Noch bis Ende 2018 Spiegel-Chefredakteur: Klaus Brinkbäumer. Foto: Spiegel
Redaktionen in Deutschland trennen konsequent Nachrichten und Meinung, hat der große Qualitäts-Report der Lokalzeitungen festgestellt, aber Ausgewogenheit ist nicht allgemein verbreitet. Für Klaus Brinkbäumer, Noch-Spiegel-Chefredakteur, sei das eher ein Vorteil gegenüber US-Medien. In einem Interview mit „detektor fm“ sagt er, der lange in den USA gearbeitet hat: In den Staaten sei die Ausgewogenheit „geradezu manisch“:
„Beide Seiten müssen nicht immer zu Wort kommen. Wenn einer sagt, die Erde ist rund, dann gibt es irgendjemanden, der behauptet, sie sei doch eine Scheibe: Dann bekommt der in ganz vielen Zeitungen den gleichen Raum. Aber es gibt so etwas wie Wahrheit. Es gibt Dinge, die wissenschaftlich geklärt sind: Dann muss man nicht jedes Mal einerseits-andererseits sagen.“
Und welche Fähigkeiten haben uns US-Medien voraus? Hartnäckigkeit, Präzision und Furchtlosigkeit. Das zeigen laut Brinkbäumer in Deutschland nicht ganz viele Medien.
Georg Restle ist Moderator der ARD-Sendung „Monitor“: „Wir müssen nicht jeden Mist abbilden.“ Foto: NDR
Minister X. ruft die Hauptstadt-Redaktion Y. an, die viele Zeitungen beliefert:
„Ich habe eine Nachricht für sie, mit der Sie in die Tagesschau kommen.“ –
„Worum geht es?“ –
„Was mit Rente, mehr kann ich noch nicht sagen.“
„Okay, wann? Wir kommen, wie gewohnt, mit drei, vier Leuten zum Interview. Bereiten Sie bitte schon mal eine Kurzfassung der Nachricht vor.“
In der Tat: Die Nachricht erscheint in der Tagesschau – „nach Informationen von Y. will Minister X. die Rente…“ Der Minister freut sich, die Redakteure freuen sich, die Verleger und Gesellschafter freuen sich, weil sie in der „Tagesschau“ erwähnt werden. Und alle sagen sich: Wir sind wichtig!
Zwei Zitate aus Ulrike Kaisers Newsletter der „Initiative Qualität“:
„Eine Berichterstattung, die es für Objektivität hält, den Politikern möglichst ausgewogen das Mikrofon hinzuhalten, und für Wahrheit, möglichst schnell und unverfälscht zu verbreiten, was sie sagen, ist kein Journalismus, sondern nur die Exekution einer politischen Agenda.“ (Harald Staun in der FAZ über politischen Journalismus)
„Wir müssen eben nicht jeden Mist abbilden, nur weil er aus dem Mund eines Bundestagsabgeordneten oder eines Parteivorsitzenden kommt.“ (Monitor-Chef Georg Restle im „journalist“)
Birgit Hofmann ist Politik-Redakteurin beim Südkurier in Konstanz. Sie führte das Interview, veröffentlicht am 30. August im Südkurier. Xing-Foto
Herr Raue, dass ein rechter Mob die Straßen in Chemnitz beherrscht, haben Sie so etwas kommen sehen?
Im Osten muss man wahrscheinlich viel öfter als im Westen damit rechnen, dass so etwas passiert. Nach den Vorkommnissen der letzten Tage muss man schlicht und einfach sagen, dass vor allem die Polizei und die Politiker in Sachsen, aber auch in den anderen Bundesländern damit rechnen müssen. Wenn man sich das erbärmliche Schauspiel anschaut, wie der Polizeipräsident bei der Pressekonferenz auftrat, oder dass der Bundesaußenminister sich schämt, dass das Ausland jetzt auf uns schaut, dann muss man sagen: Sie müssen wissen, dass der Rechtsradikalismus im Osten keine Banalität ist, die man vernachlässigen könnte.
Was gerade in Chemnitz passiert ist, das hat in Sachsen System. Gerade in den letzten Jahren gab es ja immer wieder dramatische rechte Vorfälle. Wie konnte es so weit kommen?
Ich glaube, dass ein Großteil der Bürger dort das Vertrauen in die politische Führung verloren hat. Das ist seltsamerweise in Sachsen sehr verbreitet. Sachsen ist ein wirtschaftlich erfolgreiches Bundesland, neben Thüringen das erfolgreichste im Osten, das zum Teil mit süddeutschen Bundesländern mithalten kann. Es hat nach der Wende mit Kurt Biedenkopf einen Ministerpräsidenten gehabt, der in der politischen Bildung nicht der stärkste war, der aber für die Menschen einen Wohlstand geschaffen hat, mit dem sie leben können. Von den äußeren Bedingungen passt das also nicht zu einer solchen Entwicklung. Was genau dort schief läuft, ich glaube, das weiß keiner so recht.
Erschreckend ist ja auch, dass sich die Hitlergrüße in Chemnitz in der braunen Menge gar nicht mehr zählen ließen, so viele waren es.
Wir erleben auch im Westen, dass Ausländer gejagt werden, also Szenen, die unwürdig sind für dieses Land. Man muss sich auf die Suche nach den Ursachen machen und vor allem fragen, wie es sein kann, dass die grausame Zeit des Nationalsozialismus wieder als Lösung für die Gegenwart gesehen werden kann.
Die Polizei hatte trotz mehrerer Hundertschaften und Wasserwerfern keine Chance gegen die grölenden Neonazis, die sich unglaublich schnell zusammengerottet hatten. Das zeigt ja
auch, dass es in Sachsen eine ganz andere Basis gibt.
Ja, wobei wir es hier mit dem Phänomen der sozialen Netzwerke zu tun haben. Ich glaube nicht, dass es unbedingt mehr Leute sind, aber diese sind natürlich viel schneller zu mobilisieren. Man
muss sich nur anschauen, wie Rechtsradikale im Osten Konzerte organisieren und die Leute an einem Abend an drei verschiedene Orte locken und die Polizei gar nicht mehr hinterherkommt. Was
in Chemnitz passiert ist, hat vom Ausbruch und der Gewalttätigkeit her eine neue Qualität. Aber dass sich viele Leute mobilisieren lassen, das beobachten wir im Osten schon seit Jahren.
Sie waren ja ab 1999 Chefredakteur der Magdeburger Volksstimme und ab 2009 der Thüringer Allgemeinen. Wie haben Sie den Osten Deutschlands damals erlebt und was hat sich
seitdem verändert?
Ich glaube nicht, dass sich viel verändert hat. Diese seltsame Unruhe, die in großen Teilen Deutschlands zu spüren ist, gibt es auch im Osten. Doch den Menschen dort fehlen 50 Jahre allmählicher, ruhiger Entwicklung und politischer Bildung. Sie haben die Institutionen nicht wachsen sehen und nicht gemerkt, wie ein Rechtsstaat funktioniert. Man sieht das auch an den Wahlergebnissen: Bei der Bundestagswahl lag die AfD in Sachsen zum ersten Mal auf Platz eins. Das werden wir im Westen, denke ich, so leicht nicht erleben. Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, welch hohes Vertrauen die Polizei im Osten genießt. Bei der Frage, welchen Institutionen die Menschen am meisten vertrauen, steht die Polizei an zweiter Stelle. Nur die Stiftung Warentest hat höhere Werte.
Aber Sie sprechen von einer Unruhe unter den Menschen. Woher kommt diese?
Wir haben eine Fremdenfeindlichkeit in diesem Land, die im Osten höher ist als im Westen. Das nützen die AfD und die rechten Kräfte aus. Es ist eine diffuse Angst vor all dem, was man Globalisierung und Digitalisierung nennt. Die Lage in Polen und Ungarn, aber auch mit Trump in den USA ist instabil geworden. Das macht den Menschen Angst. Die Politiker zeigen hier zu wenig Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten auf.
Auffallend ist, dass gerade in ursprünglich kommunistisch regierten Ländern, wie Polen und Ungarn, rechtsextremistische Strömungen Zulauf haben. Wie passt das zusammen?
Was in Polen eher passiert, ist ein Erstarken des Nationalismus. Die Polen können mit Europa nichts anfangen, sie wollen es eher wieder wegschieben. Dort ist es die Angst einer Gesellschaft, die zusammenrückt, weil sie sich von außen bedroht fühlt. So kommt der Nationalgedanke verstärkt hoch, was aber zunächst wenig mit Rechtsextremismus zu tun hat. Das sind sehr schwierige Fragen. Hier genügt es nicht zu sagen, dass das schlimm ist, was in Polen und Ungarn passiert, sondern weshalb Europa nützlich ist.
Vergangene Woche wurde ein ZDF-Kamerateam bei einer Pegida-Demonstration in Dresden eine Dreiviertelstunde von der Polizei festgehalten. Der Mann, der das Team angegriffen hat, entpuppte sich als Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes. Sind Behörden und Polizei im Osten auf dem rechten Auge blind?
Bei der Polizei gibt es bestimmt häufiger eine rechte Gesinnung als in der übrigen Gesellschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Polizisten wissen, wie wichtig der Journalismus für eine demokratische Gesellschaft ist. Wird in der Ausbildung das Verhältnis zu den Medien thematisiert, wissen sie über die Rechte von Journalisten Bescheid? Es ist wichtig, dass hierüber mit Innenministern, Polizeipräsidenten und Polizeiakademien geredet wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das an den Polizeischulen nicht ausreichend gelehrt wird. Wir müssen die Polizei stärken, nicht nur finanziell, sondern auch, was Ausbildung und Mannstärke angeht. Auch beim G-7-Gipfel in Hamburg haben wir ein Versagen der Polizei erlebt.
Die AfD ist in Sachsen laut einer aktuellen Umfrage zweitstärkste Kraft. CDU und SPD kämen nicht mehr auf eine Mehrheit. Was meinen Sie dazu vor dem Hintergrund von Chemnitz, wenn Sie auf die Landtagswahl in Sachsen im kommenden Jahr schauen?
Wenn ich mir diesen hilflosen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer in Sachsen anschaue, dann wird’s mir schon bange. Erstmal wie lange er gebraucht hat, um überhaupt Worte zu finden. Als er sich dann äußerte, nahm er die Polizei in Schutz. Und das war’s. Er muss doch irgendwann mal sagen: Wir müssen jetzt handeln. Wenn das in den nächsten Wochen und Monaten nicht passiert, wird das für die gesamte Gesellschaft eine ganz schwierige Wahl. Wenn die Parteien keine Regierung mehr bilden können, ohne die AfD, dann ist das nicht nur ein Problem für Sachsen, sondern für uns alle.
Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg. Wikipedia-Foto
Gilt die Trennung von Kommentar und Nachricht auch, wenn es um Positionen geht, die der Journalist nicht teilt und mit ihm wahrscheinlich die Mehrzahl der Leser? Ist die Haltung des Journalisten, die wohl viele Leser teilen, wichtiger als die Urteils-Bildung der Leser?
Ein Beispiel: Die Welt berichtet über einen Facebook-Post von Lars Steinke, Chef einer AfD-Jugendorganisation: „Stauffenberg-Diffamierung – Ein Facebook-Post erschüttert die AfD“. Der AfD-Politiker Steinke bezeichnet in dem nicht öffentlichen Facebook-Beitrag den Hitler-Attentäter Stauffenberg als „Verräter“.
Die Empörung über das Zitat ist in vielen Artikeln zu lesen. Ein Redakteur der Braunschweiger Zeitung tut allerdings , was ein Journalist zu tun hat: Er spricht mit dem jungen Politiker, lässt ihn zu Wort kommen und kommentiert die Äußerungen in seinem Bericht:
- (Zum Politiker-Zitat, er nehme Abstand vom „Verräter“) „Allerdings klang das halbherzig.“
- „Diese Erklärung passt rein gar nicht zum Wort ,Verräter‘.“
- Die Erklärung „dafür, dass er Stauffenberg als ,Feigling‘ bezeichnete, klingt nicht gerade nachvollziehbar.
- (Zur Recherche, der Politiker habe vier Monate als Aushilfe in der Landtagsfraktion gearbeitet:) „All das hört sich nach einem Rauswurf an.“
Dem Einwand des Politikers geht der Journalist nicht nach, „Verräter“ sei Teil einer Diskussion gewesen und aus dem Zusammenhang gerissen: Nur – wie verlief denn die Diskussion? Wie war der Zusammenhang?
Auch wenn die meisten Leser der Haltung des Redakteurs zustimmen: Ist es nicht sinnvoller, wenn sich die Leser ihre Meinung selber bilden? Nur – was wäre die Alternative zur Mischung von Bericht und Kommentar? Den Unsinn eines Politikers einfach so stehen lassen und auf die Urteilskraft der Leser hoffen?
Ein Interview als Protokoll des Gesprächs wäre die ideale Lösung, in dem der Redakteur seine Einwände als Frage formuliert und der Leser den Streit zwischen den beiden verfolgen kann; oder ein Bericht ohne Wertungen und ein getrennter Kommentar.
Übrigens teilt der AfD-Vorsitzende Gauland die Haltung der meisten Redakteure: Das Zitat des jungen Politikers sei „bodenloser Schwachsinn“.
Der Trierer Medien-Professor Hans-Jürgen Bucher mit seiner Doktorandin Bettina Boy. Foto: Uni Trier
Herr Professor Bucher, Sie machten vor zehn Jahren Schlagzeilen, als sie die „Twitter-Wall“ bei Ihren Vorlesungen einführten. Studenten konnten ihre Fragen anonym per Twitter formulieren – für jeden Zuhörer und Sie im Hörsaal sichtbar. Hat sich die Wand bewährt?
Ja. Die Idee zur Twitterwall ist im Rahmen eines großen Verbundprojektes von verschiedenen Universitäten zum Thema „Interactive Science“ entstanden. Die zentrale Forschungsfrage war damals, wie die Digitalisierung die Wissenschaftskommunikation verändert und ob sie eventuell zu einer Demokratisierung im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit beitragen kann. Die Vorlesung ist ein Vermittlungsformat, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und das den Zuhörern sehr eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten bietet.
Die Twitterwall war eine Idee, diese an sich überholte Vermittlungsform, die letztendlich den Kapazitätsproblemen der Universitäten geschuldet ist, dialogisch aufzubrechen. In meinen Vorlesungen ist sie zu einem festen Bestandteil geworden, der sich schon deshalb bewährt hat, weil nicht nur die Tweets, sondern auch die mündlichen Redebeiträge zu einer deutlich dialogischeren Situation beigetragen haben. Dass die Tweets manchmal auch für Kneipenverabredungen, Liebeserklärungen und schräge Kommentare genutzt werden, muss man im bestimmten Rahmen aushalten.
Sie gehörten zu den ersten, die Regeln für die Qualität im Journalismus aufstellen und messen wollten. Doch die meisten Journalisten halten es immer noch mit ihrem Professoren-Kollegen Ruß-Mohl: „Qualität im Journalismus definieren zu wollen gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.“ Wie definieren Sie Qualität?
Dass die Debatte um journalistische Qualität so unentscheidbar zu sein scheint, wie es auch das Bild vom Pudding-an-der-Wand suggeriert, hat seinen Grund darin, dass Medienbeiträge unter verschiedene Gesichtspunkten, verschiedenen Zielsetzungen und von verschiedenen Rezipiententypen beurteilbar sind. Es gibt allerdings einen festen Anker in dieser Debatte: die zentrale Funktion des Journalismus ist es, eine öffentliche Meinungsbildung mit rationalen und argumentativen Mittel zu fördern.
Lassen sich aus der zentralen Funktion Regeln ableiten, goldene Regeln der Qualität?
Wir nennen sie Funktionsnormen, die auch in verschiedenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts formuliert sind: deliberative – also eine argumentative, Pro und Contra abwägende – Meinungsbildung setzt voraus, dass die Berichterstattung wahrheitsgemäß ist,
- dass sie die relevanten Themen aufgreift,
- dass die entsprechenden Beiträge informative für die Rezipienten sind – was nur mit einer bestimmte Recherchetiefe zu leisten ist, und
- dass sie so verständlich und attraktiv gestaltet und formuliert sind, dass sie bei den Adressaten auf Akzeptanz stoßen.
Man sieht sehr schnell, dass die Standards untereinander zusammenhängen und alle Bereiche des journalistischen Arbeitens umfassen: von der Recherche bis zur spezifischen Aufbereitung im jeweiligen Medium.
Stellt das Publikum – vor allem die digitale Generation – andere Anforderungen an die Qualität als die ältere, die analoge?
Ja, mit dem Internet ist eine neue Kultur der Informations- und Wissensvermittlung entstanden. Im Unterschied zu ihrem analogen Pendant ist sie multimodal, besteht also aus ganz unterschiedlichen Symbolsystemen wie gesprochene und geschriebene Sprache, Abbildungen, Grafiken, Bewegbilder, Soundbites, Animationen, sie ist nicht mehr linear, sondern vernetzt und hypertextuell.
Es haben sich mit den sozialen Medien neue Distributionsplattformen für Information und Wissen parallel zum Journalismus etabliert, und wir können uns global informieren. Diese neue Informations- und Wissenskultur hat Einfluss auch auf die Art und Weise, wie wir die sogenannten alten Medien nutzen – bei denen, die nur mit diesen neuen Möglichkeiten aufgewachsen sind, stärker als bei denjenigen, die die mit den traditionellen Medien sozialisiert wurden.
Wenn das Internet das Lesen und Sehen so verändert: Wie ändern sich die Leser und Zuschauer? Und welche Folgen hat das für den Journalismus?
Die Anforderungen an die Selektionsleistungen des Publikums sind deutlich gewachsen. Damit das nicht zur Bildung abgeschlossener Filterblasen führt, in denen jeder nur noch das rezipiert, was zu seiner Weltsicht passt, muss der Journalismus neben seiner Informationsaufgabe auch eine Moderations- und Vermittlungsaufgabe zwischen diesen Communities übernehmen. Dazu gehört es auch, populistischen Emotionalisierungen von Themen nicht hinterher zu laufen, sondern sie durch Aufklärung zu versachlichen.
Sie waren einer der ersten, der mit der Blickaufzeichnung arbeitete und so herausfand, wie Menschen Zeitung lesen. Lesen die Leute digital anders als auf Papier?
In einer Studie haben wir vergleichend das Nutzungsverhalten in der gedruckten Ausgabe und der App von Süddeutsche und Welt mit einer Blickaufzeichnung und mit Interviews untersucht. Dabei hat sich ergeben: die beiden Formate werden unterschiedlich gelesen, aber es werden Erschließungsstrategien aus dem Print- in das Online-Format übernommen. So ist der Anteil der Intensivleser – die also mehr als 50% ihre Nutzungszeit mit Lesen und nicht mit Scannen oder Suchen verbringen – in der Printausgabe deutlich höher ist als in der App, bei der die sogenannten Anleser dominieren. Vom einzelnen Beitrag wird auch in der Printausgabe mehr an Text gelesen.
Umgekehrt werden in der App mehr Beiträge angeschaut – nämlich etwa 80 Prozent – in der Printausgabe aber nur 56 Prozent.
Und in der App dominiert die Unterhaltung?
Nein, die von Kulturkritikern immer wieder vorgebrachte Befürchtung, dass Online-Nutzung nicht informations-, sondern unterhaltungsorientiert ist, wird von der Studie widerlegt: das „bunte“ Ressort Panorama wird in den Apps nicht länger rezipiert als in den Printprodukten.
An Ihrer Universität in Trier wird kontrovers über die Zukunft der Medienwissenschaft debattiert. Brauchen wir wirklich Medienwissenschaft? In Trier und überall?
Ich würde sagen: mehr denn je. Aber die Medienwissenschaft muss sich wandeln – sowie sich die Medienlandschaft insgesamt gewandelt hat. Die an den alten Distributionsmedien ausgerichteten Forschungsstrategien, Theorien und Methoden müssen an die neue Partizipationsmedien des Internet angepasst werden.
Das bedeutet: sie müssen auch die großen, unstrukturierten Datenmengen der sozialen Medien und der entsprechenden Nutzerkommentierungen bewältigen, sie dürfen sich nicht, wie bisher, auf die Textanalyse beschränken sondern müssen auch Ansätze für die zunehmende Visualisierung der Medienkommunikation entwickeln und , sie müssen neue Ausprägungen des Journalismus wie Datenjournalismus oder den Social-Media-Journalismus ins Blickfeld nehmen.
Dafür sind neue interdisziplinäre Kooperationen erforderlich wie wir sie für die Zukunft der Trierer Medienwissenschaft bereits vorgesehen haben: Kooperationen mit den Digital Humanities und der Computerlinguistik für die computergestützte Analyse digitaler Korpora, mit der Informatik und der Simulationsforschung, der Soziologie und nicht zuletzt auch mit den Bildwissenschaften.
Eine Zusammenfassung der beiden Teile des Interviews in meiner Kolumne JOURNALISMUS! auf „kress.de“.
1736 brachte der Brite Hermann Moll seinen „Atlas Mirror“ heraus mit der Weltkarte und den vorherrschenden Seewinden. Grafik: Wikipedia
Im Interview zum 25-Jahr-Jubiläum von Focus vergleicht Verleger Hubert Burda das Gutenberg- mit dem Digital-Zeitalter: Gutenbergs System hatte einen Anfang und ein Ende, das digitale hat eine „Struktur der Gleichzeitigkeit, in der Text, Bilder, Musik und Film parallel kommunizieren“.
Burda nimmt die Metapher von den See- und Landwegen, um das Schicksal der traditionellen Medien zu beschreiben:
„Die Landwege sind nicht verschwunden, als vor 500 Jahren die neuen Seewege Europa mit der ganzen Welt verbanden. Und durch die neuen Seewege veränderten sich die alten Landwege, die nun zu den neuen Häfen führten. Land- und Seewege begannen sich zu ergänzen – ähnlich ist das heute auch mit den traditionellen Medien und den sozialen Netzwerken. Nur wer versteht, beide zusammen zu nutzen und zu verbinden, ist im neuen Medienzeitalter angekommen.“
Die digitale Medienwelt verändere auch den Journalismus – und die Ausbildung eines Verlegers:
„Ich würde einen Nachfolger heute nie mehr so ausbilden, wie mein Vater mich ausgebildet hat – also als Chefredakteur. Die Grundlagen für meine Kinder, die mit Snapchat und Instagram aufwachsen, sehe ich deshalb im Verstehen von Software und im Silicon Valley, wo sie oft unterwegs sind.“
Die dominante Stellung der Journalisten gibt es nach Burda nicht mehr, sie haben ihr Privileg verloren.
„Journalisten müssen mit großer Akribie Nachrichten identifizieren und ihre Geschichten so erzählen, dass die Leute genau wissen, wer der Absender ist und ob sie diesem Absender trauen können.“
So werde es auch immer Zeitschriften geben, wenn auch von 1600 vielleicht 1400 übrig bleiben. „Große Marken werden bleiben. Du kannst nicht immerzu online sein, denn Online ist kurz und schnell und zerfetzt. Du hast das Gefühl, dass du nie richtig zu Ende gelesen hast. Deshalb ist es etwas Schönes, ein Buch oder eine Zeitschrift zu lesen.“
Quelle: Focus 3/18