Vor 10 Jahren: Der Amoklauf in Erfurt
Am 26. April 2002 ermordet ein 19-jähriger im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und sich selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle, stürzt ein Land in Trauer, bringt Menschen nahezu um den Verstand, weil keiner, bis heute, versteht, wie ein junger Mensch noch am Anfang seines Leben zu diesen Morden fähig ist, sorgfältig geplant, mit Kalkül ausgeführt.
Eigentlich sollte man schweigen, wenn solch Unbegreifliches geschieht. In welcher Sprache sollte man überhaupt sprechen? Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen? Das Wort verweist eher auf eine spontane Tat. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.
Für die Angehörigen der Opfer wäre Schweigen die beste Lösung. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht oder jeden Film, der im Fernsehen läuft. Auf der anderen Seite muss auch eine Gesellschaft eine solche Tat zu verstehen versuchen, darf sie nicht verschweigen – zum einen um Vorsorge zu treffen, zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.
Die Morde am Erfurter Gymnasium blieben ja auch kein Einzelfall in Europa: 2009 ermordete ein 17jähriger in Winnenden nahe Stuttgart 15 Menschen, zuerst in einer Realschule, dann auf der Flucht; 2011 ermordete ein 32jähriger 94, meist junge Menschen in einem Ferienlager auf der norwegischen Insel Utoya.
Im Editorial zum Buch „Der Amoklauf“, nach einer Serie in der „Thüringer Allgemeine“, ist weiter zu lesen:
Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen. Journalisten haben viele Fehler, zum Teil unverzeihliche Fehler gemacht, vor allem auf der Jagd nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen. Sie haben oft die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen. Dass diese Kritik auch in den Medien selber hinreichend wahrgenommen und diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und lernfähig.
Das Problem der Journalisten ist, wenn sie nicht nur Sensationen suchen, die Balance zwischen Distanz und Nähe:
• Sie brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von den Emotionen übermannen zu lassen und wenigstens die Tür des Verstehens ein wenig öffnen zu können und Verantwortungen zu klären.
• Sie brauchen Nähe, um in allem Respekt mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, das Unerklärliche vielleicht doch erklären zu können.
Als Journalisten, die in Erfurt leben und arbeiten, zeigen wir den Respekt, weil wir Tür an Tür mit den Menschen leben, die immer noch trauern und vielleicht ein Leben lang trauern müssen. In diesem Respekt und dem Bewusstsein, die Nähe nicht auszunutzen, denken wir zehn Jahre danach noch einmal intensiv an die Morde im Gutenberg-Gymnasium.
Wir wissen, welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen müssen: Wer die Wiederholung des Bösen verhindern will, muss sich erinnern, so schmerzlich sie auch sein mag. Wir Erfurter Journalisten, die dieses Buch schreiben, sind uns bewusst: Wir müssen erinnern, ohne die zu verletzen, die immer noch in der Trauer gefangen sind; wir müssen fragen, welche Details nach zehn Jahren wieder erzählt und welche Fotos noch einmal gezeigt werden sollten.
Die TA-Serie und das Buch wollen erinnern und gedenken. Geschildert werden noch einmal das Geschehen am 26. April 2002 und seine Folgen. Nichts soll vergessen sein. Vor allem aber kommen Menschen zu Wort, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten. Es ist ihre Geschichte, ihr Schicksal. Niemand kann besser beschreiben, was damals passierte – und wie es Leben und Alltag veränderte.
Die Ereignisse des Schwarzen Freitags von Erfurt sind nahezu lückenlos ermittelt. Dennoch sind auch zehn Jahre danach die Wunden nicht verheilt, die Verletzungen an der Seele schmerzen weiter. Die größte Last tragen die Angehörigen der Opfer, die den Verlust begreifen und mit ihm leben müssen. Aber auch die, die damals Zeuge der schrecklichen Morde wurden oder jene, die den Weinenden und Trauernden beistanden, müssen mit ihren Erlebnissen und Bildern im Kopf klar kommen.
Vor allem stellen wir Fragen, die bis heute nicht erschöpfend beantwortet sind und vielleicht nie beantwortet werden können:
Wie konnte sich ein junger Mann so in Hass und Wut gegen seine Lehrer hineinsteigern?
Wieso blieb sein Plan für den mörderischen Rachefeldzug unbemerkt?
Wir Redakteure danken allen, die an der Serie und dem Buch mitgewirkt haben. Selbstverständlich akzeptierten wir, wenn viele nicht öffentlich erinnert werden wollen – weil ihre Erinnerungen ein einziger Schmerz sind. Manche haben die Kraft und den Mut gefunden, doch zu sprechen.
Wir alle dürfen nicht vergessen.
/Editorial von Paul-Josef Raue „Distanz und Nähe und der Schmerz der Erinnerung“ im Buch „Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken“, erschienen im Klartext-Verlag Essen, 12.95 €; in dem Buch sind die Gespräche mit den Menschen abgedruckt, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten“. Die Gespräche, zehn Jahre danach, sind auch in einer Serie der „Thüringer Allgemeine“ erschienen“
(zu: Handbuch-Kapitel 48+49 „Presserecht und Ethik“)