Was macht Johann Sebastian Bach mit unserem Herzen? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 14. April 2014 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 14. April 2014 von Paul-Josef Raue in D 11 Verständliche Wörter, Friedhof der Wörter.

„Du hast das Herz genommen“, sagt ein finster blickender Mann in einem Horrorfilm – also in einem der Filme,  vor denen TV-Sender warnen müssen „Für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet“ (was dazu führt, dass die meisten Zuschauer unter 16 sind).

„Du hast das Herz genommen“, sagt  der Arzt zu seinem Kollegen, wenn die Organ-Entnahme gelungen ist, das Herz verpackt und zu einem Patienten geflogen wird, der irgendwo in Deutschland auf die Verlängerung seines Lebens wartet.

„Du hast uns das Herz genommen“, singt der Chor in der Kantate von Johann Sebastian Bach, die er für den Sonntag vor Ostern, den Palmsonntag, geschrieben hatte – seine erste überhaupt als Konzertmeister am Weimarer Hof.

Vom Nehmen des Herzens ist in jedem der drei Beispiele die Rede. Aber das „Herz“ wandert in seiner Bedeutung durch die Jahrhunderte und ändert seine Farbe:

>  Düster ist es, wenn ein Diener  schwarzer Messen das Herz herausschneidet;
> rot ist es, wenn es als Lebens-Spender in einen anderen Menschen verpflanzt wird – aber in einem anderen Rot wie in romantischen Herz- und Schmerz-Schlagern wie „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“;
> kirchlich violett wird es bei Johann Sebastian Bach, für den das Herz ein mystischer Ort ist.

Bachs „Herz“ verstehen wir nicht mehr: Wir freuen uns an der Musik, klatschen begeistert Beifall, wenn wir die Kantate im Konzertsaal hören, aber der Text bleibt uns fremd. Was will uns der Weimarer Dichter Salomon Franck sagen, der für Bach die Vorlage geliefert hat?

Erst hat Gott, der Himmelskönig, „uns das Herz genommen“, wenige Minuten später legen wir es dem Heiland nieder; am Ende der Kantate sind Folter und Hinrichtung, also die Passion, „meines Herzens Weide“.

Das „Herz“, wie es Bach und seine Zeit verstand, hat nur noch die Schreibweise mit unserem Herzen gemeinsam: Was er sagen will, verstehen wir nicht mehr; auch des Pfarrers Mühe in der Predigt ist vergeblich.

Wörter haben ihre Geschichte, sie verwandeln sich, und sie verführen uns, wenn wir nicht achtsam sind, zum Missverständnis – bei aller Herzensfreud.

* Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 14. April 2014

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