Wie Günter Grass von der Waffen-SS schreibt
Günter Grass‘ Mitgliedschaft in der Waffen-SS wird nach seiner harschen Israel-Kritik wieder zum Thema – wie schon 2006, als er erstmals davon erzählte in seinen Jugend-Erinnerungen „Vom Häuten der Zwiebel“. „Warum schwieg er 60 Jahre lang?“, fragt noch einmal Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Springer-AG im Kommentar der Bildzeitung vom 5. April. Er fährt fort: „Beim ,Häuten der Zwiebel‘ ist er jetzt ganz innen angekommen. Und der Kern der Zwiebel ist braun und riecht übel.“
Ein Blick lohnt in seine Autobiografie „Vom Häuten der Zwiebel“. Was er von der Waffen-SS berichtet hat, ist eifrig diskutiert worden. Nur – wie hat Grass erzählt?
„Während einer Pause, schon wieder auf dem Rückzug, bin ich einem Mädchen hinterdrein, das – hier bin ich sicher – Susanne heißt und mit seiner Großmutter aus Breslau geflüchtet ist. Jetzt streichelt das Mädchen mein Haar. Mir war Händchenhalten erlaubt, mehr nicht. Das ereignet sich aufregend im heilen Stall eines zerschossenen Bauernhauses. Ein Kalb schaut zu.“
Dies ist meine Lieblingsstelle in „Vom Häuten der Zwiebel“, aus dem die meisten nur eine winzige Passage kennen: Die Revision der Lüge, Grass sei mit 17 Jahren nicht Flakhelfer geworden, sondern Panzerschütze bei der Waffen-SS.
Zu lesen ist die SS-Beichte dreizehn Seiten vor der Episode mit Susanne. Schon der Sprachstil zeigt, wie schwer sich der Dichter mit der Erinnerung an die Waffen-SS tut.
Zum Vergleich: Die Susanne-Episode fließt, die Schilderung der zärtlichen Szene im zerschossenen Bauernhaus wird im Kopf des Lesers zu einem kleinen Film. Selbst bei einem langen Satz mit 28 Wörtern gerät der Leser nicht ins Stocken.
Die SS-Episode dagegen holpert und wird mit einem verschachtelten Satz eingeleitet. Man muss ihn zweimal lesen, um ihn zu enträtseln:
„Nur zu behaupten und deshalb zu bezweifeln bleibt, daß mir erst hier, in der vom Krieg noch unberührten Stadt, genauer, nahe der Neustadt, und zwar im Obergeschoß einer großbürgerlichen Villa, gelegen im Ortsteil Weißer Hirsch, gewiß wurde, welcher Truppe ich anzugehören hatte.“
Grass verirrt sich in diesem Satz, den Germanistik-Professoren gern als seinen unverwechselbaren Stil rühmen. Aber der Leser spürt, wie der Dichter sich windet, das Verstehen erschweren will. Oder ist es einfach schlechter Stil?
„Erst hier wurde mir gewiß“, das ist der Hauptsatz. Doch zwischen dem „hier“ und dem „gewiß“ schiebt er 23 Wörter mit Ortsschilderungen, die an dieser Stelle keinen interessieren – denn es geht um den Eintritt in die Waffen-SS.
In dem 480 Seiten starken Buch denkt Günter Grass auf knapp zwei Seiten über den Eintritt in die Waffen-SS nach. Aber nicht Günter Grass fragt nach dem „Warum?“, vielmehr entschwindet er in ein nebulöses „Zu fragen ist:“
„Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist?“
Ein Deutschlehrer würde diesen Satz rot unterstreichen als grammatisch fehlerhaft. Was will der Dichter sagen? Das doppelte S war ihm, dem Jugendlichen, schrecklich?
Nein, „eher“ – in der Tat schreibt Grass: „eher“ – „eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben“. Und: „Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig.“
Und später? „Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.“
Und er fügt an, es liest sich, als wolle Grass nach Mitleid heischen:
„Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern.“
Grass wird seine Erinnerung an die Waffen-SS los, so wie er seine SS-Wehrmachtsjacke losgeworden ist (von der er vierzig Seiten weiter erzählt):
Mit einem Obergefreiten flieht Grass in den letzten Kriegstagen. Sein Kamerad sagt ihm:
„Wenn uns der Iwan doch noch hopsnehmen sollte, biste dran, Junge, mit deinem Kragenschmuck. So was wie dich knallen die einfach ab. Genickschuß und fertig.“
Der Obergefreite organisiert eine normale Wehrmachtsjacke ohne Einschussloch oder Blutflecken. „Nun, ohne Doppelrune, gefiel ich ihm besser. Und auch ich ließ mir die angeordnete Verkleidung gefallen. So fürsorglich war mein Schutzengel.“
Günter Grass erzählt auf fast fünfhundert Seiten seine Jugend – und die besteht nicht nur aus zwei Runen. Wenn er erzählt, ist er ein großartiger Erzähler, bildreich und verführerisch wie in der kleinen Episode von Susanne, die sein Haar streichelt, oder von dem frommen Jungen im Arbeitsdienst, den sie „Wirtunsowasnicht“ nennen – weil er sich weigert, ein Gewehr anzufassen; eines Tages holen sie ihn ab und bringen ihn ins KZ.
Nur wenn Grass schwadroniert, quält er den Leser, wenn er das Bild von der zu häutenden Zwiebel strapaziert (wer häutet schon eine Zwiebel?), wenn er den schwer verständlichen, schwer verdaulichen Nobelpreis-Dichter spielt.
„Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird“, schreibt Grass am Ende seiner SS-Episode. „Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiß.“
An diese Gewissheit erinnerte sich Günter Grass offenbar nicht, als er sechs Jahre nach seiner Autobiografie sein Israel-Gedicht schrieb und Journalisten in Deutschland des „Hordenjournalismus“ bezichtigte.
(Der Text folgt der Kolumne „Gedanken zur Zeit“, erschienen am 19. August 2006 in der Braunschweiger Zeitung)
(zu: Handbuch-Kapitel 12 „Durchsichtige Sätze“)
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