Lange Sätze, kurze Sätze und das Drei-Sekunden-Gesetz

Geschrieben am 30. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Es geht nicht darum, ob Sätze lang sind oder kurz. Es geht darum, ob wir sie beim ersten Lesen leicht verstehen. Wer gelesen werden will, sollte sich darum bemühen.

Lange Sätze müssen nicht unverständlich sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch.

Lange Sätze können auch schön sein – beispielsweise in Caroline Emckes preisgekrönter Afrika-Reportage, die ich in diesem Blog gelobt habe. Sie schrieb 120 Wörter in einem Satz: Nur kurze Hauptsätze.

Kurze Sätze können unverständlich sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering.

Auf dem Schild vor einem Rathaus steht:

Vor vor dem Rathaus unbefugt vorfahrenden Kraftfahrzeugen wird gewarnt.“

Der Satz ist kurz, aber schwer verständlich. Dagegen sind die ersten Sätze der Bibel kurz und leicht verständlich:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

Wenn man die Erschaffung der Erde in kurzen Sätzen schildern kann, dann auch eine Trauerfeier in Freiburg.

Heinz W.Pahlke schreibt in seinem Sprachrand-Blog: Ein Satz mit 208 Wörtern kann zwar einen Durchschnittsleser überfordern, aber keinen Leser des FAZ-Feuilletons.

Das sieht der Psychologie-Professor Ernst Pöppel anders, und er begründet das mit wissenschaftlicher Erkenntnis:

Wir haben ermittelt, dass es in allen Bereichen, die wir untersucht haben, die merkwürdige universelle Konstante von ein paar Sekunden gibt. Wir sprechen von einem Operationsbereich von maximal zwei bis drei Sekunden, der mit menschlichem Willen nicht verlängert werden kann…

Satzkonstruktionen liegen in diesem Zeitbereich. Dieses Phänomen gilt für alle Sprachen dieser Welt, so dass wir sagen können: Diese Rhythmik ist eine universelle Konstante.

Auf die Frage, ob diese Konstante auch auf die Poesie zutreffe, antwortete der Psychologe:

Interessanterweise ja. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen der temporalen Struktur von Gedichten und der gesprochenen Alltagssprache. Jede Verszeile ist eingebettet in das genannte Zeitfenster…

Unbewusst nutzen die Dichter den Gehirnmechanismus, um optimal Informationen abzubilden.

Dies Interview war 1998 in der Silvesterausgabe der FAZ zu lesen, als sie noch ihr großartiges Magazin beilegte.

Nach Erkenntnis des Wissenschaftlers müsste das Drei-Sekunden-Gesetz auch für FAZ-Leser gelten und nicht nur für Durchschnittsleser; mit Willenskraft allein sei dies Naturgesetz des Lesens nicht zu überlisten. Also müsste es auch für einen „wunderbar poetisch formulierten Nachruf“ gelten, wie Heinz W. Pahlke den 208-Wörter-Satz rühmt.

Der Drei-Sekunden-Regel folgen auch alle SMS-und Twitter-Autoren, die also nicht für den Untergang des Abendlands stehen. Die zehn Gebote beispielsweise passen locker in maximal zehn Tweets: „Du sollst nicht töten“ besteht gerade mal aus 21 Zeichen.

Dies sind die Regeln der Verständlichkeit:

1. Schreibe stets so, dass der Leser nicht länger als drei Sekunden braucht, um eine Information zu verstehen.

2. Ein Satz darf durchaus unbegrenzt lang sein, wenn er gut gebaut ist:

a. Er beachtet die Drei-Sekunden-Regel;
b. er ist gegliedert durch Komma, Semikolon, Doppelpunkt und Gedankenstrich;
c. er besteht aus Hauptsätzen;
d. er lässt nur wenige eingeschobene Nebensätze zu oder einen längeren Nebensatz am Ende;
e. er schiebt höchstens sieben kurze Wörter zwischen Subjekt und Prädikat („der Vater auf einem Schaukelpferd lobt…“), zwischen Artikel und Substantiv („der auf einem Schaukelpferd sitzende Vater„) sowie zwischen das zweiteilige Verb („Der Vater hat seinen gehorsamen Sohn gelobt„);
f. er nutzt wenige Ziffern und keine Klammern, es denn am Ende des Satzes (wogegen ich in dieser Aufzählung unter Punkt e verstoßen habe).

3. Journalisten schreiben so, dass ihr Text beim ersten schnellen Lesen zu verstehen ist. Alles andere überlassen sie Poeten, die für eine Minderheit schreiben wollen.

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