Nach dem Airbus-Absturz: Sehnsucht nach Betroffenheit (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 2. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Flugzeug stürzt ab, dabei sind viele Opfer aus Deutschland. Wie reagiert  der Bundespräsident: „Mit größter Bestürzung habe ich von dem schweren Flugzeugunglück erfahren. Meine Gedanken sind bei den Familienangehörigen und Freunden der vielen Opfer. Ihnen gilt meine tief empfundene Anteilnahme.“

Es sind Worte aus dem Floskel-Repertoire: Bestürzung und Anteilnahme, alles stets groß oder größer und tief empfunden; es fehlt nur das Allerweltswort „Betroffenheit“. So oder ähnlich reagieren fast alle Politiker: Unser Vorrat an Worten für Trauer und Tod ist endlich und mittlerweile aufgebraucht. Unsere Sprache hat auch ihre Grenzen.

Offenbar meinen Politiker und Funktionäre, dass die Öffentlichkeit von ihnen Bestürzung und Betroffenheit erwartet. Dank Facebook und Twitter ahmen Tausende mittlerweile die sprachliche Hilflosigkeit unserer Politiker nach:

Gabi schreibt in Großbuchstaben: „FASSUNGSLOSIGKEIT. TRAUER“. Matthias Opdenhövel ist  auch „fassungslos“ und  Andy wünscht „Good night. Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen des Flugs“ und fügt an „traurig, nur traurig“.

Wer braucht diese tausendfache Betroffenheit? Wer die Fassung verloren hat, sollte besser schweigen und – so er es kann – beten.

Es melden sich allerdings auch die Zyniker der Betroffenheit. Ines Pohl, die Chefredakteurin der taz twittert:

fast scheint es, als könnte Deutschland endlich die dringende Sehnsucht erfüllen, auch mal eine Katastrophe für sich zu beanspruchen.

Und ein Verwirrter verschwört sich schon: „Warum gibt man nicht zu, dass es ein missglücktes Manöver der US-Streitkräfte war???“ Und ein Pegidianer, der gern über die Lügenpresse schimpft, weiß, dass der Kopilot vorher zum Islam konvertiert ist. 

Da bleibe ich doch lieber bei unserem bestürzten Bundespräsidenten.

**

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 7. April 2015

Mario Schattney per Facebook am 7. April um 16:04

Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen unserer Welt(erfahrung)? Ludwig Wittgensteins Postulat: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!

Diskutieren Sie mit uns den Artikel "Nach dem Airbus-Absturz: Sehnsucht nach Betroffenheit (Friedhof der Wörter)"