Das Ulrich-Wickert-Interview: „Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man machen kann, was man für richtig hält“
Herr Wickert, die meisten kennen Sie als den Moderator der Tagesthemen, als einen seriösen, freundlichen Mann. Ihr neues Buch nennen Sie „Neugier und Übermut“. Die Neugier nimmt man Ihnen leicht ab – aber den Übermut?
WICKERT Da mögen Kleinigkeiten gewesen sein – wie etwa dem Bundestagspräsidenten Hilde Knef auszuspannen, oder den übel gelaunten Bundeskanzler Helmut Schmidt zu fragen, ob er nur schnupfe oder auch spritze, oder gar einen Film über den marxistischen Philosophen Herbert Marcuse zu beginnen, obwohl die ARD dafür gar kein Geld bereit gestellt hat – und es eigentlich auch keiner wirklich sich traute.
Aber zum Ende meines Buches sage ich ja: Übermut ist gar nicht so wichtig gewesen. Es reichte schon, keine Angst zu haben. Und das ist übrigens auch wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse.
Mut kann man nicht lernen. Aber, so schreiben Sie, man kann lernen, was Mut bedeutet. Und Sie belegen es mit einer Jugend-Episode.
WICKERT Ja, in der Universität Bonn wollten mich Professoren vom Studium ausschließen, weil ich öffentlich gemacht hatte, wie die Diskussion über die Nazi-Vergangenheit des neuen Rektors unterbunden wurde. Der Dekan der philosophischen Fakultät Wolfgang Schmidt hat mich gerettet, in dem er mit seinem Rücktritt drohte, falls ich rausgeworfen würde. Da habe ich gelernt, dass man mit seiner Meinung und Haltung in der absoluten Minderheit sein kann – und trotzdem den Mut haben soll, bei seiner Haltung zu bleiben.
Wer in der DDR gelebt hat, dürfte erstaunt sein: Ein Bonner Student konnte von der Universität fliegen, weil er einen Nazi, der wieder Professor ist, einen Nazi nennt. Wie braun war die Bundesrepublik noch in ihrer Jugend?
WICKERT Bis in die achtziger Jahre hinein waren noch ehemalige Nazis in öffentlichen Ämtern. Manche hatten ihre Namen und Biographien geändert! Ich schildere ja in einem der ersten Kapitel meines Buches den Fall von Hans Fritzsche, einem ehemaligen Widerständler des 20. Juli, der nach dem Krieg in den Staatsdienst ging.
Beim Aufbau der Bundeswehr wurde er abgelehnt, weil er im Widerstand gewesen war. Und er wurde vom Verfassungsschutz als angeblicher „Bolschewik“ observiert. Frauen wurden auf ihn angesetzt, die bei ihm zu Hause nachschauen sollten, welche Bücher er las.
Da stand auch neben anerkannten Historikern wie Treitschke und Mommsen auch Karl Marx, weil er als Historiker solche Bücher las. Wer ließ ihn observieren: Die alten SS-Leute, die im Verfassungsschutz saßen! Andere Widerständler wie Erich Kordt wurden nicht mehr in den Auswärtigen Dienst aufgenommen, da sie – so Adenauer – „schon einmal ihren Chef verraten haben“.
Sie schreiben: Im Kalten Krieg war es schlimmer, Kommunist zu sein als ein Ex-Nazi. Sind Sie darüber in Ihrer Jugend zum heimlich Kommunisten geworden?
WICKERT Da muss ich doch lachen. Nein, ich bin deshalb kein heimlicher Kommunist geworden. Ich war dafür zu faul: ich habe das Kommunistische Manifest gelesen und fand darin vieles richtig. Aber vom „Kapital“ habe ich nur eine Seite gelesen. Das war mir zu anstrengend!
Ich bin humanistisch erzogen worden und war deshalb Mitglied der Humanistischen Studentenunion. Später, als Korrespondent in New York, habe ich einmal einen Film über die Hutterer gedreht. Diese religiöse Gemeinschaft hat mich tief beeindruckt. Denn dort wird ein „christlicher Kommunismus“ gelebt, der funktioniert!
Sie litten als junger Mensch darunter, dass in der Bundesrepublik vieles fehlte, was mit Freiheit zu tun hat. Wie fällt Ihr Urteil heute, Jahrzehnte später, über das vereinte Deutschland aus: Fehlt immer noch zu viel, was mit Freiheit zu tun hat?
WICKERT Freiheit hat ja viel damit zu tun, dass man im Rahmen der ethischen Vorgaben machen kann, was man für richtig hält. Aber in Deutschland heißt es häufig: Das haben wir noch nie gemacht! Das geht nicht! Das ist verboten – eine besonders beliebte Phrase! Dafür fehlen die Richtlinien! usw.
Allein die Gründung von Microsoft in einer Garage wäre an Bestimmungen gescheitert, weil man in einem Raum ohne Fenster nicht arbeiten darf!
Sie waren in einer der entscheidenden Stunden der Einheit dabei: Die beiden Außenminister Dumas aus Frankreich und Genscher aus Deutschland einigen sich, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren gegen Kohls erklärten Willen. Wie gelang es Ihnen, bei einem solch geheimen Treffen zuhören zu dürfen?
WICKERT Eine der wichtigen Eigenschaften eines Journalisten sollte sein, Vertrauen zu schaffen. Und der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher vertraute mir, als ich Korrespondent in Paris war, ebenso wie sein französischer Kollege, der Außenminister Roland Dumas.
Als ich nun erfahren hatte, dass Genscher sich plötzlich und ungeplant in Paris mit Dumas traf und die beiden dabei drehte, sagte mir Genscher, nachdem der Kameramann den Raum wieder verlassen hatte: „Setzen Sie sich doch zu uns.“
Es war kein Dolmetscher dabei, da Dumas deutsch spricht. So konnte ich miterleben, wie Hans-Dietrich Genscher mit harten Worten die Ablehnung von Bundeskanzler Helmut Kohl kritisierte, die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens öffentlich anzuerkennen, und mit Dumas beriet, wie der französische Präsident Francois Mitterrand Druck auf Kohl ausüben könnte.
Manche im Osten fühlen sich als besiegt, obwohl sie selber die friedliche Revolution erstritten haben. Die Frage geht an den Journalisten, der nach dem Krieg intensiv über „besiegt und befreit“ nachgedacht hat: Wer hat denn nun im Osten gesiegt?
WICKERT Im Osten hat die Bevölkerung gesiegt! Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hat das Volk sich erhoben und eine Regierung davongejagt. Ja, mehr als eine Regierung, ein ganzes politisches System. Also gibt es keine Frage: „Wir sind das Volk!“ hat gesiegt.
Dann kam allerdings: „Wir sind ein Volk!“ Und da hat die Bundesregierung in Bonn ihre ganze Macht ausgespielt, um Sieger zu sein. Es wäre politische für unsere Zukunft klug gewesen, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, wie es ja im Grundgesetz vorgesehen war. Aber die Regierung Kohl, die fürchtete im Dezember 1990 die Bundestagswahl zu verlieren, nutzte ihre Überlegenheit aus.
Sie wollten eigentlich kein Journalist werden. Hat es sich dennoch gelohnt? Und würden Sie jungen Leute heute raten, Journalist zu werden?
WICKERT Ja, ich war nie auf den Gedanken gekommen Journalist zu werden – und wer das Kapitel „Neugier als Lebensmotto“ in meinem neuen Buch liest, der wird sich biegen vor Lachen, wie dämlich ich mich in dem ersten Gespräch mit einem Fernsehdirektor angestellt habe. Aber ich wurde Journalist, weil dies wohl – ohne dass ich es bewusst als Lebensziel sah – meiner tiefen Neigung entsprach.
Und wenn heute ein junger Mensch diese Neigung in sich spürt, wenn er Neugier als Lebensmotto anerkennt, dann soll er es versuchen.
Sie gehören,nach eigenem Bekunden, einer Generation an, die keine Angst hatte. Ist die neue Generation eine ängstliche Generation?
WICKERT Mit „Generation ohne Angst“ meine ich: Wir mussten uns keine Sorge um einen Beruf zu machen; der würde schon irgendwie kommen. Wir empfanden Vorgesetzte als Personen, die man erst einmal kritisch behandeln sollte. Vor ihnen hatten wir auch keine Angst. Die Zukunft war für uns wie ein Blick in den blauen, sonnigen Himmel.
Die heutige Generation erlebt schon von jung an die Sorgen des Lebens: Sie lebt in der Schule unter Erfolgsdruck, sie fragt nach der Ausbildung: Bekomme ich einen Beruf, in dem ich angemessen verdiene? Kann ich mir eine Wohnung leisten? Muss ich mir Gedanken über meine Zukunft bis hin zur Rente machen?
Doch, wie ich schon eingangs sagte: Es reicht, keine Angst zu haben. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens.
Thüringer Allgemeine 17. November 2012
BUCH Ulrich Wickert: Neugier und Übermut (Hoffmann und Campe, 22.99)
(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten)
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