Alle Artikel mit dem Schlagwort " Kontrolle der Mächtigen"

Wer stiftet einen Preis für Journalisten, die Journalismus kritisch sehen?

Geschrieben am 30. Mai 2016 von Paul-Josef Raue.
Frank A. Meyer, Cicero-Kolumnist (Foto: cicero.de)

Frank A. Meyer, Cicero-Kolumnist (Foto: cicero.de)

Es gibt Preise für Journalisten, die über Wölfe schreiben oder „Die Apotheke in der Gesellschaft“, es gibt Preise für wirtschaftliche Bildung und Natur-Arzneien – aber keine für Journalisten, die über den Journalismus nachdenken. Solch einen Preis müsste es  für Journalisten geben, die sich kritisch mit Journalismus auseinandersetzen, schlägt Frank A. Meyer in der aktuellen Ausgabe von Cicero vor.

Cicero-Kolumnist Frank A. Meyer ist einer, der sich stört am elitären Blick vieler Journalisten auf die Wirklichkeit.  Drei Gründe nennt er für die Abgehobenheit von Journalisten:

  1. „Die Gesellschaft spiegelt sich nicht mehr in den Lebensläufen der Medienarbeiter.“ Das ist korrekt und deckt sich mit den Lebensläufen der meisten Politiker. Mein erster Lokalchef lenkte im ersten Beruf Straßenbahnen; so schrieb er auch, aber die Leser mochten ihn, weil er wusste, wie sie denken.

  2. Zu starke Nähe zu den Mächtigen der Gesellschaft: „Dazugehören ist alles.“

  3. „Schwarm-Mentalität ist stilbildend. Dem Kollegen gefallen und keineswegs missfallen zu wollen.“

Meyer fragt und irrt: „Wenn die Medien aber keine vierte Gewalt sind und keine Kontrollinstanz sind, was sind sie dann?“ Sie sind nach unserer Verfassung Kontrollinstanz. Ob man sie deshalb vierte Gewalt nennt, darüber kann man streiten. Juristisch sind sie es nicht, faktisch sind sie es – und werden auch so vom Verfassungsgericht gesehen.

Im Spiegel-Urteil stellt das Bundesverfassungsgericht fest: „In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung.“

Das ist aber kein Grund für Arroganz, das ist ein Grund für Meyers Forderung im Juni-Heft von Cicero: Seid demütig!

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Quelle: Das neue Handbuch des Journalismus, Seite 21

 

Gut in Verlagen: Konservative Verleger gegen linksliberal-grüne Redakteure

Geschrieben am 18. Mai 2016 von Paul-Josef Raue.

Lutz Schumacher ist Geschäftsführer und Chefredakteur des Nordkurier in Mecklenburg-Vorpommern, in einer dünn besiedelten Gegend also, in der die Werbung als Geschäfts-Grundlage der Zeitung immer weiter wegbricht. Er reagiert zum Blogeintrag „Redakteure sollen Chefredakteur abwählen können“ in einem Facebook-Beitrag:

Zeitungen – ob digital oder Print – benötigen eine solide wirtschaftliche Basis. Wenn diese nicht privatwirtschaftlich organisiert ist, müsste es über ein öffentlich-rechtliches Modell geschehen, mit allen Gefahren und Einflussnahmen, die so etwas mit sich bringt: Einfluss durch Politiker, informelle Meinungskartelle, Gefahr der totalen Kontrolle wie gerade in Polen und Ungarn sichtbar.

Natürlich hat der öffentlich-rechtliche Ansatz auch Vorteile, weil er in der Regel von wirtschaftlichen Interessen frei ist. Aus gutem Grund haben wir deshalb in Deutschland ein duales System: Öffentlich-rechtliche Sender und privatwirtschaftliche Zeitungen. Das sichert die Meinungs- und Medienvielfalt Mehr als jedes andere Modell.

Und es ist in diesem Zusammenhang auch gut, dass es durch die überwiegend liberal-konservative Verlegerschaft ein Gegengewicht zur überwiegend linksliberal-grünen Mehrheitsmeinung in den Redaktionen gibt. Beides ist wertfrei gemeint, ich beschreibe hier lediglich die Realität. Eine „demokratische“ Presse wäre in Wirklichkeit eine Meinungsdikatatur der Redaktionsmehrheiten. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwingen dagegen zur Vielfalt, um alle wesentlichen Zielgruppen zu bedienen.

 Auf Schumacher antwortet der freie Journalist Raimund Hellwig:
Alles richtig, Herr Schumacher, aber dennoch problembeladen, wenn es in die Praxis geht. Die stabile wirtschaftliche Basis hat dann ihren öffentlichen Zweck, wenn sie die Produktion von Öffentlichkeit ermöglicht. Wenn die stabile wirtschaftliche Basis genutzt wird, Öffentlichkeit zu reduzieren, dann wird es schwieriger – Stichwort lokale Öffentlichkeit. Wie steht es denn mit der Meinungsvielfalt, wenn die Redakteure in den Lokalredaktionen abgebaut werden und nur noch zum „Produzieren“ kommen, kaum dass der Mitbewerber die wirtschaftliche Stabilität verloren hat und verschwunden ist?
Welche Möglichkeiten zur kritischen Bearbeitung hat man noch, wenn heute auf einen Redakteur zwei Pressestellenmitarbeiter (und manchmal auch –profis) kommen? Und wie ist eine Zeitung als Träger von Meinungsvielfalt zu bewerten, die nur Bücher rezensiert, die im eigenen Verlagshaus verlegt und gedruckt wurden?
Medienhäuser sind immer auch Bestandteil des lokalen wirtschaftspolitischen Diskurses, weil sie naturgemäß und legitimerweise Interessen haben. Wie sollte das auch anders sein? Aber findet dieses (berechtigte) Interesse einen notwendigen Widerhall in der lokalen Berichterstattung?
Ihre Einschätzung zur liberal-konservativen Verlegerschaft als Gegenstück zur linksliberal-grünen öffentlich-rechtlichen Landschaft halte ich für richtig (Bayern ausgeklammert). Sie gewinnt aber erst dann an Relevanz, wenn die Zeitung ihre ureigenste Aufgabe zur Information umfänglich wahrnimmt. Einfluss durch Politiker, informelle Meinungskartelle und ähnliches sind eben auch im privatwirtschaftlichen Bereich möglich, und hier will ich gar nicht auf den berühmten Politiker kommen, der mit dem ebenso berühmten Verleger im Rotary-Club sitzt.
Redakteure wollen in der Regel die umfassende Information. Ob sie es im notwendigen Rahmen vor diesem Hintergrund können, sei dahingestellt.
Im Übrigen hat sich das von Ihnen skizzierte Modell bewährt. Der völlig unerwartete Einbruch des Internets in die Zeitungsgeschäfte hat aber viele neue Fragen aufgeworfen. Linksliberal-grüne und konservativ-liberale Meinungen sind dann nämlich ziemlich unwichtig, wenn jeder publizieren darf. Die Zeiten ändern sich, die Tageszeitungen, die eine Antwort auf das digitale Zeitalter haben, sind in der Minderheit, und die, die eine gute Antwort haben, eine ganz seltene Spezies.
Ich bin übrigens kein Anhänger von Karl Marx. Eher einer von guter Redakteursarbeit.

Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft: „Was ist, wenn es rauskommt?“

Geschrieben am 6. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Ein guter Reporter recherchiert nicht, um einen Mächtigen zum Rücktritt zu zwingen oder ins Gefängnis zu bringen. Auch wenn eine Portion Jagdfieber dabei sein sollte: Ein guter Reporter kontrolliert die Macht und schaut genau hin, wo und wie sich die Mächtigen um jeden Preis – oder fast jeden Preis – die Macht sichern.

Ein Gerichtsverfahren oder gar einen Rücktritt können die Leitartikler fordern. Nicht von ungefähr ist im angelsächsischen Journalismus klar unterschieden: Recherche ist die Sache der Reporter, der Kommentar und die Linie des Blattes ist Sache der Editoren, die in den klimatisierten Etagen der Zentrale sitzen.

Der Rücktritt eines Regierungschefs ist Sache des Parlaments oder des Präsidenten oder – wie in Island in Folge der Panama-Papers – Sache des Volks, das auf die Straße geht. Ein solcher Rücktritt ist sozusagen der Kollateralschaden einer Recherche.

Bodo Hombach (Porträt von seiner Homepage)

Bodo Hombach (Porträt von seiner Homepage)

Ziel einer Recherche ist durchaus, die Mächtigen zu warnen und  gar in Furcht vor dem Herrn zu halten, dem Volk also und seinen recherchierenden Treuhändern, den Journalisten. Im Handbuch des Journalismus* loben wir den Willen zur Wahrhaftigkeit bei Journalisten wie Politikern und zitieren Bodo Hombach, der Politiker war, dann Verleger der WAZ und heute zweifacher Honorarprofessor: Er deutete Kants kategorischen Imperativ „Was ist, wenn es alle tun?“ um in den kategorischen Imperativ der Mediengesellschaft: „Was ist, wenn es rauskommt?“

An diesen kategorischen Imperativ haben die Panama-Papers die Mächtigen wieder erinnert – übrigens nicht nur die in westlichen Ländern, sondern auch die Diktatoren und Kriegsherren dieser Welt.

Zudem sind die Panama-Papers eine Antwort auf die „Lügenpresse“-Prediger und –Anhänger.

*Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus, Seite 293 (Rowohlt 2016)

Ohne tiefe Recherche keine Demokratie und keine Kontrolle der Macht (Journalismus der Zukunft – 9)

Geschrieben am 6. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Journalisten stürzten im Watergate-Skandal den US-Präsidenten, und sie deckten den systematischen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester auf. Diese  Recherchen schrieben das Drehbuch für zwei Filme, die mehrere Oscars gewannen:

„Die Unbestechlichen“ (All the president’s men) und jüngst „Spotlight“ über das Reporter-Team des Boston Globe. Die beiden Filme sind ein Plädoyer für die tiefe und professionelle Recherche. Nur wenn Journalisten und Verleger mit Leidenschaft und Geld  die Recherche weiter fördern, wird unsere Demokratie lebendig bleiben; nur so  wird die Kontrolle der Mächtigen weiter funktionieren. Darum geht es im neunten Teil der Kress-Reihe „Journalismus der Zukunft“.

„Spotlight“ zeigt eindrucksvoll die Schwierigkeiten der Recherche im Lokaljournalismus zwischen Nähe und Distanz. In einer Schlüsselszene des Films treffen sich „Spotlight“-Chef Robinson und ein Freund, der den Kardinal berät. Dieser appelliert an den Reporter: „Das ist doch unsere Stadt. Hier leben Menschen, die die Kirche brauchen und deren Vertrauen zerstört wird. Und diese Priester sind doch nur Einzelfälle, wenige faule Äpfel.“

Dieses Gemeinschafts-Gefühl „Wir Kinder dieser Stadt müssen doch zusammenhalten“ schließt den Fremden aus und argumentiert mit dem Wohl der Stadt: Doch die Mächtigen verwechseln – nicht nur in Boston – bisweilen ihr eigenes Wohl, also Wiederwahl und Ruhm, mit dem Wohl der Stadt. Das Wohl der Stadt ist das Wohl der Bürger, die alles Wichtige wissen müssen.

Eine gute Lokalredaktion braucht  beide: Den Fremden mit seiner Distanz und  den Einheimischen, der die Stadt und ihre Menschen kennt, der Kontakte hat und sie zu nutzen weiß (oder auch nicht). Beide zusammen sind unschlagbar.

 

 

 

 

Das neue Gold des Journalismus: Vier Erkenntnisse aus den Panama-Paper-Recherchen

Geschrieben am 5. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Die Zeit des einsamen Reporters ist vorbei. Das ist eine der Erkenntnisse, die wir aus den Panama-Papers ziehen können. Teams werden den Einzelkämpfer ablösen, denn 2,6 Terabyte an Daten und über 11 Millionen Dokumente – wie bei den Panama-Papers – zwingen zur Zusammenarbeit, auch wenn dies den meisten Journalisten noch schwerfällt. Die Zusammenarbeit ist schon in einer Redaktion bisweilen schwer;  erst recht kompliziert wird sie, wenn sie mit mehreren Redaktionen erfolgt, die man lange als Konkurrenten gesehen und vielleicht sogar bekämpft hat.

Lange Zeit waren aufwändige Recherchen eine Domäne der Magazine – allen voran der Spiegel -, die allein über die Kapazität verfügten. Eine Tageszeitung, die Süddeutsche Zeitung,  ist dabei, bei den investigativen Recherchen den Spiegel zu überholen. Die entscheidenden Köpfe in der SZ hat der Spiegel ziehen lassen: Chefredakteur Kurt Kister (falsch – siehe Kommentar unten), Chef-Rechercheur Hans Leyendecker und Georg Mascolo, der den Rechercheverbund mit NDR und WDR leitet.

Wie wird der Spiegel reagieren, falls er seine internen Querelen mal erledigen kann? Oder Stefan Aust, auch Ex-Spiegel-Chefredakteur, bei Springers  Welt? Mit wem werden sie kooperieren? Wie werden sich die großen regionalen Zeitungen organisieren, wenn sie die große Recherche auch für sich entdecken und  Kooperation nicht nur als Synergie-Effekt sehen? Recherche kostet aber Geld.

„Daten sind das Gold des Journalismus“ schreiben Frederik Obermaier und Bastian Obermayer, die SZ-Reporter, euphorisch; doch einer ist überfordert, in den Daten das Gold zu entdecken:  11 Millionen Dokumente – dafür reichte nicht einmal ein Reporterleben! Also bleibt nur die Zusammenarbeit.

Nicht die Mönchszelle ist noch das Vorbild für Journalisten, das kleine Ein-Raum-Büro,  sondern der Newsroom, in dem Kommunikation mehr ist als ein Modewort. Das ist die zweite Erkenntnis aus den Panama-Papers. Dazu kommt ein virtueller Newsroom: Journalisten, Hunderte und Tausende von Kilometern entfernt, arbeiten in einer Wolke, in der alle Daten, Fragen und Antworten, Artikel und Entwürfe  stecken.

Die dritte Erkenntnis: Techniker müssen zum Team gehören. Dateien gibt es in unterschiedlichen Formaten, die lesbar gemacht werden müssen, vor allem wenn es Daten gibt, die ein halbes Jahrhundert alt sind. Techniker müssen zudem den Dialog der Reporter sicher machen: Robuste Computer-Verbindungen, sicher gegen Hacker und Abhör-Spezialisten.  Zwar gibt es in der SZ-Redaktion mittlerweile einen Tresor und mit Nummerncodes gesicherte Zimmer, aber sichere Leitungen sind noch wichtiger.

Die vierte Erkenntnis: Die Goldsucher brauchen die alte Moral in den neuen Daten-Minen. Wolfgang Krach, einer der beiden SZ-Chefredakteure,  hat sie am ersten Tag der Panama-Papers im Leitartikel formuliert:

Die Frage ist nicht ausschlaggebend, ob die Daten rechtmäßig in den Besitz der Enthüller gekommen sind und ob  Medien sie veröffentlichen dürfen. „Entscheidend sind zwei andere Kriterien: Kann man der Quelle trauen? Und: Gibt es ein berechtigtes allgemeines Interesse.“

Bei aller Euphorie über diese historische Stunde des Journalismus: Der Reporter mit seinem Spürsinn und seiner Hartnäckigkeit wird nicht verschwinden, erst recht nicht in kleinen Lokal- und Regionalredaktionen. Auch die Panama-Papers beginnen mit dem Spürsinn und der Hartnäckigkeit eines SZ-Reporters, der einen Anruf bekommt: „Hallo, ich bin John Doe. Interessiert an Daten? Ich teile gerne“.

Der Rest wird irgendwann ein Film werden, vielleicht sogar mit Oscar-Ambitionen.

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Quellen:

SZ vom 4. April und NDR-Zapp „Die Geschichte der Panama Papers“

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Zur Veröffentlichung dieses Blogs in Newsroom schrieb  ein Journalist diese Mail:

PJR irrt, wenn er sagt, der Spiegel habe die entscheidenden Leute ziehen lassen.
Leyendecker kam vom Spiegel, stimmt, Kilz hatte das eingefädelt, auch er zuvor beim Spiegel, musste dort gehen, beide dann im Gespann bei der SZ; Leyendeckers Geschichte aus Bad Kleinen ist bis heute unbewiesen, (s)ein eigenwilliges Solitär, sie war mit entscheidend für den Wechsel.
Georg Mascolo – desgleichen, in Hamburg geschasst.
CR Kister ist ein SZ-Eigengewächs, kommt aus der Lokalredaktion Dachau.
Und was haben Bastian Obermayer und Frederik Obermaier mit dem Spiegel gemein? Nichts. Aber sie sind die treibenden Kräfte bei den panamapapers.
Und ungeklärt ist und wird wohl bleiben: wer ist die dieser John Doe?

Meine Antwort:

Er hat in einem Recht. Die Namen klingen ähnlich, beide waren oder sind Chefredakteure der SZ, aber nur einer kam vom Spiegel:

Kurt Kister ist in der Tat ein SZ-Eigengewächs, der nie verleugnet hat, dass er in einer Lokalredaktion zu einem exzellenten Journalisten wurde. Kister folgte auf Hans-Werner Kilz als Chefredakteur der SZ. Kister dürfte einer der besten Journalisten in Deutschland sein; zudem hat er  den Wert der tiefen Recherche erkannt und Hans Leyendecker – trotz Bad Kleinen – vom Solitär zum Ressortleiter befördert. Es ist nicht nur geglückt, sondern zum Glücksfall für die SZ und unsere Demokratie geworden – nicht erst mit den Panama-Papers.

Hans-Werner Kilz war Chefredakteur des Spiegel. Als Chefredakteur des Spiegel entlassen zu werden, gilt nicht als ehrenrührig, mittlerweile gilt es nahezu als Gütesiegel. In der SZ hatte Kilz auf jeden Fall in schweren Jahren sehr heilsam gewirkt.

Dass Reporter oft eigenwillige Solitäre sind, das stimmt. Wer gute Journalisten haben will, muss das ertragen. Immerhin hat Leyendecker, eigenwillig oder nicht, ein Investigativ-Ressort bei der SZ geschaffen, das führend ist in Deutschland; eines von dieser Qualität würde dem Spiegel gut tun. Dass Bad Kleinen eine bittere Niederlage für Leyendecker war, dürfte er selber wissen; dass er offenbar daraus gelernt hat, ehrt ihn.

Die beiden Obermaiers, der eine mit i, der andere mit y, haben nicht beim Spiegel, sondern in Leyendeckers Ressort genau die Basis gefunden, die Reporter für eine tiefe und professionelle Recherche brauchen.

Spotlight – ein exzellenter Film über Journalismus, Recherche, Professionalität und Unabhängigkeit

Geschrieben am 2. März 2016 von Paul-Josef Raue.

Spotlight ist ein Film über Journalisten und für Journalisten – der gerade den Oscar für den besten Film gewonnen hat. Erzählt wird die wahre Geschichte des Reporter-Teams „Spotlight“. Es recherchierte für den Boston Globe, dass Hunderte von katholischen Priestern Kinder missbraucht hatten mit Wissen des Kardinals.

Wer mit Begeisterung Journalist ist, sollte sich diesen Film ansehen aus vier Gründen:

  1. Spotlight zeigt, dass Recherche die Basis des Journalismus und der Demokratie ist: Nur so gelangen Nachrichten in die Öffentlichkeit, die von den Mächtigen unterdrückt werden. Die Demokratie lebt nicht nur von Pressemitteilungen aus den Zentralen, sondern von den Recherchen aus den Hinterzimmern der Macht. Für die Bürger sind diese Nachrichten oft wichtiger als die Verlautbarungen der Mächtigen.
    Pressefreiheit, die unsere Verfassung garantiert, ist vor allem die Freiheit der Recherche – und daraus abgeleitet auch die Pflicht zur Recherche.
  2. Spotlight zeigt, wie eine gute Recherche abläuft:
    Erstens brauchen die Reporter Hartnäckigkeit, denn jede schwierige Recherche verrennt sich immer wieder in Sackgassen und scheint zu scheitern.
    Zweitens braucht die Recherche ein Team, das aus unterschiedlichen Charakteren zusammengesetzt ist, das zusammen arbeitet, das sich gegenseitig hilft und beim Streit um die richtige Strategie nie das Ziel aus den Augen verliert. Der investigative Einzelgänger ist selten, er lebt vor allem in den Kriminalromanen von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Recherchierende Reporter sind weder abgebrüht noch ausgekocht, sie brechen auch keine Regeln, sondern gehen – wenn ihnen Dokumente vorenthalten werden – auch mal vor Gericht und klagen die Herausgabe ein.
    Drittens ist Recherche erst einmal Lesen in Akten, Lesen in Archivbänden, Lesen in Mails und Briefen von Lesern, auch von denen, die man als Querulanten abgestempelt hatte, Lesen in den eigenen Artikeln, die schon erschienen sind. Die Recherche in Spotlight kommt vom Fleck, als in der Bibliothek die Jahresbände des katholischen Bistums entdeckt werden mit Angaben sämtlicher Priester und der Gemeinden, in denen sie wirkten.
    Dann folgt das Kombinieren, die Entdeckung der inneren Logik der Geschichte: Wo ist der rote Faden? Was hängt miteinander zusammen? Mit wem müssen wir sprechen? Wo sind die besten Informanten?
    Schließlich braucht man die Gespräche mit Opfern, Anwälten und Tätern, und man braucht Geduld, nach der siebten zugeschlagenen Tür weiterzumachen, und man braucht die Gabe, trotz aller Distanz den Informanten Sicherheit und Vertrauen zu garantieren. Mindestens eine Frau braucht jedes Recherche-Team.
    Auf eine Tiefgarage zu hoffen, in der hinter einem Pfeiler ein Informant wartet mit einem dicken Umschlag – das ist weltfremd.
  3. Spotlight beleuchtet den Lokaljournalismus mit seinem Mix aus Nähe und Distanz: Den Anstoß zur Recherche gibt der neue Herausgeber Marty Baron – einem Chefredakteur bei uns vergleichbar -, gerade aus Florida nach Boston gekommen: Er liest in einer Kolumne vom Missbrauch und fragt in seiner ersten Ressortleiter-Konferenz, ob weiter recherchiert werde. Ein nassforscher Redakteur spöttelt: Das ist eine Kolumne, da wird nicht mehr recherchiert.
    Es wird recherchiert – auch gegen den Unwillen von Spotlight-Chef Walter Robinson, der Hinweise unterdrückt hatte, um seiner Heimatstadt und der Kirche nicht zu schaden.
    In einer Schlüsselszene des Films treffen sich Spotlight-Chef Robinson und ein Freund, der den Kardinal berät: „Das ist doch unsere Stadt. Hier leben Menschen, die die Kirche brauchen und deren Vertrauen zerstört wird. Und diese Priester sind doch nur Einzelfälle, wenige faule Äpfel.“
    Dieses Gemeinschafts-Gefühl „Wir Kinder dieser Stadt müssen doch zusammenhalten“ schließt den Fremden aus: „Der neue Herausgeber kommt aus New York und Florida, für ihn ist Boston nur eine Zwischenstation in seiner Karriere. Bald geht er wieder.“
    Argumentiert wird mit dem Wohl der Stadt: Doch die Mächtigen verwechseln – nicht nur in Boston – bisweilen ihr eigenes Wohl mit dem Wohl der Stadt. Das Wohl der Stadt ist das Wohl der Bürger, die alles Wichtige wissen müssen.
    Eine gute Lokalredaktion braucht beide: Den Fremden mit seiner Distanz; er ist nicht Teil eines Netzes von Freunden, die man schon aus dem Kindergarten kennt. Und sie braucht den Einheimischen, der die Stadt und ihre Menschen kennt, der Kontakte hat und sie zu nutzen weiß (oder auch nicht). Beide zusammen sind unschlagbar.
  1. Spotlight beweist, wie wichtig Unabhängigkeit für eine Zeitung ist. Der Verleger möchte am liebsten Ruhe haben und setzt seine Ruhe gleich mit Ruhe in der Stadt. Die Reporter möchten auch Ruhe haben. Ein Unruhiger, der übrigens in sich ruht, ein Unruhiger wie der Chefredakteur an der Spitze reicht, um die Profis in der Redaktion an ihre Pflicht zu erinnern: Nutzt Eure Unabhängigkeit! Erfüllt Euren Auftrag, der lautet: Seid Sprachrohr der Bürger, nicht Sprachrohr der Mächtigen!
    Am Ende gibt die Zeitung den Opfern eine Stimme und rüttelt die wach, die der Kirche vertrauten, obwohl ihre Funktionäre das Vertrauen missbraucht hatten.
    Als der neue Chefredakteur zum Antrittsbesuch beim Kardinal erscheint, lächelt der Mann Gottes: „Eine Stadt erblüht, wenn ihre großen Institutionen zusammenarbeiten.“ Marty Baron, der Chefredakteur, lächelt nicht zurück und antwortet trocken: „Eine Zeitung funktioniert am besten, wenn sie alleine arbeitet.“

Der Film zeigt den Wert der tiefen Recherche, und er zeigt ein Defizit des deutschen Journalismus: Nur in den Magazinen wie dem Spiegel und in den nationalen Zeitungen, vorbildlich in der Süddeutschen, wird systematisch recherchiert, in den Regional- und Lokalzeitungen selten oder gar nicht. Wir brauchen solche Recherche-Teams wie „Spotlight“: Vier Redakteure, drei Männer und eine Frau, sind es in Boston.

Eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist schwierig: Wer an eine langen und schwierigen Recherche arbeitet, fällt für die Tagesproduktion aus. Ist er erfolgreich, stärkt er das Vertrauen der Leser – und das ist mittlerweile unbezahlbar.

Der Boston Globe druckte nach der ersten Reportage, die den Skandal enthüllte, noch sechshundert weitere. Da stimmte sogar die Kosten-Nutzen-Rechnung.

Auch in Deutschland gab es viele Missbrauchs-Fälle. Erst acht Jahre nach dem Skandal in Boston deckten auch deutsche Reporter systematisch auf, beginnend mit einer Recherche der Berliner Morgenpost im Canisius-Kolleg – die eine professionelle Qualität hatte wie die des Boston Globe.

Vorbildlich: Welt-Chef Aust begründet seinen Lesern, warum er einen Redakteur entlässt

Geschrieben am 16. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

Der Welt-Redakteur Günther Lachmann berichtet über die AfD, bot aber gleichzeitig der Partei seine Beratung an – ohne den Welt-Chefredakteur zu informieren und seine Nebentätigkeit genehmigen zu lassen; er wusste wohl, dass er diese Genehmigung nie bekommen würde; nicht belegt ist, ob er ein Honorar dafür verlangte, wie der AfD-Politiker und Europa-Abgeordnete Marcus Pretzell behauptet.

Mails des Welt-Redakteurs belegen allerdings, dass er seine Dienste angeboten hat; laut Aust räumte der Redakteur ein, Autor der Mails zu sein. Daraufhin trennte sich der Welt-Chefredakteur  von seinem Redakteur mit der Begründung:

Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Kapital des Journalismus. Wer diese aufs Spiel setzt, schadet nicht nur der Zeitung oder Zeitschrift, für die er arbeitet. Er schadet der gesamten Publizistik.

So hätten viele Chefredakteure entschieden, aber nur wenige hätten auch ihre Leser informiert. „Liebe Leserinnen, liebe Leser!“ begann Stefan Aust sein Editorial, in dem er unter anderem schreibt:

 Die E-Mails allein sind grobe Verstöße gegen fundamentale journalistische Grundsätze. Ein Journalist, der sich als PR-Berater einer Partei andient, hat seine Unabhängigkeit verloren, seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt – und damit seinen Job… Es ist nicht das erste Mal, dass Mitarbeiter eines Unternehmens, auch eines Presseunternehmens, gegen ihren Arbeitsvertrag, den generellen Presse-Kodex oder andere eigentlich selbstverständliche Grundsätze verstoßen. Das macht die Sache nicht besser.

Wir können aber nichts anderes tun, als den Fall lückenlos aufzuklären und die Vorgänge so offenzulegen, wie es arbeitsrechtlich irgend möglich ist. Dazu gehört auch, Herrn Lachmanns Berichterstattung über die AfD nachträglich kritisch zu hinterfragen. Ein Vorgang dieser Art wird weder geduldet noch vertuscht oder beschönigt. Das sind wir Ihnen, den Leserinnen und Lesern, den journalistischen Kollegen bei der „Welt“, das sind wir uns selbst schuldig.

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Quelle: Die Welt 15.2.2016 (Online: http://www.welt.de/politik/deutschland/article152256168/Warum-sich-die-Welt-von-Guenther-Lachmann-trennt.html)

 

Petry und der Schießbefehl: Wann werden Äußerungen von Politikern ein Thema?

Geschrieben am 4. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

Als der Mannheimer Morgen am 30. Januar ein autorisiertes Interview mit Frauke Petry druckte, in dem die AfD-Vorsitzende Schüsse gegen Flüchtlinge nicht mehr ausschloss, war der Schießbefehl ein Thema in der Tagesschau und in den Schlagzeilen auf den Zeitungs-Titelseiten. Die Zeit-Kolumnistin Mely Kiyak wundert sich: Petrys Lebensgefährte Markus Pretzell, der NRW-Vorsitzende der AfD, hatte Anfang November 2015 schon das Thema gesetzt:

Die Verteidigung der deutschen Grenze als Ultima Ratio ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn man den ersten Schuss in die Luft gibt, wird deutlich, dass wir entschlossen sind.

Der Brandenburger AfD-Fraktionschef und Ex-CDU-Politiker Alexander Gauland wiederholte laut Kiyak die Forderung im November – wieder ohne Echo. Gauland gehörte in den vergangenen Tagen zu denen, die sich über Petrys Äußerungen empörten.

Warum wird der Schießbefehl acht Wochen später, bei der zweiten Wiederholung, ein Thema? Kiyak findet in ihrer Kolumne „Deutschstunde“ eine „ganz einfache Erklärung“:

Man nimmt Parteien immer nur so ernst, wie die derzeitigen Umfrageergebnisse es hergeben und solange Landtagswahlen nicht akut anstehen.

Oder liegt es daran, dass nicht die Nummer Eins der Partei sprach? Oder verlieren auch Journalisten in der Fülle der Nachrichten bisweilen den Überblick? Gelingt die Kontrolle der Mächtigen nicht mehr? Denn in der Öffentlichkeit war der „Schießbefehl“ durch dpa und die Kiyak-Kolumne, immerhin auf Zeit-Online.

„Geh zu den Quellen! Geh den Dingen auf den Grund!“ – Der Fragebogen des „Medium Magazin“

Geschrieben am 17. September 2015 von Paul-Josef Raue.

„Ein guter Journalist macht sich nicht gemein mit einer Partei, auch nicht mit der seiner Wahl“, antworte ich auf die Frage, warum ich keiner Partei angehöre: Zu lesen im Fragebogen des aktuellen Medium Magazin auf der letzten Seite – als Rausschmeißer aus dem Heft (September 2015). Hier die Fragen und Antworten:

  1. Warum sind Sie Journalist geworden?

Ich wollte zuerst die Welt verändern – und dann Wolf Schneider. Das war zäher als erwartet. Zum Glück habe ich mich überzeugen lassen: Es reicht, die Mächtigen zu kontrollieren und den Menschen eine gute Zeitung zu geben

  1. Wie kamen Sie an Ihren ersten Beitrag – und was war das Thema ?

Ein ellenlanges Interview in Castrop-Rauxel mit dem Wissenschaftsminister Gerhard Stoltenberg, das wir Wort für Wort in der Schülerzeitung gedruckt haben. Es hat mir viel Ehre gebracht, aber keine Leser

  1. Ihre Vorbilder im Journalismus ?

Wolf Schneider, der Sprache zum Leben erweckt; Kurt Kister, der Deutschlands bester Chefredakteur ist; Dieter Golombek, der die Qualität in den Lokaljournalismus brachte

  1. Ein Journalist ist ein guter Journalist…

wenn er, die Macht im Visier, seine Furcht besiegen kann; wenn er nicht geliebt, aber respektiert werden will; wenn er unbestechlich ist, aber trotzdem freundlich

  1. Charakterisieren Sie bitte die Herausforderung des Journalismus als Tweet in140 Zeichen.

Liebt Eure Leser mehr als Euch selbst! Verwöhnt sie mit Geschichten, die ihre Seelen streicheln oder zerwühlen! Seid demütig! Das reicht

  1. Wie wichtig ist Klatsch?

Der Mensch braucht ihn, er gehört zu unserem Leben. Aber er muss die Würde des Menschen achten. In Redaktionen, die Klatsch voll Abscheu meiden, wird am meisten geklatscht

Diese Karikatur schenkte die TA-Redaktion zum 60. Geburtstag

Diese Karikatur schenkte die TA-Redaktion zum 60. Geburtstag

  1. Mit welchem Ihrer Merkmale würde man Sie am treffendsten karikieren oder parodieren?

Die Redaktion schenkte mir zum Geburtstag eine Karikatur, die mich als Freiheitsstatue zeigt mit der TA und dem Duden in den Händen

  1. Wo haben es Frauen im Journalismus schwerer und was sollte man dagegen tun?

In die Chefredaktionen dringen zu wenige vor, aber offenbar drängeln auch zu wenige. Also: Frauen, drängt Euch auf!

  1. Ihre persönlichen Stärken und Schwächen?

Stärke und Schwäche liegen so nah beieinander: viele Ideen, aber wenig Geduld. Meine größte Schwäche: Ich mag keine Verlags-Manager, für die Zeitungen eine Ware ist wie Klopapier oder Schmierseife

10. Was macht Sie wütend oder ungeduldig?

Wütend, oder genauer: traurig, machen mich Menschen, die Vertrauen verspielen; ungeduldig machen mich Redakteure, die wie Beamte denken und arbeiten

11. Welche sozialen Medien und/oder Netzwerke nutzen Sie und wofür?

Alle, und ich bleibe bei denen, die zum Denken und Staunen animieren

12. Mit wem würden Sie gerne mal einen Tag die Rolle tauschen?

Mit dem Vorsitzenden Richter im NSU-Prozess

13. Auf welchen Beitrag sind Sie besonders stolz?

Die Aufklärung der VW-Affäre in der Braunschweiger Zeitung, in der es vor gut zehn um Betriebsrat, Vorstand, Bestechung, Macht und Sex ging. Der erste Artikel hätte mich beinahe meinen Job gekostet

14. Welcher ist Ihnen peinlich?

Mir fällt keiner ein

15. Ihre drei Lieblinge unter den Zeitungen, Sendungen und Websites?

Die Sächsische Zeitung, eine der besten Regionalzeitungen; Jürgen Wiebickes „Philosophisches Radio“ in WDR 5; „Fünf vor 8:00“ bei Zeit-Online (kluge Köpfe eröffnen den Tag mit einem Staunen)

16.Ihre Lieblings-(Fremd-)App?

Der Blitzer-Warner

17. Wie und womit entspannen Sie sich?

Beim Wandern löse ich Probleme und tagträume mich in Projekte hinein; beim Lesen und Schauen von Krimis bewundere ich die Recherche guter Ermittler, vor allem ihren Umgang mit Fehlern und Pannen

18. Sind Sie Mitglied einer Partei? Wenn ja: warum? Wenn nein: warum nicht?

Nein. Wenn ich eine Redaktion verlasse, weiß keiner, welcher Partei ich zuneige. Denn ein guter Journalist macht sich nicht gemein mit einer Partei, auch nicht mit der seiner Wahl

19. Welcher Rat (und von wem) hat Ihnen auf Ihrem beruflichem Weg besonders geholfen?

Der Rat meines Philosophie-Lehrers Kurt Flasch: Geh immer zu den Quellen! Geh den Dingen auf den Grund! Halte Dich nicht lange bei den Epigonen auf! Und bleib skeptisch, immer!

20. Was sollte Ihnen später einmal nachgesagt werden?

Er ging respektvoll mit den Menschen um. Er war fair. Und er machte nicht so viel Gedöns

Ist Klatsch wichtiger als politische Information? (Leser fragen)

Geschrieben am 21. März 2015 von Paul-Josef Raue.

Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Informationen, die Platzierung auf den Seiten und die Größe der Artikel?

So fragt ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) Als Beispiel nennt der Leser aus Weimar den einspaltigen Artikel „AfD klagt gegen Abschiebestopp“ am 5. März; über das Thema hatte die nationale Zeitung „Die Welt“ ausführlicher berichtet. Dagegen berichtete die TA groß über den Fehltritt von Altkanzler Helmut Schmidt: „Liebe, Macht und Seitensprünge“. Der Leser stellt fest: „Auf einer Seite eine auf das Nötigste reduzierte Information und auf der anderen Seite eine übergewichtige Boulevardglosse. Ändert sich das Genre von Information auf Klatsch?“

Und der Leser fragt abschließend: „Warum erläutern sie nicht genau so wortreich den Hintergrund der Verfassungsklage? Und warum lesen wir darüber keinen Kommentar?“

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Wir wählen die Informationen aus, die wichtig sind für die Wähler in Thüringen, die das Leben und den Alltag unserer Leser in Thüringen beeinflussen und die zum Gespräch zu Hause oder bei der Arbeit taugen. Wir erklären das, was schwer zu verstehen ist, und wir kommentieren es, um unsere Leser zu Widerspruch oder Zustimmung zu reizen.

Über das Gutachten von Professor Schachtschneider, das die AfD zum Abschiebestopp bestellt hatte, berichteten wir ausführlich schon am 24. Februar, also zwei Wochen vor der „Welt“. Dass die AfD mit dem Gutachten vors Verfassungsgericht ziehen will, war deshalb nur eine Meldung; den Hintergrund hatten wir schon ausgeleuchtet.

Unser Reporter Martin Debes kommentierte ausführlich das Gutachten, die Klage und die Position der Regierung in seinem „Zwischenruf: Auf der rhetorischen Wippe“.

Die Enthüllungen der Liebesaffäre von Helmut Schmidt ist nur vordergründig Klatsch. Es geht vor allem um die Inszenierung und die Doppelmoral von Politikern: Schmidt zeigte der Öffentlichkeit das Bild einer guten, gar vorbildlichen Ehe. Wenn sich herausstellt, dass er seine Wähler getäuscht hatte, sprechen wir schon über eine wichtige Information.

Der Journalist Klaus Harpprecht schrieb in seinen Memoiren, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind, von Schmidts Doppelmoral, der stets „schrecklich moralisierend“ dem Parteifreund Willy Brandt dessen offenkundige Liebschaften vorwarf. So etwas muss der Bürger erfahren, es wäre fahrlässig, wenn wir diese Nachricht unterdrückt hätten – gleich ob wir Helmut Schmidt mögen oder nicht.

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Thüringer Allgemeine, 14. März 2015, Leser fragen

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Die Kolumne „Zwischenruf“ von Martin Debes zum Thema

Auf der rhetorischen Wippe

Der AfD in Thüringen hätte nichts Besseres passieren können als diese Koalition. Neulich zum Beispiel, bei der von der neuen Fraktion beantragten Landtagsdebatte zum Winterabschiebestopp, ließ sich dieses fast schon symbiotische Verhältnis gut beobachten.

Mit Lust hüpfte Rot-Rot-Grün auf die rhetorische Wippe, die von der AfD aufgebaut worden war. Hoch und runter ging es, immerzu. Vor allem Linke und Grüne waren sich einig: Die Gegnerschaft der AfD zum Abschiebestopp sei mindestens rassistisch, wenn nicht gar nazistisch.

Allerdings fiel bei all der Empörung den Beteiligten nicht auf, dass, wenn man dieser Logik bis zu ihrem überaus schlichten Ende folgt, auch der Bundesinnenminister, die Mehrheit des Bundestages und der Länder irgendwie rassistisch sein müssen. Schließlich finden auch die den Abschiebestopp falsch oder haben ihn zumindest nicht eingeführt.

Gewiss, man muss sich der von der AfD propagierten Meinung nicht anschließen: Aber man sollte sie ernst nehmen. Nicht nur, weil sich dies in einem demokratischen Land gehört, sondern auch, weil es klug wäre.

Es ist doch so: Rot-Rot-Grün hat mit dem Winterabschiebestopp, den sie als ihren ersten Regierungsakt geradezu zelebrierten, bewusst Symbolpolitik veranstaltet.

In der Realität handelt es sich nurmehr um einen temporären Erlass, der an dem Dasein der meisten Flüchtlinge nichts grundhaft ändert. Das Justizministerium, das jetzt vor allem Migrationsministerium heißen will, kann keine genauen Zahlen mitteilen. Aber es sind bislang wohl nur etwas mehr als 100 Menschen, die aufgrund des Abschiebestopps in Thüringen bleiben durften.

Doch die AfD kümmern die Fakten genauso wenig wie die Koalition. Sie bekämpft Symbolpolitik mit Symbolpolitik. Erst das Rechtsgutachten, dann die Debatte im Landtag, nun die Klage beim Verfassungsgericht: Die Partei reitet, so wie die Koalition, ein Prinzip – nur eben das gegenteilige.

Dass der Abschiebestopp so gut wie nichts damit zu tun hat, dass immer mehr Asylbewerber im Land unterkommen müssen, ja, dass die Maßnahme demnächst ausläuft – das interessiert weder die eine noch die andere Seite. Jeder bewegt sich ausschließlich in seinem politischen Universum und bedient jeweils die eigene Klientel.

Insgeheim beginnen die Koalitionsfraktionen zu ahnen, dass ihre Reflexe die AfD nur aufwerten. Tatsächlich hat sich die Partei in dem halben Jahr ihrer parlamentarischer Existenz durchaus professionalisiert. Die Mischung aus Provokation, Populismus und normalen Politikansätzen könnte funktionieren, vor allem dann, wenn den anderen nicht mehr einfällt, als wahlweise munter drauf zu hauen, auszugrenzen oder gar mal eben eine Veranstaltung zu zerstören. In all dem Getöse fällt es nicht weiter auf, dass die AfD zum großen Teil gar nicht weiß, was sie will, außer vielleicht ausrangierte Positionen von Union und FDP einzunehmen – zumal sie unterhalb der Fraktionsebene wenige arbeitsfähige Strukturen besitzt.

Das einzige echte eigene Thema, die Europapolitik, wird bei Landeswahlen kaum mehr ziehen – zumal keiner vorhersehen kann, was aus der Gesamtpartei wird. Eine neoliberal-konservative Lucke-Partei oder ein rechtsäußeres Ideologieprojekt? Wer weiß.

Natürlich, es stimmt ja: Dort, wo die Argumente fehlen, arbeitet die AfD mit Vorurteilen, schürt Ängste und bedient sich bei Sprüchen, die so auch bei der extremen Rechten Verwendung finden. Die Rhetorik des Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke grenzt oft genug ans Völkische. Er selbst besitzt dabei die unangenehme Anmutung eines Missionars, auf den Deutschland gerade noch gewartet hat, derweil sein Fraktionsvize Stephan Brandner den parlamentarischen Dauerrüpel gibt.

Doch wie Rot-Rot-Grün darauf reagiert, ist falsch. Wer meint, dass es ausreiche, die AfD pauschal in die Nazi-Ecke zu stellen, handelt intellektuell unredlich und politisch dumm. Man sollte wenigstens registrieren, dass die AfD schlau genug ist, Leute auszuschließen, die offen rassistisch argumentieren und zu versuchen, zwischen Asylrecht und Zuwanderung zu differenzieren.

Richtig, hierbei handelt es sich, genauso wie beim Angebot Höckes, seine Abgeordnetenwohnung an Flüchtlinge zu geben, insbesondere um Taktik. Aber wenigstens scheint die AfD so etwas zu besitzen.

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