Richard von Weizsäcker, eine Sprachmacht: Parteien machen sich den Staat zur Beute (Friedhof der Wörter Extra)
Bisweilen ist es ein Wort, das alles verändert, ein einziges Wort. Vierzig Jahre lang hatten die meisten Bürger im Westen Deutschlands den 8. Mai, am dem der Weltkrieg zu Ende ging, als Tag der Niederlage gesehen.
Am 8. Mai 1985 sprach Richard von Weizsäcker als Bundespräsident nicht mehr von der Niederlage, sondern von einem „Tag der Befreiung“. Es war dies eine Wort „Befreiung“, und es zog – zumindest für den Westen Deutschlands – einen Schlussstrich unter das brutalste Kapitel der deutschen Geschichte.
Die „Befreiung“ war eine doppelte: Ein neues Wort für ein neues Denken von höchster Stelle; und der Abschied von dem lähmenden oder gar aggressiven Trauma der Niederlage, gar von Schmach oder . Die als historisch geltende Rede des Bundespräsidenten beschreibt auch Glück und Leiden der kollektiven Erinnerung: Wer ehrlich zurückblickt, wird freier, sich den Folgen verantwortlich zu stellen.
Erinnerung kann für die einen Verbitterung bedeuten, wenn Illusionen zerrissen sind, und für den anderen Dankbarkeit, wenn er einen neuen Anfang sieht. Wie in der persönlichen Erinnerung so ist es auch in der Erinnerung eines Volks nach dem Ende einer Diktatur: Der eine ist verbittert, der andere beglückt.
Richard von Weizsäcker starb am Sonnabend. Er war der Bundespräsident der Einheit: In seiner Rede zum 8. Mai 1985 sprach er auch von der Einheit, die viele im Westen schon aufgegeben hatten: „Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.“
Er war der Bundespräsident, der wie kein anderer verständlich und gewaltig sprach, sich keinem anbiederte und so unter den Politikern wenig Freunde fand – auch wenn die Nachrufe anderes vermuten lassen. Er sprach von den Parteien, die sich den Staat zu Beute machen. Das ist selbst Pegida nicht eingefallen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 2. Februar 2015