Das Wort des Jahres gendert nicht: Gibt es die „Flüchtlingin“? (Friedhof der Wörter)
„Flüchtling“ soll das Wort des Jahres sein. Es ist das Thema des Jahres und wird das Thema des nächsten sein. Aber was ist ungewöhnlich an dem Wort, das ihm eine Jury zu Ruhm und Ehre verhilft?
Maria und Josef waren Flüchtlinge, als sie mit ihrem Baby nach Ägypten flohen: So alt ist die Geschichte der Flüchtlinge – und noch viel älter. So lange gibt es das Wort oder ähnliche in anderen Sprachen. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg nennt „Flüchtling“ ein altes Wort und meint: Es ist so alt, dass keiner sein wirkliches Alter kennt.
Die Sprach-Experten vom „Wort des Jahres“ hängen dem „Flüchtling“ ein dunkles Gewand um: „Es klingt für sprachsensible Ohre tendenziell abschätzig“ – wegen der Endung „ling“, auf die auch Wörter wie Eindringling enden, Emporkömmling oder, was Journalisten besonders bedrückt, Schreiberling.
Auch wer nicht besonders sprachsensibel ist, kennt nette „ling“-Wörter. Sollen wir, wegen seiner ling-Tendenz, den Frühling abschaffen? Oder den Liebling, den Säugling und Zwilling, den Pfifferling und Saibling, den Häuptling und Schmetterling?
Aber das Abschätzige, das Experten vermuten, liegt an einer Eigenheit des Flüchtlings: Das Wort ist männlich und sonst nichts. Die „Flüchtlingin“ ist unmöglich in der deutschen Sprache. Das hat Gründe, komplizierte, die Wissenschaftler erklären können, aber sie alle kommen zu dem Schluss: Es kann keine „Flüchtlingin“ geben.
Das werden selbst die Grünen einsehen müssen und sonstige Gender-Aktivisten; aber sie greifen schon zu einem neuen Wort: Die oder der Geflüchtete. Aber bedeutet das neue Wort dasselbe wie der „Flüchtling“?
Nein, sagt der Sprachwissenschaftler Eisenberg:
„Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.“
Übrigens: Das Wörterbuch der Brüder Grimm findet einen Beleg für die „Flüchtlingin“ – ein „J.P.“ schrieb vom „vom Busen einer schönen Flüchtlingin“. Das passt.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Dezember 2015
Quelle für Eisenberg: FAZ, 16. Dezember 2015, Aufmacher Feuilleton „Hier endet das Gendern. Flüchtlinge haben ein Geschlecht, aber das Wort braucht keines“
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