Wie aus dem traumatischen „Tor für Deutschland“ ein Sprichwort wird (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Wenn in Brasilien der Mutter das Milchkännchen auf den Boden fällt, flucht sie: „Gol da Alemanha!“ Wenn der Vater im Zeugnis des Sohnes wieder eine schlechte Note in Mathematik sieht, schüttelt er resignierend den Kopf: „Gol da Alemanha!“

Was in Deutschland kollektiven Jubel auslöste, war in Brasilien ein Schock, der „Schock von Mineirão”, den Namen des Stadions in Belo Horizonte aufnehmend: Dort hatte Deutschland vor einem Jahr 7:1 gegen Brasilien gewonnen – und das auch noch während der Weltmeisterschaft.

Nicht nur Menschen leiden unter schlechten Erfahrungen, die zum Trauma werden wie ein Albtraum, der immer wiederkehrt. Auch Völker können kollektiv leiden – und werden den Albtraum nicht mehr los.

Nach der Halbfinal-Niederlage im eigenen Land wollte die Staatspräsidenten gleich das Trauma bannen und tröstete: „Brasilien wird sich von dem extremen Schmerz erholen!“ Aber einer der Direktoren des Fußballverbands bemühte gar einen Vergleich zum 11. September in New York, der die Tiefe des Schmerzes bezeugt: „Du siehst, wie der erste Turm zerstört wird, dann der zweite…“

„Tor für Deutschland“ ist zum Sprichwort in Brasilien geworden und wird es wohl noch in hundert Jahren sein, wenn kaum einer mehr den historischen Hintergrund erinnert.

Sprichwörter entstehen bisweilen nach verlorenen Schlachten, ob im Fußball oder in wirklichen Kriegen. Wer weiß noch bei uns, woher der Spruch stammt: „Das ist eine Tataren-Nachricht“?

Während des Krimkriegs belagerten Türken, Franzosen und Briten die russische Hafenstadt Sewastopol. 1854 meldete ein Tatare im Dienste der Türken den Fall Sewastopols. Das war eine Lüge, die von den Zeitungen verbreitet wurde: Die Politiker glaubten ihr, die Börse reagierte heftig.

Seit diesem Tag nennen wir eine Lüge eine Tatarennachricht, wenn sie alle glauben und wenn sie große Wirkung erzielt. Eine Tatarennachricht heute ist eine Schreckensmeldung, die alle tief beeindruckt, die wir düster und unbestimmt „die Märkte“ nennen.

Man könnte auch das Internet ein Tataren-Netz nennen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 13. Juli 2015 (geplant)

 

 

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