Wolf Schneider lobt, versteht die 17-jährigen nicht und: Die Zukunft der Zeitungen (Das komplette dapd-Interview)

Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 6. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

„Schönes Feuer haben Sie in Ihrem dapd-Interview! Kompliment“, mailt Wolf Schneider. Lob vom Meister ist selten und nicht unbegrenzt. „Das größte Problem freilich können auch Sie nicht lösen:

1. Ich mag kein Papier mehr.
2. Informationen? Die mag ich auch nicht. (Unsere 17jährigen)“

Wolf Schneider bezieht sich auf ein Interview, in sechs Teilen an den vergangenen Tagen in diesem Blog erschienen. Hier das komplette Interview, wie es dapd am Freitag, 3. August 2012, gesendet hat:

 

Chefredakteur Raue: „Wir fahren nicht auf der Titanic“ – Google und Facebook als gemeingefährliche „Schmarotzer“ (mit Wortlautinterview/Biografie)

Erfurt (dapd-lth). Er gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Regionalzeitungsmachern Deutschlands, Paul-Josef Raue, Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen“ aus Erfurt. Raue geht die Zeitungskrise konzeptionell an, setzt auf Qualitätsjournalismus – auch und gerade im Lokalen. Zusammen mit Wolf Schneider hat er „Das neue Handbuch des Journalismus“ verfasst, ein Standardwerk in der Branche. Mit dapd-Redakteur Ulrich Meyer sprach Raue über die Zukunft der Zeitungen, die Finanzierung von Journalismus sowie die Bedeutung von Google & Co.

 

dapd: Herr Raue, wie beurteilen Sie die Lage und vor allem die Zukunft der Zeitungsbranche? Ist der Untergang nahe?
Raue: Wir fahren nicht auf der Titanic! Wir kennen unser Schiff, das stabil gebaut ist und schon einige Orkane überstanden hat. Wir kennen die Eisberge, auch ihre gefährliche Schönheit unterhalb der Oberfläche. Aber wir sind Opfer unserer Lust auf Untergang, Tragödie und Katastrophe. Wir lieben das Wort „noch“: Noch gibt es die Zeitung! Noch greifen die meisten zur gedruckten Zeitung! Noch schätzen viele Menschen anspruchsvollen Journalismus! Noch gibt es uns Journalisten und noch nicht nur Blogger! Noch, noch, noch.
Wir haben aber allen Grund, selbstbewusst zu sein: Ohne seriösen Journalismus, ohne Hunderte von Lokalzeitungen, „Zeit“ und „Spiegel“, gerät unsere Demokratie ins Wanken.Was uns Sorgen macht, ist das Geschäftsmodell. Der Zeitungsmarkt wird ein reiner Lesermarkt, das heißt: Die Leser müssen immer mehr für unabhängigen Journalismus bezahlen. Nur – begeistern wir die Leser mit unserer Untergangs-Sehnsucht? Rauben wir uns nicht viel Kraft, wenn wir jammern statt handeln?

dapd: Wie versuchen Sie, Ihrer Thüringer Allgemeinen die Zukunft zu sichern?
Raue: Wir verlassen die Wolke, von der wir auf unsere Leser hinabschauten. Wir klettern die wacklige Leiter hinunter, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Wir stellen den Journalismus vom Kopf auf die Füße – ohne dabei kopflos zu werden. Wir schreiben für Menschen, mit denen wir zusammen leben, deren Bedürfnisse wir kennen. Wer sein Leben und den Alltag ohne Arroganz mit seinen Lesern teilt, der schreibt ihnen nicht mehr vor, was sie zu denken haben. Der Hochmut wäre in der Tat unser Untergang.
Die Bedürfnisse der Leser ernst zu nehmen, bedeutet für uns Journalisten: Haltet die Gemeinschaft lebendig! Haltet sie zusammen – mit Vereinsberichten, Service und tiefen Recherchen! Es bedeutet nicht, um jeden Preis populistisch zu werden, also der vermuteten Mehrheit hinterher zu hecheln. Wir ermuntern zur Debatte, wir fördern sie. Doch Debatten entstehen nur, wenn Minderheiten und Querdenker zu Wort kommen und auch Redakteure nicht nur mit dem Strom schwimmen. Leser mögen Debatten, mögen Querdenker – auch wenn sie gerne zetern: Warum steht das in meiner Zeitung? Aber sie lesen es und streiten.

dapd: Ist Regionalisierung das Allheilmittel?
Raue: Regionalisierung ist töricht, wenn darunter verstanden wird: Wir errichten 50 Kilometer vor unserer Stadt eine Mauer und schauen nur noch drüber, wenn ein Gewitter aufzieht. Regionalisierung ist klug, wenn sich Redakteure die Welt anschauen und aus der Perspektive ihrer Leser die Informationen ordnen, verständlich machen und kommentieren.
Wir haben eine Arbeitsteilung, die es Lokalzeitungen einfach macht: Die „Tagesschau“ hat die Welt, Brüssel und Berlin im Fokus; für die Leser ist sie die Instanz der Informationen aus der Welt, die sie unbedingt wissen müssen. „FAZ“ und „Spiegel“ leuchten in die Kulissen der Welt. Wir leuchten in die Nachbarschaft.
Für Redakteure sind die Nachrichtenagenturen entscheidend, um im Tagesgeschäft die Welt-Nachrichten zu entdecken, die Nutzen für das Leben ihrer Leser haben. Das kann in einer kleinen Stadt die Nachricht aus dem Westen Chinas sein, wenn eine örtliche Firma dort einen Schlachthof baut. Das ist eine Entscheidung aus Brüssel, die das Leben der Menschen verändert; das ist eine Menschenrechtsverletzung auf dem Balkan, wenn der Redakteur sowohl Zahl wie Ort von Flüchtlingen erfährt, denen die Abschiebung droht. Kein Schaden droht unserer Demokratie, wenn Redakteure von Regionalzeitungen nicht mehr die Lage in Aserbeidschan kommentieren, ohne jemals das Land bereist zu haben.

 
dapd: Die Rückbesinnung auf guten, sauber recherchierten, einordnenden, erklärenden Journalismus gilt vielen als die richtige Strategie. Wie lässt sich das finanzieren?Raue: Wenn wir immer besonnen gearbeitet hätten, ginge es uns zurzeit besser. Wir verlieren ja nicht – oder zumindest: nicht nur – wegen des Internets, sondern wegen unseres Hochmuts, unsere Leser nicht ernst zu nehmen. Die Auflagen rutschten schon, als nur wenige das Internet kannten und noch weniger nutzten. Die Auflagen rutschen selbst dort, etwa im Osten, wo das Internet am wenigsten verbreitet und am wenigsten schnell ist. Früher klagten nicht wenige Redakteure, sie stünden unter der Knute der Anzeigenabteilung. Heute klagen sie, sie stünden unter der Knute der Leser, die nur für das zahlen, was wertvoll ist. Immer schon galt: Wer sich an seine Werbekunden anpasst, hat die Zeitung und den unabhängigen Journalismus aufgegeben. Wer sich dagegen nach seinen Lesern richtet, stärkt die Zeitung und den unabhängigen Journalismus.

dapd: Sind Google und Facebook nur Schmarotzer oder symbiotische Partner der „klassischen“ Medien?
Raue: Sie sind Schmarotzer, sie sind gefährlich, gemeingefährlich, aber sie sind da, und sie sind mächtig. Wir sollten sie nutzen, benutzen, aber nicht mehr. Hätten sich die großen Verlage, vor allem in den USA, wo alles begann, dieselben Gedanken gemacht wie Steve Jobs und Mark Zuckerberg, wären diese gigantischen, die Freiheit bedrohenden Netze unter Kontrolle von Journalisten und weisen Verlegern. Aber das sagt sich so leicht, und es ist der Fehler von gestern.
Mehr Sorgen bereitet, dass auch in Deutschland Startups entstehen, die schnell millionenschwer werden: Sie werden selten von Verlagen gegründet, sondern von jungen Tüftlern, die kein Geld für teure Marktanalysen und ausführliche Business-Pläne haben und keine Lust auf lange Konferenzen.
Warum entdecken wir diese Leute nicht? Stimmt unsere Ausbildung, unsere Talent-Suche nicht mehr? Haben wir das Gespür für Ausgewogenheit verloren, wenn wir Risiko, Neugier, Spontanität und Mut in die eine Waagschale legen und Wirtschaftlichkeit, Seriosität, Kontrolle und Kontinuität in die andere?

dapd: Können Sie jungen Leuten noch dazu raten, Journalisten zu werden?
Raue: Ja und nochmals: ja – wenn ein junger Mensch mit Leidenschaft für diesen Beruf brennt. Nein – wenn ein junger Mensch den Typ Beamten schätzt in Habitus, Denken und Sein. Noch nie war der Beruf so spannend und noch nie so wichtig wie heute: Im digitalen Zeitalter muss die Freiheit und Unabhängigkeit und Verständlichkeit des Journalismus mit neuen Mitteln verteidigt werden. Die Ideen dafür bringen die jungen Journalisten mit, die mit Neugier und Lust am Experiment starten und von den alten lernen, dass die Demokratie starke Journalisten braucht und wir Journalisten eine starke Demokratie brauchen.
Zum ersten Mal in der Ausbildung lernen die Alten – die Profis der analogen Welt – von den Jungen – die technisch Versierten der digitalen. Das müsste der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft sein. Die Alten schrieben in der Gewissheit: Wir füllen unbehelligt den Raum zwischen den Anzeigen – und vergaßen, dass Zeitungen immer kommerziell waren, einst abhängig von Werbung, bald von den Lesern oder von „Nutzern“, wie Leser digital heißen. Der Raum zwischen den Anzeigen ist mittlerweile so groß geworden, dass so manche Redaktion von Werbe-Einnahmen allein nicht mehr finanziert werden kann. Wir brauchen also neue Finanzierungen. Die müssen die Jungen finden, ohne dabei die Vernunft des Journalismus zu verraten.
dapd/T2012080351013/ume/rwe /1

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