Alle Artikel mit dem Schlagwort " Anglizismen"

Anglizismen ohne Not: „Timeline“ und „Paywall“

Geschrieben am 14. November 2017 von Paul-Josef Raue.
Marietta Slomka ist Moderatorin des "Heute Journal". Foto: ZDF

Marietta Slomka ist Moderatorin des „Heute Journal“. Foto: ZDF

Marietta Slomka, Moderatorin des „Heute-Journal“, bewirbt die renovierte „ZDFheute-App“: Sie komme daher in Form einer „Timeline“; so wirbt der Sender auch auf seiner Internet-Seite.  Der Anglizismus ist überflüssig: Es gibt ausreichend Wörter unserer Sprache, die auch junge Leute verstehen und mögen: Zeitleiste, Zeitstrahl oder Chronik.

Journalisten, die unsere Sprache prägen, nutzen gerne und vorschnell Begriffe aus dem amerikanischen Wörterbuch. Der Medien-Professor Stephan Ruß-Mohl moniert im „Tagesspiegel“ das „Wortungeheuer Paywall“ und stellt klar, dass sich Journalisten damit selber schaden:

Wer in einer offenen Gesellschaft Mauern baut, ist ein Finsterling. Das galt zumindest im Zeitalter vor Donald Trump. Nur ist halt bisher niemand auf die Idee gekommen, die Ladentheke beim Bäcker oder die Kasse im Supermarkt als Mauer oder Bezahlschranke zu beschreiben. Die Paywall diskreditiert als Wortschöpfung bereits das Anliegen, dass geistige, sprich: journalistische Leistung ihren Preis haben sollte.

Wieviel Spielerei verträgt eine Überschrift?

Geschrieben am 30. August 2016 von Paul-Josef Raue.
Panorama-Seite der Süddeutschen Zeitung vom 30. August 2016

Panorama-Seite der Süddeutschen Zeitung vom 30. August 2016

Wanne heikel

Überschriften sollen den Leser informieren und so klar machen, ob die Lektüre des Artikels für ihn lohnt. Überschriften sollen auch locken – mit raffinierter Sprache und kleinen Spielereien. Aber die Reihenfolge muss stimmen: Erst die Information, dann die feuilletonistischen Reize.

Wer weiß, wie Leser lesen – zuerst das Bild, dann die Überschrift -, wer also die Anziehung eines Bildes kennt, kann die Kraft des Bildes auch nutzen und in der Überschrift spielen – wie die Süddeutsche Zeitung heute auf der Panorama-, der vermischten Seite:

„Wanne heikel“ spielt auf die teure Badewanne des ehemaligen Limburger Bischofs Tebartz-von-Elst an und nimmt kalauernd den Städtenamen Wanne-Eickel auf. Gab es zuvor mal die Überschrift: Wanne eitel?

Christian Lindner, Chefredakteur der Koblenzer Rhein-Zeitung,  hat sogar eine „Hall of Fame der „#rzHeadlines“ auf Twitter eingerichtet, aktuell ist er bei Folge 1273:

„Lochte geht baden“ = Zeile auf Sport zur Abkehr der Sponsoren von US-Schwimmer Ryan Lochte.

Weitere Koblenzer Hall-of-Fame-Kandidaten aus jüngerer Zeit:

  • „Deutsche finden Anglizismen eher uncool“ | Zeile auf Panorama zu Sprach-Umfrage
  • „Wir wollen doch nur spielen“ | Zeile auf Wirtschaft zur Gamescom
  • „Früher waren mehr BHs“ | Zeile auf Kultur extra über den Wandel bei  NatureOne
  • „Deutsch, deutscher, Dackel“ | Zeile auf Panorama zur Dackelschau des Deutschen Teckelclubs
  • „Wo man den Wald vor lauter Bäumen sieht “ | Zeile im Reiseteil zu Überblick über Baumwipfelpfade
  • „Erdogan im Ausnahmezustand“ | Zeile auf Tagesthema
  • „Lochte geht baden“ | Zeile auf Sport zur Abkehr der Sponsoren von US-Schwimmer Ryan Lochte
  • Und ein Blick nach nebenan: Goldverdächtige Schlagzeile der Bild  zur pro-russischen IOC-Entscheidung im Sinne Thomas Bachs: „So geht Olympia den Bach runter“.

Auf der Panorama-Seite zitiert die SZ heute (30. August 16) die Überschrift einer nicht genannten Lokalzeitung, die über den Bericht zu einer 68-köpfigen Gänse-Schar schrieb, die alle vom Blitz getroffen stürzten:

Das Schlaraffenland liegt in Niedersachsen – Gänse fielen gegrillt vom Himmel

 

#niceAttacks – „Nice“ ist Nizza und nett (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Die FAZ am 16. Juli 2016 nach dem Anschlag in Nizza

Die FAZ am 16. Juli 2016 nach dem Anschlag in Nizza

„Nice“ ist nett, ist ein schönes englisches Wort, das viele kennen, auch wenn sie nur Bruchstücke des Englischen verstehen. „Nice“ ist aber auch das englische Wort für Nizza, die seit dieser Woche die Stadt des Terrors ist, die Stadt der fast hundert Menschen, die starben, als ein Lastwagen in die Menge gerast ist.

Bei Twitter lautet der Hashtag, also das Stichwort für den Terror in Nizza: #niceAttacks. Das kann man als Nizza-Anschlag lesen oder auch als netten Anschlag. Magdalena Taube (piqer) schreibt dazu:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, geht’s noch? Ja, ja. Nice ist die englischsprachige Variante von Nizza. Aber, was viele nun in all der Hektik lesen ist: „nett“. Das wertet die Aktion vielleicht zwingendermaßen auf. Doch es überhöht sie auf schrille Weise. Ist das nicht etwas zu viel des hochwertigen Sauerstoffs für Terror?

Tweet des Schweizers Ralph Lehner@RalphLehner

Die Verwendung des englischen Hashtags #NiceAttack ist in meinen Augen mehr als unglücklich…

Manfred Ruch antwortet:

Blickwinkel ändern

Und Ralph Lehner darauf:

Gut, ja, aus Sicht des Attentäters passts. Aber den Blickwinkel sollte keiner einnehmen…

Wie EM-Reporter die deutsche Sprache verhunzen: Ein Fall für die „medizinische Abteilung“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 4. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Die Moderatoren-Stars bei der EM 2016: Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl, ausgezeichnet mit dem Deutschen Fernsehpreis. (Foto: ARD)

Die Moderatoren-Stars bei der EM 2016: Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl, ausgezeichnet mit dem Deutschen Fernsehpreis. (Foto: ARD)

Seit drei Wochen schleichen Fußballer vom Rasen – mit „muskulären Problemen“. So näseln TV-Moderatoren, so äffen es Zeitungsreporter nach. Sogar Nachrichtenredakteure beugen sich: Mario Gomez, so schreibt die FAZ heute, war „mit muskulären Problemen vom Platz gehumpelt“.

Schleicht Euch!, möchte man den Journalisten zurufen, die solch einen Unsinn reden und schreiben. Das deutsche Wort für Adjektiv heißt „Eigenschaftswort“: Also ist „muskulär“ die Eigenschaft des Problems? Nein, das Problem hat keine Muskeln, aber die Muskeln haben ein Problem.

Problematische Muskeln wäre richtig, aber schräg. Adjektive sind die am meisten überschätzte Wortart: Auf sie in neun von zehn  Fällen zu verzichten, ehrt den Journalisten. Als Alternative bietet sich fast immer das zusammengesetzte Substantiv an – ein Vorzug der deutschen Sprache im Vergleich zu den meisten anderen.

Aber in der Begeisterung, alles, auch Unsinn, aus der englischen Sprache zu nehmen, zertrümmern wir unsere Substantive: „Muscular problems“ sagt der englische Reporter, wenn einer der Stars dahinhumpelt. „Muskelprobleme“ ist das deutsche Wort, ohne Adjektiv, dafür sofort verständlich.

Im Kuppeln von Substantiven ist die deutsche Sprache der englischen überlegen. „In Fahrtrichtung rechts“, sagt der Schaffner im Zug, damit wir die richtige Tür wählen. „In the direction of travel“, wiederholt er: Drei Wörter statt einem.

Und wer kümmert sich um die Muskelprobleme? Der Arzt? Nein, die „medizinische Abteilung“, weiß der TV-Reporter. Schleicht Euch!

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Quelle: FAZ 4. Juli 2016 („Deutschland im Halbfinale ohne Khedira“)

Formidabel! Wie wir in unserer Sprache Wörter verwandeln (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 27. September 2015 von Paul-Josef Raue.

Wer über die Einwanderung von amerikanischen Wörtern stöhnt, sucht gerne Trost bei unseren Klassikern. Goethe kam zwar nur bis Italien, aber er schwärmte von der neuen Welt:

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.

Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.

Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Doch war die Sprache in Goethes Zeit nicht geprägt von Anglizismen, sondern von französischen Wörtern. Goethe kommt selten ohne ein französisches Wort daher. Am 14. November 1776 lästert er über das „Flick- und Lappenwerk“ eines Autors, möchte diesem einen Streich spielen und schreibt an Schiller:

Wenn der Spaß Ihren Beifall hat, so führe ich ihn aus; er ist, wie mich dünkt, sans replique.

Wie leicht hätte Goethe einen deutschen Begriff finden können: Ohne Widerrede! In Goethes Brief taucht auch das französische Wort „formidabel“ auf, mit dem sich ein Leser in Erfurt beschäftigt. Er las in seiner Zeitung vom Lutherjahr 2017 als „formidablem Jubiläum“ und fragt:

Hat der Autor den aus „dem Lateinischen entlehnten Begriff, der ,schrecklich‘ bedeutet, vielleicht im falschen Sinnzusammenhang oder als Beispiel ,klassischer Wortwahl‘ verwendet“?

Wörter verwandeln sich gerne, wenn sie nur weit genug von der Quelle entfernt sind. Dem Lateinischen, der Priester- und Fürstensprache des Mittelalters, verdanken wir viele Wörter, einige kamen aber erst über die französische in die deutsche Sprache.

„Formidare“ nutzte Caesar, der Feldherr, wenn er von besonders großem Schrecken berichtete. Die lateinische Bedeutung hielten die Franzosen und nutzen „formidable“ für alles, was grausig und schrecklich ist. Wir übernehmen in die deutsche Sprache fremde Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn – um sie dann gerne  zu verwandeln.Erst im späten 17. Jahrhundert wanderte „formidabel“ in unsere Sprache ein. In der „Herrschaft der Männer“, einem Buch von 1705, lesen wir:

In den Moluccischen Inseln haben sich die Weiber so formidabel gemacht, dass sie das recht absolut im Hause zu befehlen haben.

Moluccische Inseln sind offenbar die Falkland-Inseln vor Argentinien.

In Carl Lucaes „Europäischen Helicon“ von 1711 ist von einem Lehrer zu lesen:

Ehemals docierte ein solcher Schmeisser in einer Schule von mönströser Gestalt und war den Knaben höchst formidabel.

„Formidabel“ gebrauchte der preußische Generalfeldmarschall Blücher 1813 noch im alten lateinischen Sinne: „Die Armee war sehr formidabel“, als Goethe schon den Sinn in „beeindruckend“ verwandelt hatte. Der Autor eines Buchs will sich „seinem eigenem Helden formidabel machen“, schreibt er Schiller im Weimarer Herbst 1776.

Preußens berühmtester Gärtner war der Weltreisende Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau; er schrieb 1834 in seiner „Landschaftsgärtnerei“:

Man baut in formidablem Bogen über das bescheidene Wässerchen eine Riesenbrücke.

Da hatte sich formidabel als „beeindruckend“ durchgesetzt. Im Goetheschen Sinn nutzen wir „formidabel“ noch heute; wer es im alten lateinischen Sinne verwendete, würde missverstanden.. Der Schrecken ist längst verschwunden.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. September 2015 (hier in erweiterter Fassung)

Sternstunden der deutschen Sprache: Schreib und sprich, dass dich die Menschen verstehen!

Geschrieben am 10. August 2015 von Paul-Josef Raue.

„Faruuazzit“ heißt verflucht, „tuncli“ die Dunkelheit, „samftmoat“ sanftmütig und „friuntscaffi“ die Freundschaft. So steht es im ersten Wörterbuch der deutschen Sprache mit dem Titel „Abrogans“. Das lateinische Wort für „demütig“ ist das erste Wort im Buch und gab ihm den Titel.

Wir verstehen kaum die ersten deutschen Wörter, die wir althochdeutsch nennen, aber sie haben einen Wert bis in unsere Zeit hinein: Sie übersetzen eine Sprache, die nur wenige verstehen, in eine Sprache, die alle verstehen. Das Lateinische war im achten Jahrhundert, als Mönche aus Freising das Wörterbuch schrieben, die Sprache der Mächtigen und der Priester.

Was Mönchen vor vielen Jahrhunderten gelang, ist auch heute – erst recht in unserer Demokratie – eine Aufgabe von Wert: Schreib so und sprich so, dass dich die Menschen verstehen! Nicht die Kirche ist noch der Verursacher der Unverständlichkeit, sondern alle, die ihren Jargon sprechen, um ihre Absichten zu verschleiern oder sich abzugrenzen oder einfach – wie die Liebhaber der Anglizismen – modern zu wirken.

„Abrogans“ zählt zu den Sternstunden deutscher Sprache, ist eine von 107, die in dem Buch „Edelsteine“ beschrieben werden: Von den Merseburger Zaubersprüchen über Luthers Übersetzung der Bibel und Bachs „Matthäus-Passion“ zu Kants „Was ist Aufklärung?“ und Goethes „Faust“.

Wie oft ist die Gegenwart zu nah, um schon ein klares Urteil zu fassen. Dennoch ist die Auswahl der „Sternstunden“ zeitgenössischer Texte sinnvoll: Das Grundgesetz beispielsweise oder Erwin Strittmatters „Notstandsliebe aus der Zeit der Bomben“, die Micky-Maus-Übersetzungen von Erika Fuchs („dem Ingenör ist nichts zu schwör“), aber auch die Herbert Zimmermanns Reportage vom WM-Endspiel in Bern 1954 – auch oder gerade weil der Kommentator in den letzten Minuten komplett die Fassung verlor: „Logik, Grammatik und Aussprache gingen ganz eigene Wege, die aber genau den irrationalen Windungen folgten, in denen sich die Gefühle der Zuhörer bewegten.“ Ergänzt sei: Man muss es hören, nicht lesen.

Andere „Sternstunden“ sind historische, aber keine sprachlichen – wie  der Beipack-Zettel zur ersten Antibaby-Pille in Deutschland: Zwar „eine Revolution der Sozialgeschichte“, aber wegen der ungelenk formulierten Lüge auf dem Zettel keine Sternstunde der Sprache ebenso wenig wie der „2+4-Vertrag“; die Präambel besteht aus einem Satz mit über 400 Wörtern, „der das Verständnis mehr erschwert als fördert“.

So wird, ähnlich wie mit Gaucks Rede auf der Westerplatte 2014, der Sprachliebhaber zum Historiker: „Wie wichtig diese Worte sind“, begründet Walter Krämer die Wahl der Gauck-Rede. Aber da schreiben sie schon ein anderes Buch, das mit der Sprache nur am Rande zu tun hat.

Max Behland, Walter Krämer, Reiner Pogarell (Hg): Edelsteine – 107 Sternstunden deutscher Sprache. IFB-Verlag, 672 Seiten, 25 Euro

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter,  10. August 2015, erweiterte Fassung

Wolf Schneider: Wie werde ich ein Sprach-Liebhaber? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 9. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Den schönsten Heiratsantrag der Literatur schrieb Wilhelm Busch, und Wolf Schneider, der Meister der deutschen Sprache, zitiert ihn als Vorbild in seinen Memoiren:

Mädchen, sprach er, sagt mir, ob…
Und sie lächelt: Ja, Herr Knopp.

Wie alt kann einer werden, der die deutsche Sprache liebt? 90 Jahre und noch mehr – dabei jung im Kopf und immer noch auf den Beinen, wenn auch mühsamer als zuvor. Wer eine Sprach-Kolumne schreibt wie diesen „Friedhof der Wörter“, der muss Schneider zum 90. gratulieren, wenn auch einige Tage zu spät: Aber Kolumnen haben ihren Rhythmus, und das Leben hat einen anderen.

Schneider erzählt, wie ihn nicht Deutschlehrer, sondern der sprachverliebte Vater zum Liebhaber der Sprache machte: Beim Sonntagsfrühstück, die Familie komplett beisammen! Zwei Stunden tafelte und plauderte die Familie, damit sich die Mutter das Mittagessen sparen konnte. Der Vater deklamierte Heinrich Heine, Wilhelm Busch und Christian Morgenstern:

Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt.

Brunch nennen wir das lange Frühstück heute, „bransch“ gesprochen. Schneider mag keine Anglizismen, aber er mochte das Sonntagsfrühstück, und er müsste zugeben: Bransch ist viel kürzer und schöner.

Deutschlehrer mag Schneider nicht, und so erwähnt er sie in seinen Memoiren auf 447 Seiten auch nur mit einem schönen langen Satz: „Die Deutschlehrer sollten zur Kenntnis nehmen, dass man mit völlig korrektem Deutsch einen Leser verscheuchenden, Leser ohrfeigenden Unfug treiben kann.“

Nun werde ich wieder viele böse Briefe von Deutschlehrern bekommen.

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Thüringer Allgemeine, 11. Mai 2015, „Friedhof der Wörter“

Günter Grass und sein wohl längster Satz, gleichwohl schön und verständlich (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Günter Grass war ein Dichter, der sich immer wieder in die politischen Debatten einmischte. Dafür lobten ihn die meisten seiner Nachrufer: Seine Stimme und seine Unbeugsamkeit wird uns fehlen.

Nein, sie wird uns nicht fehlen. Warner, Unbeugsame und Wachrüttler, Querdenker und Provokateure im besten Sinne erheben in ausreichender Zahl ihre Stimme. Wer uns fehlen wird, ist der Meister des Erzählens, der Meister der deutschen Sprache: Keiner hat nach dem Krieg mehr dafür getan als Grass – und das in einer Zeit, in der die unsere Sprache Einfluss in der Welt verliert, in der Frankreich den Deutschunterricht in der Schule stark reduzieren will und selbst Deutsche keinen Spaß mehr haben sondern „fun“.

Wolf Schneider, der bald 90-jährige Sprachpapst, zitiert Grass immer wieder. Er lobt ihn für seine kurzen Sätze wie „Ilsebill salzte nach“ (im „Butt“); er lobt ihn für seine langen Sätze, die ein Meister wie Grass schreiben kann, verständlich und schön. Erliegen wir einfach der Faszination über 69 Wörter in der „Blechtrommel“: Ein Subjekt – die Großmutter – mit vielen Prädikaten, ein kurzer einleitender Nebensatz und ein langer, die Hauptsache erzählender Hauptsatz:

Als ich meinte, genug geblasen zu haben, öffnete sie die Augen nacheinander, biß mit Durchblick gewährenden, sonst fehlerlosen Schneidezähnen zu, gab das Gebiß sogleich wieder frei, hielt die halbe, noch zu heiße Kartoffel mehlig und dampfend in offener Mundhöhle und starrte mit gerundetem Blick über geblähten, Rauch und Oktoberluft ansaugenden Naslöchern den Acker entlang bis zum nahen Horizont mit den einteilenden Telegrafenstangen und dem knappen oberen Drittel des Ziegeleischornsteins.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 20. April 2015

Wie Wörter die Gefühle verwirren können – und deshalb nicht als Wort des Jahres taugen (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 2. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Lichtgrenze? Das Wort des Jahres 2014? Ja, aber noch nie stieß die Wahl des Wortes auf so viel Unverständnis.

Wer hat nur die „Lichtgrenze“ erfunden? Gemeint sind die Ballons, die in Berlin am Jubiläums-Tag des Mauerfalls in den Himmel stiegen. „Das Wort spiegelt in besonderer Weise die großen Emotionen wider“, begründet die Jury ihre Wahl.

Genau das geschieht eben nicht. „Lichtgrenze“ provoziert ein Gefühls-Wirrwarr, weil es ein schönes Gefühl, das Licht, verbindet mit einem unschönen, der Grenze, der Mauer, dem Todesstreifen.

Wer Freude an unserer Sprache hat, kann sich seinen Favoriten aus denen wählen, welche die Jury in die engere Auswahl genommen hatte:

  • schwarze Null

  • Götzseidank

  • Russlandversteher

  • bahnsinnig

  • Willkommenskultur

  • Social Freezing

  • Terror-Tourismus

  • Freistoßspray

  • Generation Kopf unten

Da sind einige Wörter dabei, die auch für das Unwort des Jahres taugten: „Russlandversteher“, „Terror-Tourismus“ – oder „Generation Kopf unten“, auf die Jugend von heute bezogen, die unentwegt auf ihr Smartphone schaut, eben „Kopf unten“.

 

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Thüringer Allgemeine, 5. Januar 2015

Nach dem Mauerfall verschwanden die DDR-Schulbücher und das Tuwort (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 8. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Nicht über Anglizismen klagen wir in dieser Kolumne, sondern über Latinismen, also lateinische Wörter. „Alles war anders nach der Revolution! Auch in den Schulbüchern“, erinnert sich eine Lehrerin, „die Schulbücher kamen aus dem Westen, weil wir unsere alten DDR-Bücher nicht mehr benutzen durften. Da standen plötzlich andere Wörter: Unser Tu-Wort mutierte zum Verb, das Hauptwort zum Substantiv.“

Verwirrt waren offenbar einige Lehrer und klagen in Internet-Foren – wie einer, der sagt, er habe einen „Knacks wegbekommen, als das Namenswort zum Nomen wurde“; andere schütteln den Kopf, weil sie auch – wie im Westen – mit Verben und dem Genitiv gearbeitet hatten.

Waren DDR-Schulbücher besser? Der Bücherversand „DDRBuch.de“ jedenfalls bietet noch viele Schulbücher aus den vorrevolutionären Zeiten an und preist: „DDR-Schulbücher waren didaktisch besser aufgebaut als heutige Schulbücher.“ Deshalb würden heute noch DDR-Schulbücher nachgefragt für die eigenen Kinder oder Enkelkinder – und zum Nachhilfe-Unterricht. In dem Versand kann beispielsweise „Aus vergangener Zeit – Geschichte Klasse 5 Lehrbuch DDR“ für 19.99 Euro bestellt werden.

Also beerdigen wir die lateinischen und griechischen Wörter? Es wird uns nicht gelingen, sie prägen unsere Sprache viel stärker als englische; zwei moderne Beispiele:

> „Digital“ stammt vom lateinischen „Digitus“ und bedeutet: Finger oder Zahl. Die Zahl leiteten die Sprachschöpfer von den Fingern ab, die noch heute Grundschüler zum Zählen nutzen.

> „Television“ und somit unser „Fernsehen“ gründet im lateinischen „Visio“, das bedeutet: „Sehen“, und im griechischen „Tele“ für „weit weg“.

Als unsere deutsche Sprache wuchs und wuchs, bediente sie sich der lateinischen; als sie jung und verliebt war, galt als modern, wer viele französische Wörter kannte. Der Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der in Jena studiert hatte, beschwerte sich über „ungereimtes Mischmasch und Undeutlichkeit“, als immer mehr französische Wörter in „die uralte deutsche Hauptsprache“ eindrang, eine Sprache mit „anständigen Reinigkeit“.

So ähnlich klingt es heute, wenn wir den Mischmasch der Anglizismen beklagen – und am Ende der DDR der Latinismen.

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 10.11.2014

Quellen:
> Uwe Pörksen auf „goethe.de„: http://www.goethe.de/ges/phi/prj/ffs/the/spr/de4980180.htm
> Tore Janson: Latein: Die Erfolgsgeschichte einer Sprache (2006), Seite 151f

Seiten:1234»

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