Amoklauf – Der Spagat zwischen Nähe und Distanz

Geschrieben am 12. April 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Waiblinger Kreiszeitung und die Thüringer Allgemeine verbindet ein tragisches Ereignis: Beide Redaktionen mussten über einen Amoklauf berichten – der erste in Erfurt vor zehn, der zweite in Winnenden vor drei Jahren.

Beide Redaktionen haben sich intensiv damit beschäftigt, wie Journalisten über einen Amoklauf berichten sollten. Wie schon zuvor die Redakteure in Winnenden setzen sich auch die Redakteure in Erfurt heute (12. April 2012) zu einem Workshop zusammen, um sich mit dem „Dart Center for Journalism and Trauma“ auf den Zehn-Jahres-Tag des Amoklaufs vorzubereiten.
Um das journalistische Verhältnis von Nähe und Distanz geht es auch dem Kreisredakteur Peter Schwarz aus Winnenden, der das Buch ”Der Amoklauf“ in der Thüringer Allgemeine rezensierte. Das Buch schrieben Redakteure aus Erfurt; die einzelnen Teile erscheinen zuvor in der Zeitung als Serie.
„Selbstverständigung über das Unbegreifliche“ ist die Rezension von Peter Schwarz überschrieben:

Es gibt viele Bücher über Amokläufe, eindringliche und effekthascherische, wissenschaftliche und erzählerische, und so liegt eine Frage nahe: Musste dieses Buch jetzt auch noch sein? Die Antwort fällt leicht: Es ist gut, dass es dieses Buch gibt. Es dokumentiert, was geschah, spürt den Folgen nach und hilft einem Gemeinwesen bei der Selbstverständigung über ein letztlich nie völlig begreifbares Entsetzen.

Die Journalisten der ”Thüringer Allgemeine“, der in Erfurt ansässigen Zeitung, haben es geschrieben. Der Lokaljournalist ist angesichts einer solchen Aufgabe in ein Spannungsfeld hineingezwungen: Einerseits muss er Distanz wahren – sie gehört zu seinem Handwerk, sie ermöglicht es, Ambivalenzen zu erkennen, vorschnelle Urteile zu vermeiden, die Komplexität von Ereignissen auszumessen.

Andererseits muss er Nähe zulassen – er kennt die Betroffenen, ist selbst Teil dieser Stadt, reist nicht nach zwei Wochen wieder ab an den nächsten Katastrophenschauplatz.

Die Autorinnen und Autoren des Buches haben es geschafft, diese widerstreitenden Rollenanforderungen auszubalancieren: Sie sind ganz offenkundig nahe dran an den Menschen, genießen das Vertrauen derer, die da erzählen, sich erinnern, ihren Schmerz, ihren Zorn, ihre Zweifel offenbaren.

Und die Journalisten wahren Distanz, indem sie allen zuhören, alle ernst nehmen und dabei auch Widersprüche aushalten, unterschiedliche Wahrnehmungen nebeneinander stehen und gelten lassen. Zu Wort kommen: Hinterbliebene von Ermordeten; Polizisten; Rettungshelfer; Lehrer; Schüler; Seelsorger; ein Freund des Todesschützen; die Eltern von Robert Steinhäuser.

Nach dem Amoklauf von Erfurt rissen Klüfte auf – das war unausweichlich, wie überall, wo derart Unfassbares geschehen ist. Weder übertüncht das Buch diese Bruchstellen harmoniesüchtig noch ergeht es sich in skandallustiger Überbelichtung.
Zum Beispiel: die 17. Kerze. Nicht nur für die Opfer, auch für den Mörder, der sich schließlich selbst erschossen hatte, wurde bei der Trauerfeier auf den Stufen des Erfurter Doms – etwas abseits – ein Licht aufgestellt. Es nieselte und windete an jenem Tag, immer wieder erlosch die 17. Kerze, immer wieder aufs Neue wurde sie entzündet. Er habe sehr damit gerungen, erinnert sich ein katholischer Theologe; letztlich sei es die richtige Entscheidung gewesen. Die Frau eines ermordeten Polizisten sagt: ”Ich kann das nicht verstehen.“

Der Polizeieinsatz am 26. April 2002: Zu vorsichtig, zu zögerlich sei er verlaufen – die Kritiker kommen zu Wort in diesem Buch; genau wie der Einsatzleiter, der sich seinerzeit zwischen Töpfermarkt und ”Autofrühling“ mit einer Herausforderung konfrontiert sah, für die es keinen Erfahrungswert gab: ”Aus heutiger Sicht haben wir natürlich Fehler gemacht.“ Aber ”aus unserem Einsatz hat man vieles gelernt, was man zuvor nicht wissen konnte. Wir waren die Null-Serie.“

Dieses Buch liefert nicht den einen, großen Gesamtdeutungswurf, verordnet nicht die eine, letztgültige Lesart. Und hilft gerade dadurch, den 26. April 2002, seine Folgen und die verschiedenen Gefühlslagen so vieler auf so unterschiedliche Weise Betroffener zu verstehen.

Zu den beeindruckendsten Passagen gehört ein Interview mit einem Fotografen. Behutsam und gelassen verteidigt er seinen nach Erfurt – und auch wieder nach Winnenden – heftig in Verruf geratenen Berufsstand. Er erinnert daran, dass er bei solch einem Geschehen eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe: als Chronist.

Zugleich offenbaren seine Bilder und die seiner Kollegen in diesem Buch, dass es möglich ist, zu dokumentieren, ohne zu entblößen. Trauernde sind zu sehen, aber nicht im Moment der Übermannung, des Außer-sich-Seins. Auf Fotos von Erschossenen wurde ganz verzichtet. Es gab, begründet der Fotograf, ”ausreichend andere starke Bilder, um das Ausmaß des Geschehens zu zeigen“. Viele von ihnen sind hier vereint: von Kugeln durchschlagene Scheiben und Türen; ein leeres Klassenzimmer, an der Tafel sind noch die chemischen Formeln lesbar, die eine Lehrerin anschrieb, bevor sie starb. Auch Bilder, die während des Amoklaufs entstanden: ein Schild in einem Fenster, handgeschrieben in Großbuchstaben steht darauf ein Wort: ”HILFE“.

Anhand solcher Bilder offenbart sich, wie gut im Buch der Spagat gelungen ist zwischen Nähe und Distanz: Sie zeugen von einer entschlossenen Chronistenbereitschaft, die sich doch nie in respektloser Grenzüberschreitung ergeht. Es sind erschütternde Aufnahmen, aber sie zielen nie auf reinen Schauwert. Sie malen nicht grell aus. Sie zeigen, was geschah.

Ein Mann, der seine Frau verlor, sagt: ”Die Zeit, so heißt es, würde alle Wunden heilen. Was für ein Unsinn. Man lernt nur, mit ihnen zu leben.“ Dieses Buch kann dabei helfen.

THÜRINGER ALLGEMEINE vom 11.04.2012, S. 3
Das Buch: Hanno Müller / Paul-Josef Raue (Hg): Der Amoklauf. Klartext-Verlag, Essen, 203 Seiten, 12,95 Euro

(zu: Handbuch-Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“)

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