Ätzendes Weihnachten (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 25. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Johann Sebastian Bach nutzt in seinen Kantaten viele Wörter, die längst auf dem Friedhof ruhen. Wer spricht noch so wie Bach in seiner Kantate zum ersten Weihnachtstag: „Christen, ätzet diesen Tag“?

„Ätz, stöhn, würg!“ entdecken wir heute in der Jugendsprache, diese Ausrufe der Einfalt bevölkern Comics und durchdringen mit ihrer markanten Kürze jeden Disko-Lärm. „Ätzend“ findet ein Achtjähriger sowohl die Hausaufgaben wie den Blockflöten-Unterricht. „Ätzend“, man ahnt es, steht sogar im Duden.

Was ätzen die Bachschen Christen? Bach nutzt den chemischen Fachbegriff: Man ätzt mit Säure eine Form in ein besonders starkes Material – so dass es für die Ewigkeit hält.

„Christen, ätztet diesen Tag in Metall und Marmorstein“, lässt Bach den Chor weihnachtlich singen. Jetzt wissen wir auch, woher Drafi Deutscher den Einfall hatte zu seinem Schlager „Marmorstein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“

Unsere Sprache spreizt sich bisweilen von einem Extrem ins andere: Das ätzende Weihnachten des Johann Sebastian Bach ist ein überaus freudiges, das ätzende Weihnachten eines Jünglings unserer Tage meint für ihn einfach nur Schreckliches.

So wünscht der Totengräber der Wörter ein ätzendes Weihnachten und singt dabei mit Johann Sebastian Bach – eine ätzend schöne Weise.

Thüringer Allgemeine, 24. Dezember 2012

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