Das Journalisten-Buch zu 25 Jahren Einheit: „Die unvollendete Revolution“
„Hören Sie auf, uns zu belehren!“ ist das Editorial meines Buchs „Die unvollendete Revolution“ überschrieben. Die Überschrift nimmt einen Satz auf, den ich in unzähligen Leserbriefen lesen und vielen Gesprächen im Osten hören musste – und der den Westdeutschen traf: „Hören Sie auf, uns zu belehren!“
Schon sind wir mittendrin im Missverstehen: Was der eine als „Belehrung“ empfindet, ist für den anderen einfach eine Erklärung oder eine Tatsache, die man belegen kann – eben nichts, was Missfallen oder gar Aufregung lohnte. 2004 sagte dennoch Hans-Joachim Maaz, der Psychotherapeut aus Halle:
„Auf keinen Fall kann der Westdeutsche der Therapeut sein.“ Ein Therapeut müsse bereit sein, zuzuhören, zu verstehen und sich einzufühlen und nicht von vornherein belehren.
„Die unvollendete Revolution“ geht der Frage auf den Grund:
o Warum fühlen sich so viele im Land der Revolution als Verlierer?
o Warum geben sie den Westdeutschen – aus ihrer Perspektive: den Gewinnern der Einheit – die Schuld an ihrer Depression?
o Und warum ist die Mauer der Vorurteile und Abneigung zwischen Ost und West – nach einem Vierteljahrhundert Einheit – so hoch wie nie zuvor?
o Schließlich: Wie geht es weiter?
Reinhard Höppner sprach von der Mauer aus Beton, die durch eine aus Vorurteilen ersetzt worden ist. Höppner (SPD) regierte Sachsen-Anhalt acht Jahre lang mit Duldung der PDS, den Nachfolgern der SED. „Gegen eine Wand aus Vorurteilen hilft kein Passierscheinabkommen. Da brauchen wir das Erzählen der vielfältigen Erfahrungen und den Streit über unterschiedliche Meinungen“, urteilte er über den heftigsten Ost-West-Streit, die Magdeburger Töpfchen-Debatte von 1999, ausgelöst durch den Fremdenhass der DDR-Nachkommen. Von der Töpfchen-Debatte erzählt das Buch ausführlich.
Höppner, der 2014 verstorbene, hat Recht: Wir müssen erzählen von unseren Erfahrungen, den so unterschiedlichen. Nur wer sich erinnert und erzählt, hat die Chance, aus Vorurteilen Urteile zu machen. Wenn Höppners Zitat nicht zu lang für einen Buchtitel wäre, stünde es auf dem Umschlag: „Keiner lässt sich gerne zum Trottel machen, schon gar nicht von einem Wessi.“ In diesen dreizehn Wörtern ist die Stimmung der meisten Ostdeutschen versammelt, die mitten im Leben standen, als die Mauer fiel.
Die meisten Westdeutschen schütteln den Kopf, wenn sie den Satz hören – weil sie einen ostdeutschen Jammerton heraushören oder sie der Osten nicht mehr interessiert.
Mein Buch „Die unvollendete Revolution“ erzählt die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen von den Westpaketen bis zur Dritten Generation Ost, von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart 25 Jahre nach der Einheit. Wir haben uns für einen Titel entschieden, der schon einmal auf einem Buchumschlag stand – zum 50. Jahrestag der russischen Revolution im Herbst 1967: „Die unvollendete Revolution“. Hier ein Auszug aus dem ersten Teil des Editorials:
Isaac Deutscher, ein unorthodoxer Marxist, hat das Buch „Die unvollendete Revolution“ geschrieben, entstanden aus sechs Vorträgen, die er kurz vor seinem Tod in Cambridge gehalten hat. Diese Sätze könnten genau so gut für die deutsche Revolution gelten:
„Hat die Revolution die Hoffnungen erfüllt, die sie erweckt hat. Und worin liegt ihre Bedeutung für unsere Epoche und Generation? Ich wünschte, ich könnte die erste dieser Fragen mit einem einfachen und nachdrücklichen Ja beantworten und meine Bemerkungen mit einer ordentlichen triumphalen Geste beenden. Leider kann ich das nicht. Doch würde eine verzagte und pessimistische Schlussfolgerung ebenso wenig gerechtfertigt sein.
Es geht noch immer in mehr als einem Sinn um eine unvollendete Revolution. Ihre Vergangenheit ist alles andere als einfach. Sie ist aus dem Misserfolg und dem Erfolg, aus enttäuschter Hoffnung und erfüllter Hoffnung zusammengesetzt – und wer kann diese Hoffnungen untereinander vergleichen? Wo sind die Waagschalen?“
Die Folgen der russischen Revolution – Stalinismus und zermürbender Alltag für die Bürger – sind kaum mit den Folgen der deutschen zu vergleichen. Aber die Fragen, die sich nach 25 oder 50 Jahren stellen, sind offenbar ähnlich:
Revolutionen sind nicht vollendet, wenn die Menschen siegestrunken die Freiheit feiern. Die meisten Revolutionen beispielsweise rund um die Jahrtausendwende zerbrachen schnell. In Arabien und einigen osteuropäischen Ländern wurden die Schatten der Vergangenheit nach kurzer Dauer wieder lebendig. Dem sogenannten arabischen Frühling folgte schnell ein Winter. Nur – es gibt keine Jahreszeiten in der Geschichte; menschliche Gesellschaften haben einen eigenen Rhythmus.
Die deutsche Revolution ist gelungen, aber – wie alle Revolutionen – nicht vollendet, weil die Einheit noch nicht vollendet ist. Was ist der Grund? Auch für die Antwort auf diese Frage lohnt ein Blick in Isaac Deutschers Rückblick auf die russische Revolution. Er spricht von einem Fiasko, das den Menschen Unbehagen bereitet: All das, was sie glauben sollten und oft auch glaubten, stellt sich als Fälschungen und Mythen heraus. Nur – was ist die Wahrheit? Wer hat gefälscht?
Deutscher spricht von einer „Verschwörung des Schweigens“. Solche Verschwörungen werden auch in einigen Kapiteln dieses Buchs zur Sprache kommen, verbunden mit dem Seufzer: Verschwörungen ist mit Vernunft nicht beizukommen.
Ich beginne mit einem Gespräch im Thüringer Winter, knapp 25 Jahre nach dem Mauerfall. Wir stehen vor einem kleinen Lokal in einem einsamen Tal und trinken Glühwein. Ein älterer Mann mit weißem Hemd und Wanderschuhen spricht mich freundlich auf meinen Leitartikel an, den ich zum dunkelsten Kapitel der Einheitsgeschichte geschrieben hatte: Die Mordserie an Ausländern, verübt von jungen Neonazis, der NSU, aus Thüringen. „Gestatten Sie?“, fragt er, „eines hat mir nicht gefallen in Ihrem Kommentar: Sie schieben uns die Schuld an den Neonazis und der NSU zu.“
Mit „uns“ meint er die Menschen im Osten. Mit „nicht gefallen“ meint er die kollektive Schuldzuweisung, die vermeintliche. „Nein“, antworte ich, „ich habe nur Fragen gestellt: Kann es sein, dass die Revolution von 1989 junge Leute aus der Bahn geworfen hat?“
„Das glaube ich nicht“, sagt der Mann, „wir hatten im Osten doch niemals Nazis. Die waren alle in den Westen gegangen und kamen dort bis in die höchsten Stellen. Nein, mit den Nazis hatten wir nichts zu tun.“ Wir sprechen über die alte Bundesrepublik, über das Schweigen der Eltern, wenn die Kinder im Westen nach der Schuld fragten, wir sprechen über den Auschwitz-Prozess und die Achtundsechziger, die den Stab über ihre Eltern brachen.
Und wir sprechen über den NSU-Prozess und die Mutter von Uwe Böhnhardt, einem der Neonazis im terroristischen Untergrund: Als Zeugin rang sie vor den Richtern mit der Schuld, auch ihrer eigenen – aber nennt auch die Wende, die Schulreform, die ignoranten Lehrer.
„Die Wende war eine schwere Zeit“, sagt der ältere Mann, „wir waren den Jungen keine Hilfe, sie mussten – wie wir Alten auch – schon selber zusehen, wie sie zurecht kamen. Da ist wohl mancher abgerutscht. Woher sollten wir wissen, wie das geht in der Freiheit?“
Wir sollten darüber sprechen, antworte ich, wir müssen zuerst die Fragen stellen und sollten dann die Antworten suchen – nicht nur als Eltern von Terroristen, die vor Gericht Zeugnis ablegen müssen. „Ja“, sagt der Mann, „das geht ja in einer Demokratie. Aber das haben wir nicht gelernt, und das müssen wir noch lernen.“ Die Kälte kriecht unter die Daunenjacke, der Becher Glühwein ist leer. Wir verabschieden uns freundlich. „Aber Sie haben mich beleidigt mit Ihrem Leitartikel“, ruft er mir beim Weggehen zu. Ich nicke nur. Was kann man gegen Gefühle sagen?
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