Die rauhen langen Nächte (Friedhof der Wörter)
Als sich der Kalender noch nach dem Mond richtete, waren die Tage nach Weihnachten eine ruhige Zeit: Die Frauen wuschen keine Wäsche, die Männer taten nur das Notwendigste, und die Kinder durften nach Sonnenuntergang nicht mehr das Haus verlassen.
Die Familie saß zusammen, oft mit den Nachbarn. Doch die reine Idylle war dies nicht. Irgendeiner begann, wenn es draußen dunkelte, von Werwölfen zu erzählen, von Vampiren und von Jungfrauen, die nicht nur den Bräutigam, sondern auch den Tod sahen.
Ein anderer hatte die Tiere sprechen gehört. Wieder ein anderer erzählte, er wisse von einem, der die Tiere verstand – und prompt verstorben sei. „Rauhnächte“ nannten unsere Altvorderen die Zeit zwischen Winteranfang, also dem kürzesten Tag des Jahres, und dem Fest der drei Könige, wenn die Tage wieder länger werden.
Was „rauh“ sei in diesen Nächten, haben Sprachhistoriker nicht geklärt. Es könnte von der „Reue“ stammen. Die Tage zwischen den Jahren sind eine gute Zeit der Erinnerung: Man kann das Böse bereuen und das Gute in die Zukunft verlängern.
So sollten wir die Rauhnächte auferstehen lassen, bevor wir gute Vorsätze in der Neujahrsnacht fassen und das Gute tun – oder lassen, bevor die Drei Könige wieder Licht ins Dunkel bringen.
Thüringer Allgemeine, Silvesterausgabe 2012, Friedhof der Wörter
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