Qualität im Journalismus: Wahr, wichtig, tief recherchiert – Interview mit Medienprofessor Bucher (Teil 2)
Herr Professor Bucher, Sie machten vor zehn Jahren Schlagzeilen, als sie die „Twitter-Wall“ bei Ihren Vorlesungen einführten. Studenten konnten ihre Fragen anonym per Twitter formulieren – für jeden Zuhörer und Sie im Hörsaal sichtbar. Hat sich die Wand bewährt?
Ja. Die Idee zur Twitterwall ist im Rahmen eines großen Verbundprojektes von verschiedenen Universitäten zum Thema „Interactive Science“ entstanden. Die zentrale Forschungsfrage war damals, wie die Digitalisierung die Wissenschaftskommunikation verändert und ob sie eventuell zu einer Demokratisierung im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit beitragen kann. Die Vorlesung ist ein Vermittlungsformat, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und das den Zuhörern sehr eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten bietet.
Die Twitterwall war eine Idee, diese an sich überholte Vermittlungsform, die letztendlich den Kapazitätsproblemen der Universitäten geschuldet ist, dialogisch aufzubrechen. In meinen Vorlesungen ist sie zu einem festen Bestandteil geworden, der sich schon deshalb bewährt hat, weil nicht nur die Tweets, sondern auch die mündlichen Redebeiträge zu einer deutlich dialogischeren Situation beigetragen haben. Dass die Tweets manchmal auch für Kneipenverabredungen, Liebeserklärungen und schräge Kommentare genutzt werden, muss man im bestimmten Rahmen aushalten.
Sie gehörten zu den ersten, die Regeln für die Qualität im Journalismus aufstellen und messen wollten. Doch die meisten Journalisten halten es immer noch mit ihrem Professoren-Kollegen Ruß-Mohl: „Qualität im Journalismus definieren zu wollen gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.“ Wie definieren Sie Qualität?
Dass die Debatte um journalistische Qualität so unentscheidbar zu sein scheint, wie es auch das Bild vom Pudding-an-der-Wand suggeriert, hat seinen Grund darin, dass Medienbeiträge unter verschiedene Gesichtspunkten, verschiedenen Zielsetzungen und von verschiedenen Rezipiententypen beurteilbar sind. Es gibt allerdings einen festen Anker in dieser Debatte: die zentrale Funktion des Journalismus ist es, eine öffentliche Meinungsbildung mit rationalen und argumentativen Mittel zu fördern.
Lassen sich aus der zentralen Funktion Regeln ableiten, goldene Regeln der Qualität?
Wir nennen sie Funktionsnormen, die auch in verschiedenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts formuliert sind: deliberative – also eine argumentative, Pro und Contra abwägende – Meinungsbildung setzt voraus, dass die Berichterstattung wahrheitsgemäß ist,
- dass sie die relevanten Themen aufgreift,
- dass die entsprechenden Beiträge informative für die Rezipienten sind – was nur mit einer bestimmte Recherchetiefe zu leisten ist, und
- dass sie so verständlich und attraktiv gestaltet und formuliert sind, dass sie bei den Adressaten auf Akzeptanz stoßen.
Man sieht sehr schnell, dass die Standards untereinander zusammenhängen und alle Bereiche des journalistischen Arbeitens umfassen: von der Recherche bis zur spezifischen Aufbereitung im jeweiligen Medium.
Stellt das Publikum – vor allem die digitale Generation – andere Anforderungen an die Qualität als die ältere, die analoge?
Ja, mit dem Internet ist eine neue Kultur der Informations- und Wissensvermittlung entstanden. Im Unterschied zu ihrem analogen Pendant ist sie multimodal, besteht also aus ganz unterschiedlichen Symbolsystemen wie gesprochene und geschriebene Sprache, Abbildungen, Grafiken, Bewegbilder, Soundbites, Animationen, sie ist nicht mehr linear, sondern vernetzt und hypertextuell.
Es haben sich mit den sozialen Medien neue Distributionsplattformen für Information und Wissen parallel zum Journalismus etabliert, und wir können uns global informieren. Diese neue Informations- und Wissenskultur hat Einfluss auch auf die Art und Weise, wie wir die sogenannten alten Medien nutzen – bei denen, die nur mit diesen neuen Möglichkeiten aufgewachsen sind, stärker als bei denjenigen, die die mit den traditionellen Medien sozialisiert wurden.
Wenn das Internet das Lesen und Sehen so verändert: Wie ändern sich die Leser und Zuschauer? Und welche Folgen hat das für den Journalismus?
Die Anforderungen an die Selektionsleistungen des Publikums sind deutlich gewachsen. Damit das nicht zur Bildung abgeschlossener Filterblasen führt, in denen jeder nur noch das rezipiert, was zu seiner Weltsicht passt, muss der Journalismus neben seiner Informationsaufgabe auch eine Moderations- und Vermittlungsaufgabe zwischen diesen Communities übernehmen. Dazu gehört es auch, populistischen Emotionalisierungen von Themen nicht hinterher zu laufen, sondern sie durch Aufklärung zu versachlichen.
Sie waren einer der ersten, der mit der Blickaufzeichnung arbeitete und so herausfand, wie Menschen Zeitung lesen. Lesen die Leute digital anders als auf Papier?
In einer Studie haben wir vergleichend das Nutzungsverhalten in der gedruckten Ausgabe und der App von Süddeutsche und Welt mit einer Blickaufzeichnung und mit Interviews untersucht. Dabei hat sich ergeben: die beiden Formate werden unterschiedlich gelesen, aber es werden Erschließungsstrategien aus dem Print- in das Online-Format übernommen. So ist der Anteil der Intensivleser – die also mehr als 50% ihre Nutzungszeit mit Lesen und nicht mit Scannen oder Suchen verbringen – in der Printausgabe deutlich höher ist als in der App, bei der die sogenannten Anleser dominieren. Vom einzelnen Beitrag wird auch in der Printausgabe mehr an Text gelesen.
Umgekehrt werden in der App mehr Beiträge angeschaut – nämlich etwa 80 Prozent – in der Printausgabe aber nur 56 Prozent.
Und in der App dominiert die Unterhaltung?
Nein, die von Kulturkritikern immer wieder vorgebrachte Befürchtung, dass Online-Nutzung nicht informations-, sondern unterhaltungsorientiert ist, wird von der Studie widerlegt: das „bunte“ Ressort Panorama wird in den Apps nicht länger rezipiert als in den Printprodukten.
An Ihrer Universität in Trier wird kontrovers über die Zukunft der Medienwissenschaft debattiert. Brauchen wir wirklich Medienwissenschaft? In Trier und überall?
Ich würde sagen: mehr denn je. Aber die Medienwissenschaft muss sich wandeln – sowie sich die Medienlandschaft insgesamt gewandelt hat. Die an den alten Distributionsmedien ausgerichteten Forschungsstrategien, Theorien und Methoden müssen an die neue Partizipationsmedien des Internet angepasst werden.
Das bedeutet: sie müssen auch die großen, unstrukturierten Datenmengen der sozialen Medien und der entsprechenden Nutzerkommentierungen bewältigen, sie dürfen sich nicht, wie bisher, auf die Textanalyse beschränken sondern müssen auch Ansätze für die zunehmende Visualisierung der Medienkommunikation entwickeln und , sie müssen neue Ausprägungen des Journalismus wie Datenjournalismus oder den Social-Media-Journalismus ins Blickfeld nehmen.
Dafür sind neue interdisziplinäre Kooperationen erforderlich wie wir sie für die Zukunft der Trierer Medienwissenschaft bereits vorgesehen haben: Kooperationen mit den Digital Humanities und der Computerlinguistik für die computergestützte Analyse digitaler Korpora, mit der Informatik und der Simulationsforschung, der Soziologie und nicht zuletzt auch mit den Bildwissenschaften.
Eine Zusammenfassung der beiden Teile des Interviews in meiner Kolumne JOURNALISMUS! auf „kress.de“.
Was wäre, wenn Google unsere Volontäre ausbildete?
Volontäre kritisieren die Qualität ihrer Ausbildung, wie eine Studie der Universität Ilmenau in Thüringen belegt, an der gut zweihundert Volontäre teilgenommen haben. Diese Studie und die Charta der Journalistenschulen sind Thema der Kress-Kolumne JOURNALISMUS, die komplett hier zu lesen ist.
„Journalisten werden für eine Zukunft in der Vergangenheit ausgebildet“, schrieb ein Volontär in seinen Fragebogen. Kathrin Konyen aus dem Bundesvorstand des Deutschen-Journalisten-Verbands (DJV), der die Umfrage in Auftrag gegeben hat, kommentiert die Ilmenauer Studie:
Während die Vermittlung von klassischen journalistischen Fähigkeiten einigermaßen zufriedenstellend ist, hat die Ausbildung offenbar den Anschluss an die veränderten Anforderungen im Journalismus verpasst.
Selbst diese Interpretation, das Handwerk werde ausreichend vermittelt, ist reichlich optimistisch: Drei von zehn Volontären geben an, weder zu lernen, wie ein Journalist recherchiert, noch Recherche trainiert zu haben.
Nun mag man einwenden: Nicht die Volontärin soll bestimmen, was sie lernen muss, sondern Chefredakteur und Verleger – nach der alten Weisheit: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Aber diese Hybris kann sich keiner mehr erlauben: Die Volontäre sind heimisch in der digitalen Welt, während ihre Ausbilder noch elektrische Schreibmaschinen kennen und Klebe-Umbruch. So denken Volontäre offenbar intensiver an die Zukunft als viele ihrer Chefs, die eigentlich die Zukunft systematisch vordenken sollen. Eine Volontärin schreibt ihre Verwunderung in den Ilmenauer Fragebogen:
Die Journalistik hinkt Jahre hinter der Realität des Mediensystems hinterher.
Was die Thüringer Wissenschaftler herausgefunden haben, bestätigt der Hamburger Medienprofessor Weichert, der von der Arroganz der Ausbilder spricht, die sich vom alten Denken nicht lösen wollen. „Leider gibt es viele Kollegen, die noch nicht verstanden haben, dass journalistische Ausbildung neu gedacht werden muss.“
Journalismus muss allerdings nicht neu gedacht werden, aber er ist schwieriger geworden. In Zukunft muss ein Journalist das Handwerk beherrschen, so wie es Generationen vor ihm gelernt haben, aber er muss auch die sich stets wandelnde Technik beherrschen, muss immer wieder neu lernen, muss sich an den Lesern ausrichten, und er muss unternehmerisch denken, ohne die Unabhängigkeit seiner Profession zu gefährden. Das ist ein Dilemma, das ist das Dilemma der Ausbildung in den Verlagen:
- Es reicht nicht mehr, dass eine Volontärs-Mutter ihre Schützlinge behütet, ihnen das Porträt-Schreiben erklärt und oft vergeblich kämpft, wenn beim Engpass in einer Lokalredaktion die Volos nicht zu Kursen geschickt werden.
- Es reicht nicht, die Volontäre zu den Schulen zu schicken: Training und Theorie müssen verzahnt werden mit der Praxis in den Redaktionen. Das wird torpediert, wenn die Volontäre in ihrer Redaktion empfangen werden mit dem Schulterklopfen: Jetzt wird wieder richtig gearbeitet, vergiss lieber schnell das theoretische Gequassel-
- Es reicht nicht, die Volontäre ein paar Wochen in die Online-Redaktion zu schicken, sie Zeitungs-Artikel ins Netz transportieren oder der Polizei hinterherhecheln zu lassen.
Wie würde Google Journalisten ausbilden? Oder ein anderer der digitalen Konzerne? Dabei ist nicht entscheidend, was sie lehren, sondern vor allem wie sie lehren, wie sie miteinander arbeiten, wie sie führen, mit Fehlern umgehen – kurzum: wie sie mit Phantasie und Neugier die Welt neu erschaffen, ohne beliebig zu werden und nur nett zu sein (auch die digitale Welt ist eine harte Welt).
Ausbilden wie Google – das können Konzerne wie Springer, Gruner und Burda leisten, und sie tun es auch. Journalistenschulen, die nicht an Redaktionen angebunden sind, können es nur mühsam simulieren; Redaktionen könnten es leisten, wenn die Chefs es wollen und auch mal Geld in die Ausbildung und Ausbilder investieren, viel mehr Geld als heute.
Die meisten Volontäre müssen die Chefredakteure nicht zum Jagen tragen. Sie sind schon auf der Pirsch. Die Ilmenauer Studie belegt: Zwei von drei Volontäre wollen mehr über wirtschaftliches Handeln lernen und es auch trainieren, nicht zuletzt um im Überlebenskampf zu bestehen außerhalb einer Festanstellung. Die meisten Chefredakteure und Manager übersehen die Chance für die Verlage: Wer, wenn nicht die jungen Journalisten, wird in der Lage sein, neue Geschäfte auszudenken, auszuprobieren und zu verwirklichen?
In der Ilmenauer Volontärs-Studie beklagen die Volontäre:
- Wir werden nicht auf Management-Aufgaben vorbereitet.
- Wir trainieren nicht den Umgang mit Sozialen Medien.
- Wir wissen zu wenig über unsere Leser (und erst recht die Nicht-Leser).
- Wir lernen nicht, welche digitalen Werkzeuge es gibt und wie man sie nutzt.
Wenn Verlage nicht lernen, auszubilden wie Google es täte, wird es irgendwann Google selbst tun.
Luther, Journalisten und die Kunst, Unverständliches zu übersetzen
Politiker, Wissenschaftler und Bürokraten reden gern unverständlich – und protestieren, wenn Journalisten Unverständliches und Gestelztes übersetzen. Zu Luthers Zeiten riskierte einer, der die Bibel allzu frei übersetzte, den Ausschluss aus der Kirche und das Ende seiner Existenz. Luther brauchte also auch Mut, wir würden es heute Zivilcourage nennen, wenn er seine Methode durchzog, die Bibel verständlich ins Deutsche zu übertragen.
Doch beim Übersetzen geriet Luther schnell, aber durchaus gewollt ins Interpretieren und Kommentieren. Dies kennen auch heute Journalisten, wenn sie frei eine Politiker-Rede wiedergeben und heftig gescholten werden – zurzeit vorzugsweise von AfD-Politikern wie Frauke Petry, etwa nach dem „Schießbefehl auf Flüchtlinge“ im Mannheimer Morgen, oder nach Alexander Gaulands Boateng-Vergleich in der FAS.
Oft reicht ein Wort – wie bei Luthers Übersetzung einer Passage des Paulus-Briefs an die Römer. „Allein durch den Glauben wird der Mensch gerecht“, schreibt Luther, das Wort „allein“ steht allerdings nicht im Originaltext. Die Theologen schäumen, aber Luther rechtfertigt sich: „Es steht so nicht in der Bibel, aber es gehört eben im Deutschen hinein um der Klarheit willen.“
Luther musste auch Wörter finden und erfinden. Auch vor Luther gab es eine Reihe von deutschen Übersetzungen wie die von Johannes Mentelin, ein gutes halbes Jahrhundert vor Luther. Viele Wörter in Mentelins Text kannte Luther nicht wie „Trom“, das Luther nach langem Nachdenken mit „Balken“ umschrieb, oder „agen“, das er mit Splitter übersetzte: „Du siehst den Splitter (agen) im Auge deines Bruders, aber nicht den Balken (trom) in deinem Auge.“
Journalisten lest viel! Erweitert Euren Wortschatz! Das wäre Luthers Rat an Volontäre wie gestandene Redakteure: „Wer dolmetschen will, muss einen großen Vorrat von Worten haben“, ist im „Sendbrief vom Dolmetschen“ zu lesen. Luther schätzte zudem eine Sprache mit Gefühl – eben „auf dass es dringe und klinge ins Herz, durch alle Sinne“.
* Die komplette Kolumne JOURNALISMUS! „Hummeln im Arsch: Die Sprache der Journalisten“ bei kress.de:
http://kress.de/news/detail/beitrag/135792-hummeln-im-arsch-die-sprache-der-journalisten.html
INFO
Die Ausstellung „Luther und die deutsche Sprache“
Die gut besuchte Ausstellung ist die letzte von sechs Ausstellungen der Wartburg vor dem Lutherjahr 2017, in dem die Ausstellung „Luther und die Deutschen“ von Mai bis November 2017 zu sehen sein wird. Das Welterbe Wartburg ist die meistbesuchte Lutherstätte.
Die Sonderausstellung „Luther und die deutsche Sprache“ ist bis zum 8. Januar 2017 auf der Wartburg zu besichtigen (im Sommer von 8.30 bis 17 Uhr); der Katalog kostet 12,95 Euro.
Das Selbstverständnis von Sportjournalisten: Sieben Thesen
In meiner Diplomarbeit habe ich vor knapp 10 Jahren das Qualitätsverständnis von Sportjournalisten untersucht. An eine Aussage eines Sportjournalisten werde ich mich stets erinnern, denn sie war und ist kennzeichnend für den Sportjournalismus. Frage: Wie wichtig ist Ihnen Objektivität? Antwort: „Ich bin objektiv, ja, aber mit Begeisterung für den eigenen Verein“
„Axel“ kommentiert so meine nacholympische Journalismus!-Kolumne bei kress.de über Medienhengste, das ewige Duzen und die Angst des Journalisten vor dem Sportler.
Bei großen Sportereignissen werden – aus Sicht der meisten Kritiker – Sportreporter ihrem Ruf als Schmuddelkinder des Journalismus gerecht. Nicht nur die Verhunzung der Sprache, die schiefen Bilder, die endlose Folge der Phrasen und Plattitüden beklagen die Kollegen Kritiker, sondern auch das ewige Geduze und die große Nähe zu den Sportlern, ob jubelnd im Sieg oder zersetzend in der Niederlage – treu dem Boulevard-Motto: Wer mit uns im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch wieder runter; dabei ist die Fahrt abwärts meist ein Sturz ins Bodenlose.
Der FAZ-Redakteur Steffen Haffner klagte schon vor einem Jahrzehnt über den Sport im Fernsehen:
Mit Journalismus hat das meist nichts mehr zu tun. Die Moderatoren sind selbst Showstars geworden, die gleich Marktschreier das teuer gekaufte Produkt ihres Senders hochzujubeln haben.
Wer stundenlang Olympia schaut, spürt die Angst der Reporter vor den Sportlern: Kommen sie ihnen zu nah, wird ihnen PR unterstellt und Kotau vor ihren Sendern, die zig Millionen für die Rechte bezahlt haben. Bleiben sie distanziert, gelten sie als gefühlsarme heimatlose Gesellen, die den Stolz der Deutschen vor dem TV-Gerät nicht teilen wollen.
Welches Selbstverständnis haben Sportjournalisten? Ist es der Opportunismus des Boulevards: Läuft es gut, siegen die Moderatoren immer schön mit; geht’s schlecht aus, wissen Journalisten, woran es gelegen hat?
Ein Vorschlag wäre, TV-Interviews direkt nach einem Spiel oder Olympia-Gold mit einem Warnhinweis zu versehen, wie wir ihn aus der Medikamenten-Werbung kennen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen von Sportler-Interview fragen Sie Intendanten und Leitende Redakteure.“
Sportjournalisten sollten sich als Profis profilieren. Deshalb dieser Entwurf einer Charta für das Selbstverständnis von Sportjournalisten:
- Habe Respekt vor Sportlern wie Publikum (vor dem TV und hinter der Zeitung)!
2. Sei Stellvertreter des Publikums, das sich freut und leidet – aber aus der Distanz des Journalisten! Meide Euphorie und Verachtung!
3. Erkläre dem Publikum, was es sieht – verständlich, fachkundig und gut vorbereitet!
4. Lass Dich von Funktionären nicht vereinnahmen, sondern kontrolliere und kritisiere!
5. Schätze unsere Sprache, die unendlich schön ist und reich!
6. Meide Phrasen, Klischees und dumme Fragen!
7. Habe keine Angst vor dem Schweigen!
Nach Münchner Amok: Verliert seriöser Journalismus das Rattenrennen mit sozialen Netzwerken?
Die Heute-Sendung des ZDF am Freitag begann, als gerade die ersten Nachrichten vom Amoklauf in München bekannt wurden und noch keiner wusste: Terror oder Amok? Tote und Verletzte? Barbara Hahlweg moderierte Heute und breitete nach einer Viertelstunde ein wenig verzweifelt die Arme aus, als wollte sie sagen: „Nun bitte, Regie, was machen wir denn jetzt?“ Die Geste sollten die Zuschauer eigentlich nicht sehen, aber alle waren verwirrt.
Was soll eine Moderatorin dem Zuschauer mitteilen, wenn die Schaltungen kaum funktionieren, sie nichts weiß und ihre Gesprächspartner noch weniger? Gutes Fernsehen im Auge von Terror und Amok ist live geradezu unmöglich: Es gibt keine Bilder oder nur die aus den sozialen Medien, die kaum einer einzuordnen weiß.
Was soll eine Moderatorin tun? „Im Unterschied etwa zur ARD werden im ZDF auch die Nachrichten in heute nicht von Sprechern, sondern von Redakteuren präsentiert, die für die professionelle Vorbereitung der Nachrichten verantwortlich sind. Journalistische Erfahrung und sachliche Kompetenz kommen dem Zuschauer direkt zugute“, so steht es auf den Internet-Seiten des ZDF.
Aber was nützt all die Erfahrung und Kompetenz in solch einer Lage? „Hektik und künstlich in die Länge gezogenes Gerede stärken die Glaubwürdigkeit nicht, sie schaden ihr“, sagt Claus Kleber, einer der Heute Journal-Moderatoren. Der hat gut reden, mag Barbara Hahlweg gedacht haben, falls sie dies am Morgen danach in der Süddeutschen Zeitung gelesen hat.
Kleber schrieb den langen Beitrag „Was tun, wenn’s brennt?“ allerdings vor München. Die Druckmaschinen für die SZ-Deutschland-Ausgabe liefen schon mit dem Kleber-Artikel, als noch keiner etwas vom Amok in der Olympia-Mall ahnte. Kleber reagierte auf die Vorwürfe, beim Terror in Nizza und dem Türkei-Putsch nur langsam reagiert zu haben – im Gegensatz zu den sozialen Netzwerken.
ARD-Aktuell-Chef Kai Gniffke hatte schon in einem FAZ-Interview auf diese Vorwürfe reagiert: „Was mache ich bei einem Live-Signal, bei dem ich nicht wissen kann, was passiert? … Wir leisten der Gesellschaft keinen Dienst, wenn wir einfach draufhalten und in einen Wettbewerb um das spektakulärste Bild eintreten.“
Ähnlich lesen wir bei Kleber:
Es ist niemandem geholfen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich auf ein Rattenrennen mit Social Media einlassen… Es muss nicht immer gleich pausenlos gesendet werden. Denn dann steigt tatsächlich die Gefahr, dass in der Bildernot ständig wiederholte emotionale Szenen das Gefühl von Hilflosigkeit verstärken, das Terroristen verbreiten wollen.
Wahrscheinlich wirkt eine fassungslose Barbara Hahlweg ehrlicher auf die Zuschauer als kühle Routine. Was soll sie denn sagen, wenn im Sendeablauf der Sport an der Reihe ist und sie, wie die meisten Zuschauer, Spielerwechsel in der Bundesliga nicht mehr für wichtig hält und das Wetter erst recht nicht?
Der Tagesschau-Moderator Jens Riewa, auch wenn er nur „Sprecher“ ist, versuchte eine Stunde später zwar mit Pokerface jedes Gefühl zu verbannen, aber ihm erging es nicht besser: Keine Nachrichten, kaum eine Leitung, die stand, Blaulicht und immer wieder Blaulicht – und so blieb es, als die ARD in den nächsten Stunden dran blieb. Thomas Roth in den Endlos-Tagesthemen am Münchner Abend war routinierter – ein halbes Jahrzehnt New York prägt eben -, aber er konnte seinen Gesprächspartnern auch nicht mehr entlocken als „Wir wissen noch nichts Genaues“, und dass er nicht mehr entlocken, dass er nicht Gerüchte anzetteln wollte, das zeichnete den Profi aus.
Aber verliert trotzdem das Fernsehen, wenn es ermüdende Dauerschleifen fährt, nicht gegenüber den Sozialen Netzwerken? Morgenmagazin-Moderatorin Dunja Hayali schreibt in einem Tweet:
Ich kann den Impuls ,ich will sofort alles wissen‘ verstehen. Mir geht es auch so. Als mich die erste Eilmeldung aus München erreichte, habe ich sofort den Fernseher angemacht. Es war noch nichts zu sehen. Der News-Junkie in mir war enttäuscht, der Newsmacher in mir dachte, richtig so.
Und was sollen die TV-Journalisten nun tun? Dunja Hayali zitiert die Antwort des Münchner Polizeisprechers Marcus da Gloria Martins: „Wir machen unsern Job.“ Und der Job der Journalisten ist: „Saubere, sachliche, anständige, unaufgeregte und zurückhaltende Arbeit. Unbestätigtes als solches benennen, aber dabei auch niemanden in falscher Sicherheit wiegen.“
Cleber schreibt in seinem Essay, dass „schnell“ zu seinen Lehrzeiten der wichtigste Maßstab war und mittlerweile zum fragwürdigsten geworden ist. Und er stellt die entscheidende Frage: Was wird, wenn die Bürger nur noch Soziale Medien wahrnehmen mit ihren Echtzeit-Dramen und nur noch wenige Bürger den recherchierenden Journalismus? Bei aller Begeisterung für Twitter, bei allem Verständnis, den ungeliebten Öffentlich-Rechtlichen eins auswischen zu wollen, darüber sollten wir in weniger aufgewühlten Zeiten in Ruhe debattieren:
Die USA machen uns gerade vor, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft mit dem ‚common ground‘ auch den ,common sense‘ verliert, wenn die gemeinsame Basis an Informationen wegfällt, auf der Menschen ihre unterschiedlichen Schlüsse ziehen können.
Die Frage stellt sich für alle seriösen Medien, ob TV, Presse und Lokalmedien. Was passiert, wenn die seriösen Medien nicht mehr die meisten Bürger erreichen?
Chefredakteure auf der Insel: „Nur Lokaljournalismus wird uns die Zukunft sichern“
Chefredakteure von bedeutenden Regionalzeitungen müssen sich den ganzen Tag Gedanken machen über diesen Leser, das flüchtige Wesen, kommen aber immer weniger mit ihm in Kontakt – weil sie, eingekeilt zwischen Redaktion und Verlag, mehr Manager und Produktentwickler sind, Etat-Verwalter und Anzeigenkundenbespaßer, Repräsentant und Chef, aber nie noch selbst Reporter. Jeder, wirklich jeder Chefredakteur schwärmt bei Gelegenheit von den guten alten Zeiten, als er selbst noch an der Front um die neueste Nachricht kämpfte, und fällt schlecht gelaunt in sich zusammen, wenn er ans nächste Meeting mit den Gesellschaftern denkt.
So genau wie SZ-Reporter Ralf Wiegand hat noch keiner Chefredakteurs Not beschrieben. „Reif für die Insel“ ist der Titel seiner Reportage über fünf Chefredakteure, die auf der Nordsee-Insel Föhr eine Woche lang den Insel-Boten produziert habe. Stefan Kläsener, der Chef des Flensburger Tageblatt, hat vier der besten deutschen Chefredakteure für seine Insel gewinnen können: Michael Bröcker (Rheinische Post), Jost Lübben (Westfalenpost – dort Nachfolger von Kläsener), Wolfram Kiwit (Ruhr-Nachrichten), Ralf Gansenhanslüke (Neue Osnabrücker Zeitung).
Was sind das für Zeiten, in denen Chefredakteure mal wieder das machen, was sie als das Wichtigste sehen: Lokaljournalismus! Und mal was anderes als Leitartikel schreiben, die im Deutschlandfunk zitiert werden! Ob sie auch in Bad Berleburg, Leverkusen, Castop-Rauxel und Quakenbrück bald mal als Reporter auftauchen? Sie wünschen es sich bestimmt, um „das Gemurmel wieder hören, aus dem die Nachrichten entstehen“ (Wiegand) – aber dann kommt der Produktentwickler und lädt zum unsagbar wichtigen Meeting…
Nur der Lokaljournalismus wird uns die Zukunft sichern,
sagt Michael Bröcker, der Deutschlands große, vielleicht größte Regionalzeitung leitet. So sei es, werte Manager und Produktentwickler!
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Quelle: SZ 22. Juli 2016 „Reif für die Insel“
Demut tut auch Journalisten gut: Interview mit einem Flüchtlingshelfer in Nahost
Wir wissen oft nicht, wer gerade gegen wen ist, und Kugeln tragen keinen Absender. Im Krieg gibt es keine Engel… Die Engel sind die Menschen, die zu überleben versuchen. Die kleinen Kinder, die plötzlich aus Ruinen auftauchen, wo kein Mensch noch Überlebende vermutet…
Wenn du dort bist, wirst du als Helfer zu einem, der funktionieren muss. Der in alle Richtungen schaut, angerührt ist und gleichzeitig ständig auf der Hut sein muss.
So Muhannad Hadi, Leiter des UN-Welternährungs-Programm (World Food Programm), im Interview mit Michael Bauchmüller und Stefan Braun von der Süddeutschen Zeitung. Die Reihe „Reden wir über Geld“ ist eine Perle der Wirtschaftsseiten: Geld, viel Geld, spielt nicht nur in Unternehmen und Konzernen und an den Börsen eine Rolle, sondern überall wo Menschen leben – und sei es in syrischen Ruinen.
Der Appell an die Demut könnte auch ein Appell an Journalisten sein, ihre Redaktionsräume einmal im Jahr zu verlassen und dorthin zu reisen, wo Armut und Not herrschen:
Es ist verrückt, aber das Erleben von Not schenkt einem etwas: dass man das, was man hat, ganz anders schätzt. Und man schaut plötzlich anders auf seine Umwelt…
Wenn du aus einem Flüchtlingslager zurückkommst in ein schickes Hotel, in ein Restaurant, dann denkst du ganz anders über die Leute, die sich gerade am Nebentisch über ein falsches Gedeck, eine versalzene Soße, ein schlecht gebratenes Steak beschweren. Manches wird lächerlich.
Der IS und das Geld ist keine neue Nachricht: Aber was geschieht in den Köpfen und Seelen der Menschen, die gut von diesem Geld leben?
Der IS ist kein Staat, aber er verhält sich wie ein Staat, und er fordert uns heraus. Er hat große finanzielle Ressourcen; eine Familie bekommt in ihrem Herrschaftsbereich bis zu 400 Dollar im Monat, während ein Universitätsprofessor in Damaskus nur 20 Dollar bekommt. Das klingt ganz banal und ist extrem gefährlich…
Wenn eine Mutter ein paar Hundert Dollar vom IS nimmt, dafür dass sie Kinder erzieht, sich an die strengen Regeln hält, überleben will – was für ein Gift verbreitet sich dann in den Köpfen ihrer Kinder? Was für einen Effekt hat das auf künftige Generationen? Was da entsteht, ist eine Katastrophe.
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Quelle: SZ 22. Juli 2016 „Im Krieg gibt es keine Engel“
Zehn Thesen zur Zukunft des Journalismus (Teil 20 mit Bilanz der Kress-Serie)
„Wird mit dem Internet alles besser? Also multimedial, crossmedial, transmedial?“ Darum geht es in der letzten, der zwanzigsten Folge der Kress-Serie „Journalismus der Zukunft“. So soll der Redakteur der Zukunft arbeiten: Er soll an Facebook, WhatsApp und Snapchat denken, Communitys betreuen, Videos produzieren und Podcasts, Grafiken, Snowfalls undsoweiter. Doch – „die Technologiedebatte überlagert völlig, worum es wirklich geht“, warf Nannen-Schulleiter Andreas Wolfers ein bei einer Tagung in der politischen Akademie Tutzing. „Nur weil wir digitale Tools nutzen, ist es keine andere Art von Journalismus.“
Wolfers führt eine der großen deutschen Journalistenschule, er preist das Handwerk, die klassischen journalistischen Tugenden:
Präzise Recherche, genaue Quellenprüfung, sicherer Umgang mit Texten, Themengespür, Relevanz aufspüren: Was wähle ich aus? Was mache ich sie groß? Das ist völlig unabhängig, ob Print, Online, Bewegtbild usw. Es lässt sich alles zurückführen auf die klassischen journalistischen Tugenden.
Allerdings erweitert das Digitale die Möglichkeiten: Journalisten können tiefer und präziser recherchieren, und sie haben mehr Kanäle zur Verfügung. Bessere Recherche und größere Verbreitung: Dem Journalismus ging es noch nie so gut wie heute.
Wenn davon auch die Demokratie profitieren könnte! Sie braucht informierte Bürger, und sie braucht Bürger, die einen annähernd gleichen Informations-Stand haben. Nur wer informiert ist, kann auch mitreden und vernünftige Entscheidungen fällen – und nur wer weiß, dass auch die Bürger, die mit ihm streiten, gut informiert sind.
Die Serie schließt mit zehn Thesen zur Zukunft des Journalismus:
- Journalismus ist Freiheit: Er sichert die Qualität der Demokratie und das Selbstgespräch der Gesellschaft.
- Journalismus ist unabhängig.
- Journalismus richtet sich nach den bewährten Regeln (und braucht keine neuen für die neuen Medien): Präzise Recherche, Kontrolle der Mächtigen und über allem die Achtung vor der Wahrheit.
- Journalismus braucht Journalisten, die die Regeln kennen und achten.
- Journalismus gedeiht nur mit exzellent ausgebildeten Journalisten.
- Journalismus ist lokal und erklärt die Welt aus der Perspektive der Leser.
- Journalismus wird immer wichtiger als Gegenspieler der Unübersichtlichkeit im Netz.
- Journalismus muss experimentieren und gerade im Netz die Chancen der Technik nutzen.
- Journalismus ist angewiesen auf eine Existenz-Garantie.
- Journalismus hat eine große Zukunft vor sich.
Mehr:
Was ist ein gutes Porträt? Gedanken zur menschlichsten Form des Journalismus
Ich lese, höre nicht auf zu lesen, mag den Menschen, der schreibt, und noch mehr den, über den er schreibt: Das sind meine liebsten Porträts. Es gibt auch die anderen: Ich weiß nach der Lektüre, warum ich einen Menschen nicht mag. Oder ich verstehe, warum Schurken so sind und so geworden sind, wie sie sind. Porträts zeigen die Widersprüchlichkeit der Welt und den größten Widerspruch überhaupt: Die Menschen.
Am besten ist ein Porträt, wenn es mich verwandelt: Eigentlich mochte in den Menschen im Porträt nicht, nachher mochte ich ihn. Erzählen kann verwandeln.
Nehmen wir ein Porträt von Tobias Haberl und Matthias Ziegler, dem Fotografen. Die beiden haben Margot Käßmann zehn Tage lang auf einer Asien-Reise begleitet und im Süddeutsche Zeitung Magazin ein schönes Porträt geschrieben, einfach ein schönes. Ich mochte Margot Käßmann nicht, mochte nur einen einzige Satz von ihr, nach ihrem doppelten Rücktritt: „Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“ (solch einen Satz kann man nicht einfach erfinden, er muss in dem Teil des Bewusstseins liegen, in dem der Sinn-Proviant fürs Leben aufbewahrt ist).
Eigentlich mochte ich Margot Käßmann nicht, nach dem Porträt mag ich sie.
Ermutigend ist, dass Chefredaktionen noch die 10-Tage-Reise zweier Mitarbeiter bezahlen wollen und können – also nicht husch-husch, ein bisschen googeln, ein Gespräch, vielleicht noch ein, zwei Vorträge hören und dann schnell schreiben. In zehn Tagen lernt ein Journalist einen Menschen kennen, zehn Tage kann sich selbst ein Schauspieler nicht verstellen oder in eine Porträt-affine Rolle schlüpfen.
Das geling erst recht nicht auf einer Asien-Reise, die auch für den Journalisten kein Vergnügen ist: Immer nahe der Frau, um die es geht, selbst wenn die nachts im Bademantel zum Hotel-Pool geht und zwanzig Bahnen dreht; immer die Hitze, Anti-Mücken-Sprays, die Fülle an Eindrücken und die stets bange Frage: Was kann ich von dem Vielen gebrauchen? Wer ist diese Frau wirklich?
Tobias Haberl beobachtet, beschreibt – und erzählt; er ist ein guter Erzähler, ein Märchen-Erzähler, weil Märchen wirklicher sind als die Wirklichkeit. Und dann rutscht ihm in der langen, gut 4000 Wörter umfassenden Reportage ein Satz durch, ein einziger Satz, der fast alles zerstört. Plötzlich hört er mittendrin auf zu erzählen und fällt in einen Laudatoren-Festton, schreibt das Zeugnis:
Margot Käßmann ist faszinierend… hat eine unglaubliche Energie und Lebenslust, viel Disziplin, ist eine ausgezeichnete Rednerin und charmante, kluge, selbstironische Gesprächspartnerin, aber ihre Ausstrahlung ist die einer ganz normalen Frau…
Da hat sich der Reporter überwältigt, liegt seiner Protagonistin zu Füßen, anstatt einfach zu erzählen und dem Leser das Urteil zu überlassen. In seiner selbst verschuldeten Überwältigung kommt er mit seiner Beobachtungen in Konflikt: „Viel Disziplin“ lobt er, Disziplin?, kurz zuvor hatte er geschrieben, sie rede oft schneller als sie denken kann, wäge nicht immer ab.
Überlass dem Leser das Urteil, das ist klüger!
Der Reporter ist eh der Stärkere: Er wählt aus seinen Beobachtungen aus, wählt die Worte, das Tempo, die Atmosphäre der Reportage. Also muss er dem Leser nicht alles vorkauen, erst recht nicht seine Begeisterung (oder auch das Gegenteil) überstülpen, er soll erzählen, das reicht.
Hat das kein Gegenleser in der Redaktion entdeckt?
Gegen Ende der Reportage rutscht noch so ein Satz durch:
Käßmann hat seit dieser einen dummen Nacht vor sechs Jahren ziemlich viel richtig gemacht. Als hätte sie…
Da hat sich der Leser schon längst ein Urteil gebildet, er will nicht den Reporter als Oberlehrer erleben, der noch schnell zeigen will, er sei der Klügere. Es ist oft ein Problem von Distanz und Nähe: Zu schnell gerät der Reporter zu nah an den Menschen heran. Spätestens beim Schreiben sollte er die professionelle Distanz wieder wahren, vor allem im Interesse der Leser.
Ob sich der Reporter zu viel Zeit beim Schreiben gelassen hat? Indirekt erzählt er von seinem langen Kampf: Sechs Wochen nach der Reise besucht er Margot Käßmann noch einmal auf Usedom, wo sie Kaffee kocht, Kuchen gebacken hat – und der Reporter fast seine Distanz verliert. Der Usedom-Schluss wirkt drangehängt, ist zu lang.
Dennoch: Es ist ein schönes Porträt, eines, das den Leser überraschen, gar verwandeln kann.
Schreibe wahr! Die sechs Regeln der journalistischen Ethik (Journalismus der Zukunft – 13)
Was ist Wahrheit? Philosophen streiten seit Jahrhunderten – und Journalisten? Immer wieder flammt der Streit auf, was Wahrheit im Journalismus ist, warum der Pressekodex von Wahrhaftigkeit spricht (was ist das?) und warum wir oft die einfachen Regeln nicht beachten. Darum geht es in der 13. Folge der Kress-Serie „Der Journalismus der Zukunft“, in der auch die Wahrhaftigkeit erklärt wird.
Das sind die einfachen Regeln für einen Journalisten, der wahr informieren will:
1. Lüge nicht, also schreibe nicht das Gegenteil von dem, was Du als richtig erkannt hast.
2. Verschweige nichts, was Deine Mitbürger wissen müssen, um die Demokratie lebendig zu halten.
3. Misstraue allen, die die Wahrheit verkünden, und kontrolliere die, die wahr reden sollten.
4. Schreibe so klar, dass Du nicht missverstanden wirst.
5. Lasse Dich nie vor einen Karren spannen, ob Politik, Werbung, Wirtschaft oder Propaganda gleich welcher Art.
6. Folge dem Pressekodex, es sei denn, Du kannst eine andere Entscheidung begründen und vor Dir rechtfertigen.
Diese Regeln lassen sich in einem Satz zusammenfassen, den Hajo Friedrichs im letzten Interview vor seinem Tod gesprochen hat und der zur ersten Journalisten-Weisheit geworden ist: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken.“
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