Günter Grass und sein wohl längster Satz, gleichwohl schön und verständlich (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Günter Grass war ein Dichter, der sich immer wieder in die politischen Debatten einmischte. Dafür lobten ihn die meisten seiner Nachrufer: Seine Stimme und seine Unbeugsamkeit wird uns fehlen.

Nein, sie wird uns nicht fehlen. Warner, Unbeugsame und Wachrüttler, Querdenker und Provokateure im besten Sinne erheben in ausreichender Zahl ihre Stimme. Wer uns fehlen wird, ist der Meister des Erzählens, der Meister der deutschen Sprache: Keiner hat nach dem Krieg mehr dafür getan als Grass – und das in einer Zeit, in der die unsere Sprache Einfluss in der Welt verliert, in der Frankreich den Deutschunterricht in der Schule stark reduzieren will und selbst Deutsche keinen Spaß mehr haben sondern „fun“.

Wolf Schneider, der bald 90-jährige Sprachpapst, zitiert Grass immer wieder. Er lobt ihn für seine kurzen Sätze wie „Ilsebill salzte nach“ (im „Butt“); er lobt ihn für seine langen Sätze, die ein Meister wie Grass schreiben kann, verständlich und schön. Erliegen wir einfach der Faszination über 69 Wörter in der „Blechtrommel“: Ein Subjekt – die Großmutter – mit vielen Prädikaten, ein kurzer einleitender Nebensatz und ein langer, die Hauptsache erzählender Hauptsatz:

Als ich meinte, genug geblasen zu haben, öffnete sie die Augen nacheinander, biß mit Durchblick gewährenden, sonst fehlerlosen Schneidezähnen zu, gab das Gebiß sogleich wieder frei, hielt die halbe, noch zu heiße Kartoffel mehlig und dampfend in offener Mundhöhle und starrte mit gerundetem Blick über geblähten, Rauch und Oktoberluft ansaugenden Naslöchern den Acker entlang bis zum nahen Horizont mit den einteilenden Telegrafenstangen und dem knappen oberen Drittel des Ziegeleischornsteins.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 20. April 2015

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