Die Deutsche Meisterschaft des längsten Satzes: 208 Wörter – Wer findet mehr?
Wir sind auf der Suche nach dem längsten Satz in diesem Jahr, der in einer Zeitung gedruckt wurde. Zur Zeit führt der Feuilletonist Gerhard Stadelmaier, der in seinem Text über die Trauerfeier von Walter Jens 208 Wörter in einem Satz unterbrachte (nach der Word-Wörterzählung):
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).
Wetten dass der Autor stolz ist auf diesen Satz? Dass er stolz ist, dass ihn nur wenige verstehen? Dass er stolz ist, dass er klüger als alle, die nur kurze Sätze schreiben?
Trotzdem taugt der Satz für jeden Volontärskurs: Wie zertrümmere ich einen Schachtelsatz?
In demselben Text findet sich auch dieser Satz – ohne Semikolon und Doppelpunkt -, der es auf 54 Wörter bringt:
Der Rhetorikprofessor, Schriftsteller, Polemiker, republikanische Redner, Sich-überall-Einmischer, Pazifist, Praeceptor, Germaniae, Akademiepräsident, Homo politicus, Essayist, Linker und Großaufklärungsgrundbesitzer scheint auf dem Zauberberg am Neckar, den er – eine Mischung aus Nathan der Weise, Vater Courage und wenigstens Worte, wenn schon nicht Wirklichkeiten verändernder Prospero – über Jahrzehnte beherrschte, doch irgendwie eine Figur respektvoll anerkannter Vergangenheit zu sein.
Wer hat das Verb im Hauptsatz entdeckt? Es ist „scheint“ – mittendrin, schlapp und unscheinbar muss es sich gegen starke Hauptwörter durchsetzen wie Polemiker, Linker und das 27-Buchstaben-Wort Großaufklärungsgrundbesitzer. Da haben wir den Anwärter auf die Meisterschaft des längsten Wortes auch schon gefunden.
Beide Sätze erschienen in „Das letzte Wort“, FAZ 18. Juni 2013.
Wer entdeckt noch längere Sätze?
21 Kommentare
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Eine nette Seite, ABER: Bei dem zweiten zitierten Satz mit 54 Wörtern muss es heißen [Der Rhetorikprofessor ….. scheint]; viele Grüße J.P.
Danke! Ist korrigiert.
Respekt – aber zu dieser Ehre kommt Stadelmeier nur mit dem Trick des Doppelpunkts in Zeile 11. Es sind also faktisch de facto zwei Sätze, die sicherlich noch getoppt werden können…
Wann endet ein Satz? Nach einem Punkt, Frage- oder Ausrufezeichen. Wer einen Doppelpunkt nutzt, will eben den Satz nicht beenden, sondern fortführen. Ähnliche Funktionen haben das Semikolon oder der Gedankenstrich
Also das obige Beispiel besteht zweifellos aus zwei Sätzen.
„Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden“
Der Doppelpunkt ist hier problemlos gegen einen Punkt austauschbar. Ob der Auto den Satz beenden will oder nicht. Er hat es bereits getan.
Nehmen wir an, es sind zwei Sätze: Was ist das Subjekt des ersten Satzes? Wie lautet der Hauptsatz? Kann es sein,dass ein Satz mit weit über hundert Wörtern nur aus Nebensätzen besteht?
[…] »Deutsche Meisterschaft des längsten Satzes«? Ja, es gibt sie, ausgerufen auf der Homepage des Journalismus-Handbuchs. Natürlich gibt es auch bereits einen Anwärter für diesen Meistertitel: der Feuilletonist […]
Herr Pahlke, herzlichen Dank für den Hinweis auf Ihren Blog „sprachrand.de“. Auf Ihr Lob für die „Meisterschaft des längsten Satzes“ werde ich zurückkommen.
…und grammatisch korrekt ist der zweite Satz auch nicht („Der […] Linker“)
😉
Das ist korrekt: Der Fehler steht im Originaltext; allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich den Satz korrekt abgeschrieben hatte.
Doch Nachsicht mit dem Autor: Wer solche Bandwurmsätze schreibt, verliert schnell die Übersicht.
„Wetten dass der Autor stolz ist auf diesen Satz? Dass er stolz ist, dass ihn nur wenige verstehen? Dass er stolz ist, dass er klüger als alle, die nur kurze Sätze schreiben?“
Der (erste) Satz ist vielleicht nicht elegant, aber schwer zu verstehen ist er nicht. Schon deshalb, weil die Semikola den ersten Abschnitt parataktisch in drei Teile aufspalten und der Doppelpunkt einen vierten Teil einleitet. Ein unverständlicher Schachtelsatz sieht nun wirklich anders aus. Der hämische Ton hier ist mir unverständlich.
Der Satz ist noch nicht einmal ein Schachtelsatz: Er hat kein Subjekt, kein Verb. Wovon sieht denn der Autor ab? Er schreibt „Abgesehen davon, dass …“, wiederholt es zweimal. Und dann? Was haben Sie verstanden?
Grammatisch korrekt müsste auf „Abgesehen davon, dass…“, ein Hauptsatz folgen und kein Doppelpunkt. Dem Verstehen würde es auch helfen – „jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens“, um den Autor zu zitieren.
Mir gefällt der Satz. ist das schlimm?
Nein, überhaupt nicht. Wer an solch einem Satz seine Freude hat, der soll sie haben. Aber es kostet Zeit: Wie oft mussten Sie den Satz lesen, um ihn zu verstehen? Oder stellte sich einfach ein wohliges Gefühl ein?
Das verräterische Wort steht in Satz 2, mittendrin: Zauberberg. Ach wie gerne wäre ich Großschriftsteller, vom Format eines Thomas Mann. Das Zeug dazu habe ich, das beweise ich doch mit diesen Monstersätzen. Aber trotzdem habe ich es nur bis ins Feuilleton der FAZ geschafft. Wie deprimierend!
Danke, Herr Hosenplotz! Thomas Mann schrieb übrigens durchschnittlich 17 Wörter in seinem Nobelpreis-Roman „Buddenbrooks“.
Anfänger! 2003 habe ich eine ganze Filmkritik in einen Satz gefaßt: http://nice-bastard.blogspot.com/2011/07/stars-auf-speed-spun-von-jonas-akerlund.html
Naja, das Word-Programm zählt 605 Wörter. Das war 2003, gilt also nicht für die Deutsche Meisterschaft 2013. Ich würde auch auf einen neuen Versuch verzichten.
[…] Den Preis bekommt in diesem Jahr Gerhard Stadelmaier, der vor drei Jahren in diesem Blog herausgehoben wurde: Er schrieb mit 208 Wörtern den längsten Satz. Seitdem ist der […]
[…] Ziehe kurze Sätze langen Sätzen vor. Auch wenn der lange Satz sich phantastisch und gebildet anhört, du verlierst den Leser, noch bevor der Satz zu Ende ist. Ein hervorragendes Beispiel für einen solchen Satz findet man hier. […]
[…] Man könnte ihm noch einen Preis verleihen – für den längsten Satz, den wohl je ein Journalist geschrieben hat: 208 Wörter lang (nach der Word-Wörterzählung). Der rekordverdächtige Satz war schon einmal Thema in diesem Blog: […]