Was tut sich im Hirn von digitalen Ureinwohnern und analogen Alten?

Geschrieben am 13. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Sohn pflegt seinen dementen Vater. Er bekommt eine Ahnung vom Alt-Sein:

Vatter muss die Dinge langam belichten, um sie wahrnehmen zu können. Alles Schnelle, Hektische fällt durch sein grobmaschiges Raster. Jüngere Hirne reagieren umgekehrt: Das Neue, Schnelle, Plötzliche nimmt die Aufmerksamkeit sofort gefangen. Ein lebenserhaltender Reflex: Es könnte etwas Gefährliches sein und eine sofortige Reaktion erfordern!

Doch Vatter reagiert nicht mehr. Er schaut nur noch hin. Filtert alles Irritierende aus. Deshalb ist er so unendlich langsam. So fatalistisch. Und so schutzlos. Ich habe zum ersten Mal eine Ahnung davon, was es heißt, alt zu sein. Und dement.

Der Journalist Bernd Eichmann schreibt, wie in einem Tagebuch, über die letzten zweieinhalb Jahre seines Vaters, den er im Sterben begleitet. Dabei entdeckt er,  fast nebenbei, die Unterschiede eines jungen und eines älteren Gehirns: Das schnelle, wie wir es bei den Digital Natives beobachten, und das langsame der Alten, die bisweilen geringschätzig auf Jüngere herabschauen, die unentwegt ihr Smartphone in der Hand halten, simsen und chatten und mailen.

Das Gehirn seines dementen Vaters stellt sich Bernd Eichmann vor wie eine Daguerrotypie – „entleert von allem Flüchtigen“:

Die verbliebenen Synapsen seines Hirns übermitteln nur noch Eindrücke von Dauer. Vatter muss die Dinge lange belichten, um sie wahrnehmen zu können. Alles Schnelle, Hektische fällt durch sein grobmaschiges Raster,

Ein Graureiher, seit Tagen ständiger Begleiter bei den Ausflügen,  hat den Sohn aufmerksam gemacht: Der Reiher, eine Hummel und Flugzeug sind zu sehen. Der Vater sieht nur das Flugzeug:

Das kann er fixieren, weil es seine Blickachse langsam genug passiert. Und da wird mir klar, dass Vatter längst in Zeitlupe sieht und lebt: Das Hirnsegment für Schnelligkeit ist geschlossen. Nur das, was sich langsam oder gar nicht bewegt, findet in seiner Welt noch statt… Und deshalb versteht er meine Welt nicht, die sich aus flüchtigen Eindrücken speist und ständigen Veränderungen unterworfen ist.

Dem Sohn kommt eine Daguerrotypie von 1838 in den Sinn: Ein Pariser Boulevard von oben fotografiert – ein Schuhputzer ist zu sehen und sein Kunde, keine Kutsche, kein Mensch, kein Hund. „Die weit offene Blende und lange Belichtung  haben das Bewegte weggewischt, nur das Unbewegt ist erhalten.“

Das Buch:
Bernd Eichmann: Vatter baut ab. Eine Geschichte von Demenz und Liebe. Gütersloher Verlagshaus, 192 Seiten, 17.99 Euro

Eine Besprechung des Buchs im  pjraue-Blog

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