Alle Artikel der Rubrik "Online-Journalismus"

Robert Domes: Ich vergleiche journalistische Kreativität mit der Goldsuche

Geschrieben am 1. Februar 2019 von Paul-Josef Raue.

Robert Domes war Lokalchef im Allgäu und ist Autor des Bestsellers „Nebel im August“, der verfilmt wurde. Foto: Simone Schatz

In einem Interview für die Journalismus-Kolumne von Kress spricht der Journalist Robert Domes über Lokaljournalisten, Recherche und Wahrheit, über arrogante Redakteure, die Demokratie, über Claas Relotius und über seinen mehrfach preisgekrönten Film „Nebel im August“.

Dies sind die stärksten Zitate:

Echte Kreativität ist fast immer eine Antwort auf eine möglichst exakte Frage. Ich vergleiche das mit der Goldsuche: Ich grabe mich durch das Sediment und wasche den Sand, bis ich die Goldkörner finde. Das erfordert ein offenes Auge, vor allem aber Fleiß und Geduld.

Ein gutes Beispiel ist die Sendung mit der Maus. Sie bedient sich eines Konzepts, das auch Journalisten nutzen sollten. Man versetze sich in die Sichtweise eines Kindes, das die banalsten Dinge hinterfragt und das immer wieder die „Königsfrage“ stellt: Warum? Schnell erkennen wir auf diese Weise, wie schwierig viele Sachverhalte tatsächlich zu erklären sind. Nicht nur Kinder stellen solche Fragen, auch viele Leser. Dazu dürfen Journalisten nichts für selbstverständlich nehmen.

Das ist die größte Herausforderung im Redaktionsalltag: Muße finden, sich Freiraum schaffen für unkonventionelle Ideen. Das ist auch Aufgabe der Redaktionsleitung, ihrer Mannschaft die Möglichkeit zum Spielen zu geben.

Ich bin ein Verfechter der guten alten Grundsätze: berichten, nicht richten; verdichten, nicht erdichten; beschreiben, nicht vorschreiben.

Der finanzielle und zeitliche Druck (in Lokalredaktionen) hat eher zugenommen. Viele aufwändige Recherchen gelingen nur, weil Kollegen ihre Freizeit dafür opfern und/oder weil die Redaktion Mehrarbeit übernimmt. Allerdings hat inzwischen eine Reihe von regionalen Medienhäusern eigene Reportage-Ressorts eingeführt. Dass sich diese Investition lohnt, zeigen die zahlreichen ausgezeichneten Geschichten.

Ich erlebe Kollegen, die mit Sachverstand glänzen, und andere durch Ignoranz, anbiedernde und arrogante, kluge und dumme, gut und schlecht vorbereitete. Aber das finden wir ja überall in unserer Gesellschaft. Warum sollten Journalisten bessere Menschen sein?

Das Argument  „Ich will Vorbild sein und die Demokratie voranbringen“ habe ich noch nie in den Profilanforderungen einer Stellenausschreibung gelesen. Wenn wir solche vorbildliche Journalisten wollen, müssen wir sie entsprechend ausbilden. Dann gehört das Fach „Demokratisches Bewusstsein“ in jeden Voloplan und jeden Studiengang.

Vielleicht ist Claas Relotius ein Beispiel dafür, wie eng Genie und Wahnsinn beieinander liegen. Relotius sagt von sich selbst, er sei krank. Aber: Ebenso krank ist das journalistische System, das einen solchen Betrug gefördert und möglich gemacht hat. Es sind Redaktionen, in denen nicht zuvorderst über Fakten diskutiert wird, sondern über die „Deutungshoheit“. In denen eine Kultur der journalistischen Arroganz gepflegt wird. Das ist eine Einladung zum Hochstapeln.

 

Der Film „Nebel im August“ ist nach dem Roman von Robert Domes entstanden. Die Hauptrollen spielen Sebastian Koch als „Euthanasie“-Arzt Veithausen und der junge Ivo Pietzcker als Ernst, der das mörderische Treiben in der „Euthanasie“-Klinik  durchschaut und selber zum Opfer wird. Foto: Anjeza Cikopano, ZDF

 

Besuch bei Buzzfeed: Katzenvideos und Investigativ-Recherche

Geschrieben am 29. Januar 2019 von Paul-Josef Raue.

Redaktion BuzzFeed Deutschland (von links): Chefredakteur Daniel Drepper, Grundrechte-Reporter Marcus Engert, Reporterin für Politik und sexualisierte Gewalt Pascale Müller, Reporterin für Feminismus Juliane Löffler, Reporter für Desinformation und Social News Karsten Schmehl. Foto: Stefan Beetz / BuzzFeed

„Ist das die Zukunft des Journalismus? Querfinanzierung über Katzenvideos und Kochbücher?“, fragt  Veronika Wulf in der Süddeutschen Zeitung nach einem Besuch in der Berliner Redaktion von  Buzzfeed. Drei Mitarbeiter arbeiten für die Reichweite (Tipps für Analsex, Quiz, Rezepte), vier Reporter betreiben investigative Recherchen (Kosten für den  Podcast von Kanzlerin Angela Merkel, Mobbing-Vorwürfe gegen Direktorin eines Max-Planck-Instituts). Chefredakteur Daniel Drepper will von anderen Medien zitiert werden, was ihm auch gelingt. Sein Motto: „Wilde Ideen ermutigen.“

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Medien, 29. Januar 2019

Journalistik-Professor: Wir brauchen Regeln und Gerichte für soziale Netze

Geschrieben am 10. April 2018 von Paul-Josef Raue.
Der Dortmunder Journalistik-Professor Tobias Gostomczyk (43)

Der Dortmunder Journalistik-Professor Tobias Gostomzyk (43). Privat-Foto / SZ

Was bedeutet „Öffentlichkeit“ im Netz? Wie unterscheidet sie sich von der „Öffentlichkeit“ in der analogen Welt? Der Dortmunder Journalistik-Professor Tobias Gostomzyk (43) empfiehlt in einem Gastkommentar für die Süddeutsche Zeitung neue Regeln für die neue digitale Welt und kritisiert: „Löschen reicht nicht. Wer die Hasskriminalität im Netz bekämpfen will, muss neue Wege gehen – die Bundesregierung setzt auf das falsche Gesetz“.

 

So war es in der analogen Welt (und ist es dort noch heute): Öffentlichkeit stellen die Massenmedien her, sie sind die Gatekeeper für die Meinungsbildung in der Demokratie; Gesetze verpflichten sie zu einer hohen Sorgfalt.

Für einfache Bürger gelten in der  alten Welt nicht diese hohen Sorgfalts-Forderungen, es gilt ein „Laienprivileg“, so der Journalistik-Professor: „Wenn sich ein Einzelner auf Informationen bezieht, die sich seinem Erfahrungs- und Kontrollbereich entziehen, gelten für ihn geringere Prüfpflichten als für Massenmedien. Es wird akzeptiert, dass jeder Einzelne nicht in jeder Situation jede Information prüfen kann. Er verbreitet seine Äußerungen aber auch nicht regelmäßig an Tausende Leser.“

In der analogen, der „Offline-Welt“ existieren getrennte Kommunikationsräume: Privat, teilöffentlicher Arbeitsplatz, öffentliche Veranstaltung. Im Netz verschwimmen diese Grenzen. Gostomzyk gibt beispielhaft ein Urteil des Landgerichts Saarbrücken wieder:

„Eine Frau schickte eine private Nachricht an den Facebook-Account von Til Schweiger. Er solle seiner Ankündigung Taten folgen lassen, im Falle von nennenswerten Wahlerfolgen der AfD aus Deutschland auszuwandern. Daraufhin machte Til Schweiger den Inhalt der Nachricht samt Klarnamen der Frau auf seiner Facebook-Seite öffentlich.“

Das sei zulässig „wegen des sogenannten Rechts auf Gegenschlag“, so urteilte das Gericht. Die Kritik des Wissenschaftlers: Es hat nicht berücksichtigt, dass Til Schweiger mehr als eine Million Abonnenten erreicht; es ignorierte den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit. „Im Netz steigt die Wahrscheinlichkeit, mit Äußerungen konfrontiert zu werden, denen man sich offline gut entziehen konnte.“

Das NetzDG (Netzwerkdurchsetzungsgesetz) will erreichen, dass Fake-News und Hass geprüft und schnell gelöscht werden. Aber nach welchen Regeln? Darum  müssten sich die Gerichte kümmern, aber sie werden  nur selten eingeschaltet: Es sei zu kostspielig, aufwendig und langwierig, um auf rechtsverletzende Posts zu reagieren. So entstünde kein Richter-Recht und folge keine Debatte über die Regeln in den sozialen Netzen.

Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus. Der Journalistik-Professor weist auf eine Lösung hin: Privat-öffentliche Cyber Courts. „Sie sollen nicht nur schnell und flexibel entscheiden, sondern auch anhand von Einzelfällen Kommunikationsstandards für das Netz herausbilden. Dabei gilt es, ein angemessenes Verständnis für die Besonderheiten der Netzkommunikation zugrunde zu legen – jenseits der bloßen Löschlogik des NetzDG.“

 

Verlagsmanagers Klage und Furcht: Journalisten wollen keine Veränderung

Geschrieben am 10. Januar 2018 von Paul-Josef Raue.

„Aber welcher Mensch ist schon lernfähig? Ich jedenfalls nicht“,

schreibt der Sportredakteur einer Regionalzeitung in einer Glosse. Er thematisiert allerdings  nicht die Unlust von Redakteuren, sich weiterzubilden, sondern fehlende dicke Socken. Beim Spanien-Trainingslager von Bundesliga-Fußballern „überrascht“ ihn ein Wintereinbruch – wie vor einem Jahr.

Die Lern-Unlust ihrer Redakteure beklagen die Verlagsmanager aus 29 Ländern laut einer Studie des „Reuters Institute for the Study of Journalism“ der Universität von Oxford. Egoismus und mangelnde Bereitschaft  zum Wandel seien die Gründe. Ein Verleger aus den USA:

„Dafür, dass so viel über Veränderung geredet wird, findet erstaunlich wenig Veränderung statt.“

Jeder dritte Manager sieht in der Unlust, Veränderungen zu akzeptieren, eine größere Gefahr als in der Machtpolitik von Google & Co.

Quelle: Süddeutsche Zeitung 10. Januar 2018

Wer wird Millionär? Auch für die Quiz-Fragen braucht man zwei seriöse Quellen

Geschrieben am 4. September 2017 von Paul-Josef Raue.
Das Logo von "Wer wird Millionär". Foto: RTL

Das Logo von „Wer wird Millionär“. Foto: RTL

Harald Valder denkt sich mit seiner Kölner Firma die Fragen für Quizshows wie „Wer wird Millionär?“ aus. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung erzählt er, dass es mindestens zwei seriöse Quellen braucht, um Frage und Antwort ins Quiz zu zu geben – wie bei Journalisten, die wichtige Fakten überprüfen. In fast 18 Jahren „Wer wird Millionär?“ stimmten vier Antworten nicht zu hundert Prozent stimmte. Valder:

Es geht dann wirklich um Feinheiten. Wir hatten mal eine Frage zum Nobelpreisträger Niels Bohr, der laut Wikipedia dänischer Fußballnationalspieler gewesen ist, und wir hatten noch ein paar andere Quellen, unter anderem ein Brockhaus-MultimediaLexikon.

Doch nach der Sendung meldete sich ein Fußballhistoriker, der belegen konnte, dass Niels Bohr zwar begeisterter Fußballer war und auch einem dänischen Team angehörte, das allerdings zu der Zeit noch nicht als offizielle dänische Nationalmannschaft auflief. Der Kandidat ist – wenn ich mich richtig erinnere – damals ausgestiegen, wurde noch einmal eingeladen und bekam eine neue 500000-Euro-Frage gestellt.

Quelle: SZ, 4. September 2017, Medienseite: „Zurückgefragt. Harald Valder verdient sein Geld mit dem Unwissen anderer.“

Ex-Verfassungsschützer: Verbot einer Internet-Seite bewirkt wenig

Geschrieben am 30. August 2017 von Paul-Josef Raue.
Pippi Langstrumpf ist ein beliebtes Motiv auf Seiten der Linksautonomen. Foto: BpB / Indymedia

Pippi Langstrumpf ist ein beliebtes Motiv auf Seiten der Linksautonomen. Foto: BpB / Indymedia

„Einige Touristen suchten das Weite“, schreibt die Badische Zeitung über die Demonstration gegen das Verbot der Internet-Plattform www.linksunten.indymedia.org („Wir sind zur Zeit offline…“). Die dreihundert Demonstranten zeigten Transparente wie „Pressefreiheit statt Polizeistaat“ oder „Kein Forum ist illegal“. Eine Sprecherin der „Soligruppe unabhängiger Medien in Freiburg“ bezeichnete laut Badischer Zeitung das Verbot als massiven Angriff auf die Pressefreiheit.

Haben die Polizisten bei der Durchsuchung im Freiburger Autonomen Kulturzentrum KTS wirklich Waffen gefunden? So berichteten dpa und andere im Anschluss an eine Pressekonferenz des Innenministeriums. Zweifel hegte die Netzpolitik-Redaktion: „Durchsuchungen wegen Linksunten: Doch keine Waffen bei Journalisten gefunden.“

Die Tagesschau-Faktenfinder recherchierten und erfuhren von einer Sprecherin des Bundesinnenministeriums: Die Waffenfunde sind Zufallsfunde im Zusammenhang mit dem Vollzug des Verbotes und spielen daher im Zusammenhang mit dem Verbot eine nachgeordnete Rolle. Unbeantwortet blieb eine Frage der Faktenfinder, warum diese „Zufallsfunde“ bei der Pressekonferenz am Freitag direkt zu Beginn erwähnt wurden.

Das Stuttgarter Landeskriminalamt hatte laut Netzpolitik-Redaktion bei der Pressekonferenz  Sprühdosen, Handschuhe, Schlagstöcke, Böller, vier Messer, vier Zwillen und ein Elektroschockgerät gezeigt.

Ein Verbot bewirkt wenig, meint der Politikwissenschaftler Rudolf von Hüllen, der zwanzig Jahre lang das Linksextremismus-Referat beim Verfassungsschutz geleitet hat. Auf einer Internet-Seite der Bundeszentrale schrieb er vor einigen Jahren: „Der Urheber auch strafbarer Inhalte kann sich über Domains im Ausland mit etwas Geschick wirksam vor Strafverfolgung schützen.“  Stimmt diese Einschätzung wäre das Verbot durch den Innenminister eher ein symbolischer Akt.

Von Hüllen vergleicht das deutsche Indymedia mit der vom Innenminister verbotenen Abspaltung www.linksunten.indymedia.org:

  • Bei Indymedia kann jeder Beiträge einstellen. Moderatoren achten darauf, dass „hierarchische, etablierte oder kommerzielle Gruppierungen“ den Auftritt nicht nutzen ebenso dass „sexistische, rassistische, faschistische u./o. antisemitische Beiträge jeder Art“ nicht gepostet werden; Abgrenzung gegen Gewalt fehlt.
  • „linksunten.Indymedia“ präsentiert laut von Hüllen linksextreme Menschenverachtung in offener Form mit Fotos, Hinweisen zu Beruf und Adresse von „Nazi-Schweinen“ sowie Hinweisen, was man bei einem Anschlag vor Ort beachten sollte.

In meiner Kolumne JOURNALISMUS! surfe ich durch die Online-Seiten der „Bundeszentrale für politische Bildung“, einer Behörde des Bundesinnenministeriums und entdecke dabei auch das Bild von  Pippi Langstrumpf, das Linksautonome gerne auf ihren Seiten zeigen.

Mit ihrer Lebensweise entspricht Pippi Langstrumpf linksautonomen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben ohne Regeln, ohne Staat und ohne Hierarchien,

schreibt Udo Baron aus dem niedersächsischen Innenministerium.

Vor gut zwanzig Jahren informierten sich Linksautonome vor allem über Zeitschriften wie die in Berlin herausgegebenen „Interim“ oder „radikal“, in denen laut Baron auch mal eine Anleitung zum Bau von Brandsätzen stand;  beide hatten eine geschätzte Auflage von je etwa 2000 und erschienen offenbar nicht mehr.

Online ersetzt mittlerweile das Papier. Das habe aus Sicht der Extremen einige Vorteile, meint Rudolf von Hüllen: Flächendeckend zugänglich, kostengünstig, in doppelter Hinsicht anonym, da weder Betreiber noch Nutzer kaum erkennbar sind. Von Hüllen:

Für Linksextremisten, die mit Fragen des ‚ideologischen Kampfes‘ vertraut sind, ist das Internet im Kampf um die Hegemonie in den Köpfen heute mindestens so bedeutend wie die Straße.

Vor sechs Jahren beschäftigte sich Marie-Isabel Kane in ihrem Buch „Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland“, herausgegeben von der Bundeszentrale, schon mit dem Wechsel vom Papier zum Netz. Noch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hatten Zeitschriften eine wichtige Integrationsfunktion in der zersplitterten autonomen Szene. Sie wurden beobachtet und tauchten regelmäßig in Verfassungsschutz-Berichten auf, wurden beschlagnahmt und verboten.

Was der Innenminister mit dem Verbot der Internet-Seite aktuell verfügt, steht also in der Tradition der Verbote von Zeitschriften in der Vergangenheit. Kane warnte damals  schon vor den Internetforen, die „keine Grenzen“ markierten.

Indymedia – Abkürzung für unabhängige Medien (Independent media) – ist ein Kind der Proteste gegen die G20-Gipfel, entstanden 1999  in Seattle, als sich 700 NGOs in 87 Ländern zusammenschlossen, wie Rainer Winter berichtet, der an der Universität in Klagenfurt Medien- und Kulturtheorie lehrt. Die Überschrift seines Artikels: „Das Erfolgsrezept: Lokal verankert, global und digital vernetzt.“

Für Professor Axel Bruns ist die Strategie der Linksextremen ein Indiz für den „Journalismus im Umbruch.“ Für den Wissenschaftler, der in Australien über Online-Journalismus forscht, zeigen Phänomene wie Indymedia einen grundlegenden Wandel in unserem Umgang mit Informationen:

Die traditionellen Massenmedien waren (und sind vielfach immer noch) industriell organisiert: Die Produktion und Verbreitung von Inhalten benötigt technische Hilfsmittel und spezialisiertes Personal und kann daher nur von entsprechend ausgerüsteten Verlagen und Sendern unternommen werden. Im Internet gelten diese Regeln dagegen nur noch sehr begrenzt: sind die Plattformen erst einmal verfügbar, ist das Erstellen und Verbreiten von Inhalten eine Aktivität, an der auch ganz normale Nutzer erfolgreich teilnehmen können. Die Trennlinien zwischen Nutzern und Produzenten von Inhalten verblassen, und es entwickelt sich ein Hybrid: ein ‚productive user‘ bzw. produktiver Nutzer, den ich als ,produser‚ bezeichnet habe – auf Deutsch ‚Produtzer‘, und wenn das ein wenig nach ‚Revoluzzer‘ klingt, ist das schon ganz richtig.

Der Soziologie-Professor Dieter Rucht weist auf ein Dilemma der Medien hin, wenn sie über Proteste berichten:

Protestgruppen und soziale Bewegungen erzeugen den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit über die Medien. Damit ist auch ihre Wirkung abhängig von medienwirksamen Inszenierungen und sie unternehmen große Anstrengungen, um medial sichtbar zu werden und zu bleiben.

Für ihn haben die Gruppen, die Indymedia weltweit nutzen, „inzwischen aber wohl ihren Zenit überschritten“. Kommt der Innenminister also zu spät?

Was bedeutet der Generalbegriff „Linksextremismus“ überhaupt? Wer erfand und fördert ihn? Welche Milieus verbergen sich dahinter? Vor dem G20 in Hamburg veranstaltete die Bundeszentrale eine Tagung zu „Linksextremismus und linke Militanz – Phänomene, Kontroversen und Prävention“, bei der Experten schon unüberhörbar vor der Gewalt während des Gipfels warnten.

Professor Hans-Gerd Jaschke von der „Hochschule für Wirtschaft und Recht“ empfahl, schon in der Wortwahl zu differenzieren und statt „Linksextremismus“ lieber einzelne Milieus zu analysieren und zu beschreiben. In der Debatte zum Jaschke-Vortrag wurde – laut Tagungsdokumentation – beklagt: Der Begriff Linksextremismus sei aus dem Umfeld der Sicherheitsbehörden heraus entstanden und habe keine soziale Entsprechung; gerade daher sei ein sensibler Umgang mit Internetforen wie Indymedia unbedingt nötig. In der Tat: „Ein sensibler Umgang“.

 

Interne Spiegel-Kritik: Wir müssen raus aus der Komfortzone der Redaktion?

Geschrieben am 7. August 2017 von Paul-Josef Raue.
Barbara Hans, Jahrgang 1981, ist Chefredakteurin von Spiegel Online. Foto: Iris-Carstensen / Spiegel

Barbara Hans, Jahrgang 1981, ist Chefredakteurin von Spiegel Online. Foto: Iris-Carstenseniegel/Spiegel

Mittelalte, weiße Männer, gutverdienende Akademiker definieren und prägen die journalistische Realität und damit unsere Weltsicht. Was sie am besten kennen, das sind andere mittelalte, weiße Männer, mit Abitur und schicker Altbauwohnung. Was sie weniger gut kennen, das ist das Leben als Arbeiter in Herne Crange. Oder das Leben als lesbische junge Frau.

Spiegel-Online-Chefin Barbara Hans in einem Interview mit dem journalist (8/2017)  – vielleicht an ihre Chefredakteure denkend? Sie fordert:

Wir müssen dahin, wo es weh tut. Raus aus der redaktionellen Komfortzone. Wir können nicht alles so lassen und hoffen, dass einige wenige Neueinstellungen zum Wandel führen werden.

Ist oder war der Spiegel nicht dafür bekannt, dass er zu den Rändern der Gesellschaft ging? Dass er sich Autoren leistete, als Storytelling noch ein unbekannter Anglizismus war? Was hat sich verändert?

Wir müssen Dinge für möglich halten, auch wenn wir sie für falsch halten. Und die Frage, was wir für richtig und was wir für falsch halten, sollte nicht unser Leitmotiv sein.

Das ist ein guter journalistischer Standpunkt. Aber passt er auch auf den Spiegel? Ist er nicht zur Institution aufgestiegen, weil er eine Meinung hatte, eine Haltung, wie es heute heißt? Oder haben sich die Leser gewandelt, die nicht mehr eine Haltung erwarten, sondern ein Pro&Kontra, also die Breite der Meinungen?

 

Wie Gruner+Jahr den Hilferuf von Facebook diskutierte, Fake-News zu entdecken

Geschrieben am 27. Mai 2017 von Paul-Josef Raue.
Frank Thomsen, Kommunikationschef von Gruner+Jahr, beim European Newspaper Congress 2017 in Wien. Foto: ENC/APA

Frank Thomsen, Kommunikationschef von Gruner+Jahr, beim European Newspaper Congress 2017 in Wien. Foto: ENC/APA

Facebook war lange erhaben, wenn nicht gar überheblich: Wir sind gut! Wir sind die Besten! Wir sind weltumspannend! Fake-News, Mord-Videos und der ständige Hass haben Facebook nicht aufgerüttelt. Doch mittlerweile ist die Empörung so groß, dass sie auch Facebook nicht mehr ignorieren kann. Justizminister Maas und der Bundestag planen ein Gesetz gegen das Verbreiten von Fake-News, das Strafen bis zu 50 Millionen Euro androht.

Facebooks Ignoranz gegenüber Hass, Gewalt und Fälschungen liefert Politikern den Vorwand, in die Freiheit der Meinung einzugreifen: Ehrenschutz vor Meinungsfreiheit. Solch ein Gesetz wird das Verfassungsgericht nicht überzeugen können, aber bis ein Urteil gesprochen wird, kann es Monate, wenn nicht Jahre dauern.

Wir sind nervös, Manager in den Verlagen, Journalisten und Politiker  – und Facebook auch, hilflos zudem: Was passiert, wenn das Vertrauen der Menschen platzt? Das ist der GAU für Nachrichten-Medien.

Da lohnt ein Blick auf die Folgen des Facebook-Angebots, Verlage einzubinden in die journalistische Suche nach Fälschungen. Am weitesten ist Gruner+Jahr: Julia Jäkel, CEO und Ex-Journalistin, lehnte das Angebot nicht rundweg ab wie die meisten deutschen Verlage; sie ließ es von Chefredakteuren und Managern wochenlang diskutieren. Wie lief die interne Debatte ab?

G+J-Kommunikationschef Frank Thomsen berichtete davon bei einer Podiumsdiskussion während des European Newspaper Congress in Wien:

  • Das Hauptargument dafür lautete: Kommt ein Unternehmen in große Schwierigkeiten, dann sollten wir den Hilferuf ernst nehmen – erst recht wenn es um etwas geht, das Journalisten können.
  • Das erste Gegenargument: Journalisten wissen, wie schwer es ist, wahr und unwahr zu scheiden.
  • Das zweite Gegenargument: Recherche ist Kernarbeit von Journalisten, ist aufwändig – und die gibt es nicht kostenlos.

Sie verhandelten nicht, sie sprachen, weil sie nicht miteinander sprachen, nicht über Geld. Will Facebook alles gratis bekommen? „Wenn hinter der Anfrage von Facebook kein Geschäftsmodell steht, heißt die Antwort sowieso schon einmal Nein“, erläuterte  Thomsen das Ergebnis. Facebook, das Kommunikation-Unternehmen, blieb verschlossen.  „Du konntest nur Ja oder Nein sagen“, so Thomsen.

Mittlerweile laufen aber, so Thomsen  wieder Gespräche.

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Mehr auf kress.de: ENC-Rückschau: „Enteignet  Facebook hätten die Achtundsechziger gefordert

 

 

Spiegel Daily: Wenig Neues, aber erfreulich preiswert

Geschrieben am 26. Mai 2017 von Paul-Josef Raue.
Raue während des Interviews von Daniel Bouhs in Wien.

Raue während des Interviews von Daniel Bouhs in Wien.

Daniel Bouhs schreibt auf Zapp/NDR:

Blattmacher geben Spiegel Daily kaum eine Chance /  Skeptisch: Paul-Josef Raue.

Etablierte Zeitungsmacher bleiben angesichts der neuen Konkurrenz von Spiegel Daily erstaunlich gelassen. „Ich gebe Daily nicht lange – sie kommen zu spät und haben wenig Neues darin“, sagt etwa der einstige Chefredakteur von Braunschweiger Zeitung und Thüringer Allgemeinen, Paul-Josef Raue, in einer ZAPP-Umfrage auf dem Europäischen Zeitungskongress in Wien, bei dem die Daily-Macher wiederum nicht vertreten waren. Raue, der inzwischen Verlage berät, vermutet: „Journalistisch wird da nicht viel passieren.“

Keine Angst: Michael Bröcker – „Nicht wirklich überzeugend“

Auch der Chefredakteur der Rheinischen Post, Michael Bröcker, äußerte sich äußerst skeptisch über die Zukunft der Digitalzeitung, die das Nachrichtenmagazin seit Mitte Mai werktags pünktlich um 17 Uhr veröffentlicht. „Eine Abendzeitung? Da gibt es viele Ideen von anderen Verlagen, die das ‚Best-of‘ des Tages noch mal anbieten, die [aber] alle nicht wirklich überzeugend funktionieren.“ Seine Redaktion wolle vielmehr auf Podcasts, also Audioangebote, für Pendler setzen. „Wir schauen uns das mit Neugier an und arbeiten weiter an unseren Modellen. Angst haben wir nicht“, sagte Bröcker.

Auch die Chefredaktion von Bild ist nicht vom Tageszeitungsmodell des Spiegel überzeugt. Julian Reichelt sagte ZAPP zwar, er halte das Projekt inhaltlich in weiten Teilen für gelungen, er glaube aber auch, dass „ein fester Erscheinungszeitpunkt für ein digitales Produkt ein sehr gewagtes Projekt ist“. Reichelt wünschte den Daily-Machern allerdings auch „viel Erfolg“, denn: „Diese Mentalität, dass für Journalismus wieder bezahlt werden muss, ist etwas, was wir zwingend in unserem Beruf und unserer Branche brauchen.“

„Nötiger Preisdruck“

Verlagsberater Raue prognostizierte allerdings auch, der Spiegel werde mit seinem täglichen Ableger, der deutlich unter zehn Euro im Monat kostet, „andere in die Bredouille bringen“ – und das sei sogar gut:

Das, was bei den Verlagen online passiert, ist zu teuer. Man versteht nicht, warum man 30, 40 Euro im Monat bezahlen muss, um etwas Digitales zu sehen.

Die Tageszeitung des Spiegel  könne hier für den nötigen Preisdruck sorgen.

 

Warum vertraut ein Facebook-Nutzer einer Nachricht?

Geschrieben am 10. April 2017 von Paul-Josef Raue.
Dieter Golombek suchte die herausragenden Beiträge für das Journalisten-Jahrbuch heraus. Er war über drei Jahrzehnte Jury-Vorsitzender des Deutschen-Lokaljournalisten-Preises. Foto: KAS

Dieter Golombek sucht die herausragenden Beiträge für das Journalisten-Jahrbuch heraus. Er war über drei Jahrzehnte Jury-Vorsitzender des Deutschen-Lokaljournalisten-Preises. Foto: KAS

Die Frage, warum ein Facebook-Nutzer einer Nachricht vertraut, stellte das Nieman-Lab und gab als Antwort das Ergebnis einer Studie wieder, die für Journalisten niederschmetternd sein dürfte: Nicht der Autor, nicht die Quelle – also Magazin oder Zeitung -, sondern der „Freund“, der die Nachrichten weitergeleitet hat, ist der entscheidende Vertrauens-Faktor. In dem Experiment konnten sich nur zwei von zehn Facebookern überhaupt an die Quelle der Nachricht erinnern.

Die Wissenschaftler, die die Studie auswerteten, geben Facebook und anderen sozialen Netzwerken den Rat: Ihr könnt mehr tun, um die Quelle herauszustellen; Ihr müsst Informationen über die ursprünglichen Quellen liefern!

Wenn man sieht, wie sich „Fake news“ auf soziale Medien ausbreiten, bestätigt dieses Experiment nach Meinung der Forscher:

Die Menschen unterscheiden kaum zwischen bekannten und unbekannten, ja sogar erfundenen Quellen, wenn es darum geht, Nachrichten zu vertrauen und zu teilen. Sogar 19 Prozent der Leute, die unsere fiktive Nachrichtenquelle gesehen haben, wären bereit gewesen, die Nachricht einem Freund zu empfehlen.

Um die Kernfrage des Journalismus geht es auch in zwei herausragenden Artikeln des „Jahrbuch für Journalisten 2017“, erschienen im Oberauer-Verlag: Wohin steuert der Journalismus? Ein wenig verzweifelter könnten wir auch fragen: Wohin treibt er?

Mathias Müller von Blumencron, Digital-Chefredakteur der FAZ schreibt in „Verschlingt Facebook des Journalismus“ über die „medialen Drogen einer im  tiefsten Inneren verunsicherten Gesellschaft“:

„Bei Buzzfeed und ähnlichen Angeboten geht es primär nicht um Neuigkeiten, Nützliches oder Unterhaltsames. Es geht um die Selbstvergewisserung der Nutzer.“ Die Plattformen spielen einen Dreiklang: Sie verbinden Menschen zuerst mit sich selbst, dann mit den engsten Freunden und schließlich mit ihrer Subkultur. Die Gesellschaft und ihre Themen spielen kaum eine Rolle.

Facebook wird für viele zur ersten Nachrichtenquelle: „So wird Subjektivität verobjektiviert“, schreibt Blumencron. Was in den sozialen Netzwerken am meisten gelesen wird, hat nur noch wenig mit den Nachrichten gemein, die man in der alten Welt Nachrichten nannte – also all das, was die Welt bewegt.

Hier liegt die weitreichendste gesellschaftliche Folge der sozialen Netzwerke: Ihr Tun dient nicht primär der Welterkenntnis, sondern der Selbsterkenntnis.

Mathias Müller von Blumencron zitiert Mat Yarow, Direktor einer Abteilung für „Audience Development“ bei der New York Times, die unzählige Artikel direkt für Facebook oder Snapchat produziert mit dem Ziel: „Das System fluten und dann Facebook den Job machen lassen.“ Geld sei damit nur wenig zu verdienen, aber die Hoffnung bleibe, dass die Facebooker am Ende doch auf den Seiten der Zeitung landen. „Aber es bedeutet auch, die Ego-Maschinen weiter zu füttern“, schreibt Blumencron, „und das Informationsgefüge der Gesellschaft zu verändern.“

„Es gibt Momente, da wünsche ich mir, das Internet sei nie erfunden worden“, schreibt Zeit Online-Chef Jochen Wegner den Lesern seiner Wochenzeitung. Der zweite Lesetipp aus dem Jahrbuch gilt keinem Trend, sondern dem alltäglichen Wahnsinn mit der Online-Aktualität. „Das paradoxe Leben der Livemedien“, nennt Wegner seinen Artikel, in dem er fragt: Wie soll eine Online-Redaktion aktuell berichten, etwa bei einem Terror-Attentat, ohne solide, gut recherchierte Informationen zu besitzen?

Onlinejournalismus scheint inzwischen aus einem steten Strom von großen Lagen zu bestehen, in deren Zwischenräume wir noch etwas gute, alte Normalität füllen.

So fragt Wegner nach zehn Tagen 2016 mit vier Ereignissen, die jede Redaktion und vor allem die Bürger überforderten: Amoklauf in München; Axt-Attentat in Würzburg; Terror in Nizza und Putsch in der Türkei.  Die Zeit hat für solche „Lagen“, so ein dem Polizei-Jargon entliehener Begriff, eine Routine entwickelt: Ein Krisenteam in eigens eingerichteten Chatgruppen startet einen Liveblog und  recherchiert mit Korrespondenten und Reportern.

Solche Lagen sind also wie gemacht für Online-Redaktionen, die auf keinen Druckplan Rücksicht nehmen müssen. Nur – „diese Freiheit kann sich gegen sie wenden, und auf jedes Großereignis folgt verlässlich Kritik an der laufenden Berichterstattung.“ Wegner nennt fünf Paradoxien, mit denen eine Online-Redaktion  „schuldlos schuldig“ wird:

  1. Wir können nicht nicht kommunizieren.
  2. Wir sind Teil des Rauschens, das wir bekämpfen.
  3. Wir spielen mit bei einer Inszenierung, die wir durchschauen.
  4. Es ging uns so gut, es war noch nie so dramatisch.
  5. Unsere eigene Medienkritik denken wir bereits mit.

Im Jahrbuch diskutiert Wegner diese Paradoxien ausführlich und endet mit der Folgerung, die seine Redaktion aus vielen internen und öffentlichen Diskussionen gezogen hat: „In einigen Wochen werden wir damit beginnen, unsere Diskussionen und Fehler an zentraler Stelle zu dokumentieren.“

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