Verneinung – sowohl „eine seichte Stelle“, etwa eine Sandbank;
• wie auch – als Verstärkung – eine „besonders tiefe Stelle“, einen Abgrund.
Der Duden lässt beide Bedeutungen zu, die Umgangssprache ebenfalls: Ein Kapitän mag nur die eine Untiefe, die besonders tiefe; ein Kind, das nicht schwimmen kann, mag nur die andere Untiefe, das seichte Wasser, in dem es stehen kann.
Der Dichter Hermann Conradi verwandelte das Hauptwort „Untiefe“ sogar in ein Adjektiv und schrieb diesen schönen, offenbar nicht mehrdeutig gemeinten Satz: „Bekanntlich bedanken sich ehrsame Bürgermädchen für allzu tiefes Eindringen in ihre, meistens untiefenhafte Persönlichkeit.“
Nichts für ungut, würde der Volksmund zu diesen Untiefen der Verneinung sagen. Der Liebhaber der Sprache resigniert eher und stöhnt: Wer beweisen will, wie unlogisch die deutsche Sprache sein kann, der stürze sich in die Untiefe.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 2. März 2014
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