Alle Artikel mit dem Schlagwort " DDR"

Elbphilharmonie: Wann verliert ein Orchester seinen Namen?

Geschrieben am 11. Januar 2017 von Paul-Josef Raue.
Logo des alten NDR-Orchesters mit neuem Namen. Foto. NDR

Logo des alten NDR-Orchesters mit neuem Namen. Foto. NDR

Das Orchester, das heute zur Eröffnung der Elbphilharmonie spielt, heißt „Elbphilharmonie-Orchester“. Es ist das alte NDR-Orchester, das für seinen neuen Stammsitz umbenannt wird. Wenn der NDR ältere Aufnahmen des Orchesters spielt, wird es auch als „Elbphilharmonie-Orchester“ genannt – obwohl es diesen Namen erst seit einigen Monaten hat.

Wann verliert etwas seinen Namen? Ein Beispiel: Die DDR verlor ihren Namen, als sie untergegangen war: Wir nennen sie weiter DDR oder auch „die ehemalige DDR“, um ihr Ende für jedermann zu betonen.

So sind die älteren Aufnahmen des Orchesters weiter die des NDR-Orchesters, das zudem zum zweiten Mal den Namen ändert; nach dem Krieg hieß der Sender NWDR. Ein Kompromiss wäre heute: „Das NDR-Orchester, das heute Elbphilharmonie-Orchester heißt, spielt in der Aufnahme von 2005…“

Sie, die die Macht haben, neue Namen zu geben, „Sie sagen: ,Das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz“, sagte Nietzsche.

Auf älteren CD- oder Schallplatten-Aufnahmen heißt das Orchester immer noch korrekt: NDR-Sinfonieorchester. Aber vielleicht kommt noch einer auf die Idee, sie alle einzuziehen und neue Cover zu verordnen.

 

Ernst-Günther Wöhler, Ex-Vize-Chefredakteur der „Volksstimme“, ist tot

Geschrieben am 19. Dezember 2016 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 19. Dezember 2016 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, B 2 Welche Journalisten wir meinen.
Er mochte die Leser: Ernst-Günther Wöhler am Newsdesk am Volksstimme-Tag der offenen Tür

Er mochte die Leser: Ernst-Günther Wöhler am Newsdesk am Volksstimme-Tag der offenen Tür.

Ernst-Günther Wöhler war einer meiner liebsten Kollegen. Wir arbeiteten drei Jahre zusammen: Er als Stellvertreter, ich als Chefredakteur der Volksstimme in Magdeburg. Er ging mit mir von Bord, um noch einmal mit seiner Arbeit und seinem Leben zu experimentieren: So war er, lebenshungrig, neugierig und einfach ein sympathischer Mensch. Am Samstag, 17. Dezember 2016, ist er nach kurzer Krankheit verstorben, viel zu jung.

Wöhlers journalistische Karriere begann im Roten Kloster, der Elite-Ausbildung der DDR an der Leipziger Universität: Er konnte gut die Ideologie und die Profession unterscheiden und wurde als Diplom-Journalist ein exzellenter Profi. Ihm gelang der Spagat zwischen den Forderungen der SED, die Wahrheit im Sinne der Partei zu biegen, und einer redaktionellen Unabhängigkeit, die zwischen den Zeilen zu entdecken war. Auch weil er diesen Spagat mit Freundlichkeit und Nachdenklichkeit beherrschte, wählten ihn die Redakteure in der Revolution zum stellvertretenden Chefredakteur.

2001 nahm er die Freiheit noch wörtlicher: Er verabschiedete sich aus der Redaktion und gründete das Redaktionsbüro regio.m. In den vergangenen Jahren war Wöhler als Freier auch Deskchef der Volksstimme, bevor er sich im Sommer langsam in den Ruhestand verabschiedete.

Mehr unter kress.de

 

Die Einheit nach 26 Jahren: Die meisten Zeitungen im Osten ohne Vergangenheit

Geschrieben am 3. Oktober 2016 von Paul-Josef Raue.
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Christiane Baumann schrieb das Buch über den DDR-Vorläufer des Nordkurier in Neubrandenburg.

Christiane Baumann schrieb das Buch über den DDR-Vorläufer des Nordkurier in Neubrandenburg.

Die meisten der fünfzehn ehemaligen DDR-Bezirkszeitungen haben sich nicht oder nicht  öffentlich mit ihrer Vergangenheit beschäftigt, stellt die Germanistin Christiane Baumann fest. Sie war im Revolutionsjahr 26 Jahre jung,  recherchierte über das Schweriner Theater in der DDR, über den SPD-Politiker Ibrahim Böhme, der als IM enttarnt wurde, und über die Geschichte der Zeitung Freie Erde in Neubrandenburg, die heute Nordkurier heißt.  Baumann über sich selbst:

Meine persönlichen Erfahrungen unterscheiden sich vermutlich nicht von denen anderer, die in den achtziger Jahren mit einem gewissen kritischen Blick lebten. Ich gehörte zu keiner Partei, auch nicht zu Oppositionsgruppen, kam zum Ende der DDR in die Nähe des Neuen Forums und dann als Quereinsteigerin in den Journalismus. Das Thema Ideologiekritik als solches hat mich aber seit dem Studium schon beschäftigt.

Ihre Recherchen zur Freien Erde – und vor allem die Veröffentlichung – sind ein Tabu-Bruch, provoziert von Lutz Schumacher, dem  Geschäftsführer und Chefredakteur des Nordkurier. Schon zuvor haben einige Zeitungen ihre DDR-Geschichte recherchieren lassen – aber die Ergebnisse im Giftschrank eingeschlossen: Zu groß war die Furcht über IM-Enttarnungen und die Reaktionen der Leser – und der Redakteure.

Christiane Baumann berichtete in einem Interview mit der Thüringer Allgemeine, die im vergangenen Jahr ebenfalls ihre DDR-Geschichte recherchieren ließ:

Die Berliner Zeitung hat zur Stasibelastung ihrer Mitarbeiter eine Studie erstellt, deren Ergebnisse aber nur teilweise veröffentlicht. Die Ostsee-Zeitung in Rostock riss in einer Serie zum 50. Jubiläum DDR-Themen zwar an, sparte aber Heikles wie die Stasi-Anbindung ihrer Redakteure aus.

Der Neubrandenburger Chefredakteur veröffentlichte die Ergebnisse der Recherche in einer Serie im Nordkurier, die abschließend in einer Broschüre zusammengefasst wurde; ähnlich verfuhr die Thüringer Allgemeine.

Die Lausitzer Rundschau in Cottbus haben die Professoren Michael Heghmanns  und Wolff Heintschel von Heinegg im Auftrag des Verlags untersucht; ihre Recherche veröffentlichten sie nur in einem Band der Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; sie nennen sämtliche Namen der IM. Das Buch ist vergriffen, aber kann als Datei komplett heruntergeladen werden:

Der Staatssicherheitsdienst in der Lausitzer Rundschau. Absicherung der Berichterstattung der SED-Bezirkszeitung Lausitzer Rundschau durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

Die Autoren kommen zu dem Schluss:

Der  Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Berichterstattung der Lausitzer Rundschau war äußerst gering. Soweit von einer inhaltlichen Kontrolle die Rede sein kann, ging diese nicht über die allseits bekannten Formen der direkten oder indirekten Einflussnahme hinaus. Dies bedeutet, dass zum einen die Vorgaben der SED selbstverständlich Beachtung fanden und zum anderen die Mitarbeiter der Redaktionen hinreichend ’sensibilisiert‘ waren, so dass sie bereits im Wege der Selbstkontrolle alles vermieden, was zu einem Widerspruch zu den genannten Vorgaben hätte führen können.

Diese Einschätzung teilt auch Christiane Baumann nach ihren Recherchen in Neubrandenburg und Erfurt:

Es wäre völlig irrwitzig, wenn man davon ausginge, dass die Stasi das Sagen in der Zeitung hatte. Zeitungen wurden straff kontrolliert durch die Partei selbst, da war sowieso wenig Spielraum. Die Stasi schaffte darüber hinaus eine Art Parallelkontrolle. Es gab die Kontrolle nach Innen, aber es gab auch den Redakteur, der bei Künstlern, Sportlern oder in Betrieben Informationen einholte und weitergab.

Die komplette Kress-Kolumne JOURNALISMUS! zum Thema: Intellektuelle Spießer, Bevormundung und Bespitzelung

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Info: Literatur zum Thema

(bis auf die Bücher von Baumann und Maron  nur antiquarisch erhältlich):

  • „Die Zeitung ‚Freie Erde‘. Kader, Themen, Hintergründe – Beschreibung eines SED-Bezirksorgans“, wird herausgegeben von der Landesbeauftragen für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Schwerin 2013, 179 Seiten, zu beziehen über die Landesbeauftragte für 6 Euro)
  • Über „Das Volk“ und seine Stasi-Instrumentierung wird demnächst auch ein Buch von Christiane Baumann herausgegeben, Klarnamen von IM inklusive.
  • „Willfährige Propagandisten. MfS und SED-Bezirksparteizeitungen“ von Ulrich Kluge, Steffen Birkefeld und Silvia Müller thematisiert die Berliner Zeitung, Sächsische Zeitung und den Neuen Tag
  • Monika Marons Roman „Flugasche“ spielt in Bitterfeld, dem großen Chemie-Standort der DDR, er gründet in Marons Erfahrungen als Redakteurin für die Ost-Berliner Wochenpost im Chemierevier der DDR: Die Redakteurin soll ein Porträt eines „Helden der Arbeit“ schreiben, will die Wahrheit schreiben, aber scheitert damit in der Redaktion und der Partei. Das Buch erschien 1981 nur im Westen.
  • Brigitte Klumps „Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede des Stasi“. Die Ex-Studentin in der Journalistenschule der DDR schrieb 1978 den Bericht, der nur im Westen erschien.
  • Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. DIE SED-Informationsdiktatur (1997). Überblick mit vielen Beispielen
  • Stefan Panne: Die Weiterleiter. Funktion und Selbstverständnis ostdeutscher Journalisten (1992). Befragung von 22 ostdeutschen Journalisten und Auswertung von 110 DDR-Romanen, in denen Journalisten eine Rolle spielen
  • Ilona Wuschig: Anspruch ohne Wirklichkeit. 15 Jahre Medien in Ostdeutschland (2005). Die Dissertation geht der – immer noch aktuellen – Frage nach, „warum ostdeutsche Journalisten seltener als ihre westdeutschen Kollegen das Gefühl haben, dass dieser ‚Staat auch ihr Staat‘ sei“ und „warum große Teile der ostdeutschen Bevölkerung kein Vertrauen in die Politik entwickelt haben und was dies für Medien bedeutet“.

 

Mächtig und virtuos: Auch böse Menschen können gut schreiben (Überschrift des Monats)

Geschrieben am 16. August 2016 von Paul-Josef Raue.

Ein Schuft mochte er sein, aber schreiben konnte er.

Überschrift im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zum Tode des Schriftstellers Hermann Kant, der große Romane wie „Die Aula“ schrieb, aber als Präsident des Schriftstellerverbands der DDR zuließ, dass Autoren wie Stefan Heym ausgeschlossen wurden. „Mächtiger Funktionär und virtuoser Erzähler“, so beginnt die Unterzeile.

Verfassungsgericht zu Doping-Vorwürfen: Auch nicht bewiesene dürfen verbreitet werden

Geschrieben am 9. August 2016 von Paul-Josef Raue.
Bundesverfassungsgericht: Die Richter kleiden sich rot. Foto: Gericht

Bundesverfassungsgericht: Die Richter kleiden sich rot. Foto: Gericht

Was zählt mehr: Mein Persönlichkeitsrecht, durch unwahre Nachrichten verletzt zu werden – oder die Meinungsfreiheit, eine wichtige, aber nicht beweisbare Nachricht zu verbreiten? Land- und Oberlandesgericht gaben einer Leichtathletin Recht, die nicht mehr lesen wollte: Als Dreizehnjährige habe ihr DDR-Trainer ihr das Dopingmittel Oral-Turinabol verabreicht.

Die Gerichte urteilten im Sinne der Leichtathletin: Einen Vorwurf, der nicht bewiesen werden kann, werten wir als „prozessual unwahr“; also wiegt das Persönlichkeitsrecht der Sportlerin stärker als das Grundrecht der Meinungsfreiheit.

Die Gerichte haben es sich zu leicht gemacht und die Meinungsfreiheit nicht ausreichend gewürdigt, findet dagegen das Bundesverfassungsgericht. In einem gerade veröffentlichten Urteil gibt es die Kriterien an, nach denen Journalisten auch Unbewiesenes weiter behaupten dürfen:

  1. Es muss ein Vorwurf sein, der für die Öffentlichkeit „wesentlich“ ist.

  2. Der Vorwurf muss „hinreichend sorgfältig“ recherchiert werden. Je schwerer der Vorwurf, umso höher die Sorgfalt. Dabei müssen Journalisten intensiver recherchieren als Privatpersonen, die einen Vorwurf erheben.

  3. Der Vorwurf kann stimmen, muss aber nicht stimmen: Ist so das Ergebnis der Recherche, steht die Wahrheit also nicht fest, kann die Meinungsfreiheit stärker wiegen als das Persönlichkeitsrecht. Das Gericht wörtlich:
    „Sofern der Wahrheitsgehalt einer Tatsachenbehauptung nicht feststellbar ist, kann das Grundrecht der Meinungsfreiheit einem generellen Vorrang des Persönlichkeitsrechts entgegenstehen.“

  4. Nach Abschluss umfassender Recherchen müssen Journalisten kenntlich machen: Der Vorwurf ist nicht gedeckt trotz intensiver Recherchen;  oder: er ist umstritten.

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Quelle: 1 BvR 3388/14

 

 

„Journalisten schalteten sich zu spät in Netz-Debatten ein“ (Interview Thomas Krüger)

Geschrieben am 27. April 2016 von Paul-Josef Raue.
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Foto: bpb/Ulf Dahl

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Foto: bpb/Ulf Dahl

In einem Interview mit kress.de spricht Thomas Krüger (56),  Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, über „Dunkeldeutschland“,  Journalisten und das Misstrauen der Bürger gegenüber den Medien, Medien-Manipulation und den Fehlern, die Journalisten verschweigen oder zugeben.Thomas Krüger (56)  studierte Theologie in der DDR, war nach der Revolution Jugend-Senator in Berlin und ab 1994 einige Jahre Abgeordneter im Bundestag.

Gerade im Westen sagen viele: 25 Jahre Einheit müssten doch ausreichen, um die Diktatur aus den Köpfen zu vertreiben.


Thomas Krüger: Diktatur-Aufarbeitung dauert lange, das ist ein Generationen-Projekt. So etwas braucht seine Zeit. Nehmen Sie mal die Zeit des Nationalsozialismus. Sie dauerte 12 Jahre. Der zeitliche Abstand zur DDR ist heute 26 Jahre, also wären wir, was die NS-Aufarbeitung angeht, heute gerade mal im Jahr 1971 angelangt, also: vor der TV-Serie „Holocaust“, dem Gedenkstättenboom, dem kritischen Nachfragen einer neuen Generation. Die DDR dauerte 40 Jahre, also fast zwei Generationen. Warum sollte die „Aufarbeitung“ und Bewältigung schneller gehen als bei der des Nationalsozialismus?


Ist der Osten also wirklich noch Dunkeldeutschland?

Thomas Krüger: Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich sehe – wie der Bundespräsident – in ganz Deutschland und auch in Ostdeutschland eine engagierte und organisierte zivilgesellschaftliche Willkommenskultur, viele Ostdeutsche verurteilen die Fremdenfeindlichkeit und die Übergriffe aufs Schärfste. Aber gerade in den letzten Monaten, wo sich Menschen, die aus größter Not zu uns gekommen sind, gewalttätigen rechtsextremen Demonstranten aussetzen, gibt es eine Notwendigkeit, diese Schattenseiten klar und deutlich anzusprechen.

Haben Journalisten diese Schattenseiten nicht deutlich genug angesprochen. Kurzum: Haben die Medien, haben die Journalisten versagt?

Thomas Krüger: Nein, ich bin Anhänger der These, dass der Journalismus heute nicht schlechter, die Leser aber sehr viel kritischer sind. Als publizistisches Rückgrat der demokratischen Öffentlichkeit bleiben Journalisten unersetzlich und natürliche Verbündete der politischen Bildung. Beiden geht es darum, Sachverhalte zu erklären, Kontroversen aufzuzeigen und letztendlich das demokratische Bewusstsein und die aktive Mitarbeit zu stärken.

Offenbar haben auch Journalisten einiges falsch gemacht. Umfragen deuten an: Das Vertrauen ist bei vielen Bürgern erschüttert. Haben Journalisten vielleicht wie Oberlehrer aufs Volk hinabgeschaut – was die Bürger eben nicht mögen?

Thomas Krüger: Wenn Journalisten etwas falsch gemacht haben, dann höchstens zwei Dinge: Erstens, dass sie sich zu spät in die Debatten im Netz, in den sozialen Medien eingeschaltet haben. Hier haben viele Journalisten die Möglichkeiten unterschätzt, sich frühzeitig Gehör zu verschaffen. Und zweitens haben Sie ihr Licht unter den Scheffel gestellt. Guter Journalismus setzt sich schon durch, dachte man, dass dazu aber heute eine transparente Kommunikation gehört, haben viele noch nicht begriffen.

Journalisten wie der ehemalige FAZ-Redakteur Udo Ulfkotte schreiben: Medien manipulieren, lassen sich korrumpieren und von Amerika und der Nato einspannen. Stimmt unsere Politik-Berichterstattung nicht mehr?

Thomas Krüger: Natürlich kann man manches kritisieren. Wenn zum Beispiel der Eindruck entsteht, im politischen Berlin würde eine Art „Hofberichterstattung“ stattfindet, und zum Beispiel Pressekonferenzen nur dazu genutzt werden, um O-Töne einzuholen, statt Dinge kritisch zu hinterfragen – dann werden Journalisten ihrer Rolle als „vierte Gewalt“ nicht mehr gerecht. Aber es gibt sie ja noch, die investigativen und meinungsstarken Formate und Reporter und die genannten Vorwürfe von Herrn Ulfkotte sind doch sehr verschwörungstheoretisch. Da macht es auch keinen Unterschied, dass er mal für die FAZ geschrieben hat.

Wenn Redaktionen Fehler öffentlich zugeben, laufen sie Gefahr, dass andere wie beispielsweise der Ministerpräsident Seehofer sagen: Seht Ihr, jetzt geben sie schon selber zu, dass sie Fehler machen! Wäre es da nicht besser zu schweigen und die Fehler auszusitzen?

Thomas Krüger: Auf keinen Fall! Fehler müssen benannt und analysiert werden – auch öffentlich. Die Taktik, solche Dinge totzuschweigen, ist nicht mehr zeitgemäß und führt keinesfalls dazu, Vertrauen, das durch einen Fehler möglicherweise verloren gegangen ist, wieder zurückzugewinnen. Gerade in den lokalen und regionalen Tageszeitungen konnten wir aktuell feststellen, dass sich besonders die Lokalredaktionen herausgefordert sehen, sie aktiv auf ihre Leser zugehen – durch Bürgerdialog-Veranstaltungen und andere Events. Hinzu kommt eine neue Ombuds-Bewegung, die sich den Fragen und der Kritik der Leserschaft annimmt.

Teil 2 folgt.

Das komplette Interview, geführt von Paul-Josef Raue:

http://kress.de/news/detail/beitrag/134670-interview-mit-bpb-praesident-thomas-krueger-stimmt-unsere-politik-berichterstattung-nicht-mehr.html

Wovon Journalisten lernen können: Der Bundespräsident als Geschichten-Erzähler

Geschrieben am 25. März 2016 von Paul-Josef Raue.

Journalisten wissen, dass ihre Leser bei den Geschichten hängenbleiben: Erzählen, erzählen, erzählen! Journalisten sollten Geschichten-Erzähler sein – aber im Vergleich mit den Literaten nur die wirklichen Geschichten erzählen, am besten die, die sie selber erlebt haben.

Bundespräsident Joachim Gauck (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Bundespräsident Joachim Gauck (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Bundespräsident Joachm Gauck, sonst eher fürs Belehrende und die Moral zuständig, hat ein Beispiel für die Kraft von Geschichten gegeben und sich als Geschichten-Erzähler beliebt gemacht bei seinem schwierigen Besuch in China: Ich erzähle meine Geschichte und die Geschichte meines Landes. Ein Diplomat ist, wer Geschichten und Geschichte erzählen kann statt Vorwürfe zu machen und den anderen bloß zu stellen.

Gauck erzählte seine Geschichten aus der untergegangenen DDR, in der er Pfarrer war,  und erzählte die Geschichte der Vereinigung zweier ungleicher Gesellschaften, er erzählte Geschichten vom Unrecht und vom Recht, er erzählte von Menschen und ihren Erfahrungen und stellte sie neben – und nicht über – die Erfahrungen der Menschen in China.

Ich komme aus einem Land zu Ihnen, das vielerlei Erfahrungen gesammelt hat mit Neuanfang, Transformation und Anpassung. Aus einem Land, das vor mancherlei Problem gestanden hat, mit dem sich auch China auseinandersetzen muss. Deutschland hat einen besonderen, einen vor allem selbstverschuldet schwierigen Weg hinter sich. Nach zwei Gewaltherrschaften und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem es gegen die Gebote der Menschlichkeit verstoßen und schrecklichste Menschheitsverbrechen begangen hat, ist es schließlich – zuerst im Westen, 1990 dann in Gänze – zu einem anderen Land geworden. Einem Land, in dem alle staatliche Gewalt einem obersten Grundwert verpflichtet ist: der Würde des Menschen. So möchte ich Ihnen etwas von meinem Land, von seiner Geschichte und ein wenig auch von meinem Leben berichten. Diese Erfahrungen dränge ich niemandem auf – nicht Ihnen und nicht Ihren Landsleuten. Sie sind ein Angebot besser zu verstehen, was mich, aber auch die deutsche Gesellschaft leitet.

Das ist die Geste, die den anderen nicht in die Ecke stellt, sondern zum Mitdenken auffordert: Meine Erfahrungen drängen ich niemandem auf, sie sind ein Angebot – erst recht wenn ich auch von den Misserfolgen erzähle.

Nicht nur über deutsche Erfolge kann ich Ihnen berichten. Ich habe auch erlebt, was einer Gesellschaft fehlen kann. Mehr als vier Jahrzehnte lang habe ich – als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener – in der DDR gelebt, jenem Staat, dessen Propaganda ihn als den „besseren“ der beiden deutschen Staaten anpries. Doch das war er nicht. Es war ein Staat, der als Teil des kommunistischen Staatenverbundes und abhängig von der Sowjetunion sein eigenes Volk entmündigte, einsperrte und jene demütigte, die sich dem Willen der Führung widersetzen.

Dieser Staat sollte als „Diktatur des Proletariats“ den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung dienen, der Ausbeutung ein Ende setzen, der Entfremdung der Menschen wehren und so ein Zeitalter des Glücks und der Zufriedenheit eröffnen. Das Problem dieser Zeit aber war, dass die Mehrheit der Menschen weder beglückt noch befreit war. Und dem ganzen System fehlte eine tatsächliche Legitimation. Eine Wahl durch die Bevölkerung, die frei, gleich und geheim war, gab es nicht. Die Folge war ein Glaubwürdigkeitsdefizit, verbunden mit einer Kultur des Misstrauens zwischen Regierten und Regierenden.

Wer so spricht, ist kein Richter, kein arroganter Moralist: Er spricht von sich und meint den anderen. Am Ende seiner Rede vor Studenten der Shanghai-Universität kommt dann doch der Pfarrer durch, der sich nicht sicher ist, ob alle Zuhörer die Lehre aus dem Erzählten ziehen. Also doziert er für seine Gemeinde vom Nutzen der Geschichten fürs Leben:

Dass sich alle Institutionen des Staates, alle Parteien und Personen der Herrschaft des Rechts beugen, ist zu einem unverzichtbaren Leitgedanken der deutschen Demokratie geworden. Er begleitet, lenkt und begrenzt die Macht der Regierenden.

Es ist ein schöner Satz, auch für Journalisten – und nicht nur formuliert fürs Poesiealbum der Volontäre: Er fasst das, was Demokratie ist, schnörkellos in knapp drei Dutzend Wörtern zusammen. Auf den Internet-Seiten des Bundespräsidenten, die alle Reden versammeln, fehlt dieser Satz. Er stand wohl nicht im Manuskript; Constanze von Bullion hat genau zugehört und ihn für die Leser der Süddeutschen Zeitung notiert.

Constanze von Bullion nennt Gaucks Erzähl-Strategie einen Trick. Es ist Diplomatie und Respekt vor den Menschen.
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Quellen: Reden des Bundespräsidenten (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/03/160323-China-Universitaet.html – Stand 25. März, 11 Uhr) und Süddeutsche Zeitung, 24. März „Eine Rede, zwei Interpretationen“

Bürger misstrauen Journalisten schon immer: Die Krise ist nicht neu (Serie „Journalismus der Zukunft“)

Geschrieben am 24. März 2016 von Paul-Josef Raue.
Paul-Josef Raue (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Paul-Josef Raue (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Haben die Deutschen ihr Vertrauen in die Medien verloren? Ja, aber dies ist schon seit Jahrzehnten so, und es ist typisch für den skeptischen Bürger in einer Demokratie. Um die von den Medien selbst hochgespielte Vertrauenskrise geht es im siebten Teil meiner Kress-Serie Journalismus der Zukunft“. Der Münchner Kommunikations-Professor Carsten Reinemann meint, Journalisten könnten nicht mit Zahlen umgehen, und stellt nach seinen Recherchen fest:

Zumindest bis Ende 2014 hat sich das Medienvertrauen großer Teile der Bevölkerung gar nicht dramatisch verändert. Auch die im Jahr 2015 erhobenen Daten lassen diesen Schluss nicht zu.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Professor Kim Otto und Andreas Köhler von der Universität Würzburg, die Umfragen des Eurobarometers auswerten, die von der EU jährlich in Auftrag gegeben werden:

Von einer neuen generellen Vertrauenskrise in die Medien in Deutschland kann angesichts der Langzeitdaten nicht gesprochen werden. Insofern kann die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion über die Arbeit der Journalisten schon fast als hysterisch bezeichnet werden, und es wäre ratsam, Dampf aus der Debatte zu nehmen.

Wer sich in der politischen Mitte verortet, vertraut den Medien im Gegensatz zu denen, die sich politisch extrem einstufen, also weit rechts oder links. „Dass dieser Personenkreis von ,Lügenpresse‘ spricht, ist ein weit bekanntes Muster“, meinen die Wissenschaftlicher.

Umfragen zeigen, dass mehr als jeder fünfte befragte Pegida-Anhänger deutliche Kritik an der Arbeit von Journalisten übt. Dabei steht insbesondere der Vorwurf der Tendenzberichterstattung im Raume.

Auch wer seine wirtschaftliche Lage als schlecht einstuft, misstraut eher den Massenmedien. So fehlt der Mehrheit der Ostdeutschen das Vertrauen im Gegensatz zu den Westdeutschen: 58 Prozent misstrauen im Osten, nur 47 Prozent im Westen. Professor Otto:

Die Menschen in Ostdeutschland sind bekanntlich mit dem Funktionieren der Demokratie grundsätzlich unzufriedener als die Menschen in Westdeutschland. Auch das Institutionenvertrauen ist geringer.

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Die Links:

http://kress.de/news/detail/beitrag/134417-zahlen-und-fakten-zur-vertrauenskrise-der-medien-was-kommt-nach-der-luegenpresse.html

http://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/medienvertrauen-auf-dem-tiefpunkt

 

Sprachbild kaputt: Für Franz Josef Wagner spielen elf Handballer um die EM

Geschrieben am 29. Januar 2016 von Paul-Josef Raue.

Liebe Handball-Nationalelf,

titelt Franz Josef Wagner heute seine Bild-Kolumne. Das ist das Kreuz mit den Sprachbildern: Die Nationalelf wurde zum Synonym für die Fußball-Mannschaft, als elf Spieler zur Mannschaft gehörten und eine Auswechslung nicht möglich war – selbst bei Verletzungen nicht.

Als Auswechslungen möglich wurden, war das Sprachbild schon zerkratzt: Dreizehn Spieler und mehr bilden die Fußball-Mannschaft.

Zum Handball  passte das Bild nur beim Feldhandball, der in den fünfziger Jahren populär war. In der DDR wurden die Feldhandballer sogar einmal die Mannschaft (nicht die Elf) des Jahres, als sie die westdeutsche geschlagen hatte. Bei der aktuellen Europameisterschaft stehen nur sieben Spieler gleichzeitig auf dem Hallenboden, wenigstens zu Beginn der Partie.

Nationalelf beim Handball 2016? Liest denn in der großen Bild-Redaktion keiner die Wagner-Kolumne? Oder gibt er sie einfach zu spät ab?

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Die Version zum „Friedhof der Wörter“ in der Thüringer Allgemeine, 1. Februar 2016:

Sprachbilder: Sieben oder elf?

Wer erinnert sich noch? 1959 trafen im Leipziger Zentralstadion die Auswahl der DDR und der Bundesrepublik aufeinander – vor 93.000 Zuschauern! Die Fußballer?

Immerhin war die Bundesrepublik ein Jahr zuvor bei der Weltmeisterschaft in Schweden Vierter geworden und fünf Jahre zuvor in Bern sogar Weltmeister. Aber nicht die westdeutschen Fußballer zogen die Massen ins Stadion, sondern die Feldhandballer.

Die DDR siegte und wurde zur Mannschaft des Jahres gewählt. Feldhandball war in den fünfziger und sechziger Jahre eine der populärsten Sportarten in beiden Teilen Deutschlands. In den dreißiger Jahren war Feldhandball sogar eine olympische Disziplin. Elf Spieler liefen auf ein Feld, so groß wie das der Fußballer.

„Liebe Handball-Nationalelf“, überschrieb am Freitag Franz Josef Wagner seine Bildzeitungs-Kolumne, die in Briefform geschrieben ist – so wie bisweilen auch der „Felix“ auf unserer Thüringen-Seite die Kolumne beginnt. Doch Wagner redete keine Feldhandball-Mannschaft am, sondern die Hallenhandballer, die in Polen überraschend erfolgreich um die Europameisterschaft spielen.

Doch das Spielfeld in der Halle ist kleiner als ein Fußballplatz, so dass nur sieben Spieler auflaufen. „Handball-National-Elf“ gibt es nicht mehr.

Das ist das Kreuz mit den Sprachbildern: Die Nationalelf wurde zum Synonym, als elf Spieler zu einer Mannschaft gehörten, ob Fußball oder Handball, und eine Auswechslung selbst bei Verletzungen nicht möglich war.

Als die Trainer auswechseln durften, war das Sprachbild schon zerkratzt: Dreizehn Spieler und mehr bilden heute eine Fußball-Mannschaft. Aber die „Elf“ hält sich als Begriff, hinter dem kein Bild mehr aufblitzt.

Dabei verlieren Sprachbilder, die zu reinen Synonymen degradiert werden, ihren Wert, wenn sie kein Bild mehr im Kopf aufleuchten lassen. Ein gutes Sprachbild ist wie die Melodie im Kino: Man hört sie später, und im Kopf läuft der Film ab.

„Spiel mir das Lied vom Tode“: Ich muss nur die Mundharmonika erwähnen und schon sind die Bilder im Kopf.

 

 

Wer ist Uwe Vetterick – der Chefredakteur des Jahres 2015?

Geschrieben am 22. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

Bei der Wahl der „Journalisten des Jahres“ werden die beachtet, die aus dem Fernsehen bekannt sind wie Anja Reschke oder Oliver Welke. Sie haben die Auszeichnung zu Recht erhalten – ebenso wie Hans Leyendecker von der Süddeutschen, der bescheidene Star unter den investigativen Rechercheuren, für sein Lebenswerk. Aber da ist auch noch Uwe Vetterick, Sächsische Zeitung, der Chefredakteur des Jahres bei den regionalen Tageszeitungen. Diese Ehrung wird überregional  wohl wieder untergehen:

Wer ist Uwe Vetterick? In der Tat wohl der beste deutsche Chefredakteur, dessen Laufbahn so faszinierend ist wie die Zeitung, die er macht und die dank seiner Strategien und Ideen zu einer großen wurde – nicht nur im Osten Deutschlands.

Uwe Vetterick ist Ostdeutscher und begann seine Karriere als Zwanzigjähriger in der Wende: Eine beneidenswerte Startposition!

Ich bin Journalist geworden, weil mich ein Verleger und ein Chefredakteur im Frühjahr 1990 zu einem Praktikum überredet haben

schreibt er, in der ihm eigenen Bescheidenheit, im Online-Portal der Sächsischen Zeitung

Er begann bei dem in der Wende neu gegründeten Greifswälder Tageblatt, für das Unternehmer aus dem Oldenburger Münsterland ihr Geld gegeben hatten. Es war eine phantastische Wende-Zeitung, die 1990 als erste ostdeutsche den Deutschen Lokaljournalismus-Preis bekam – in dem Jahr, als Vetterick als Volontär begonnen hat.

Der Preis begleitete Vetterick: Als Chefredakteur der Sächsischen Zeitung holte er ihn 2013 nach Dresden für den „SZ-Famlienkompass“, für eine  Serie mit 400 Artikeln: Wie glücklich sind die Familien in den sächsischen Städten? Was ist gut? Was fehlt?

Vetterick wird wohl ein Abonnent dieses Preises werden. Seine erste Zeitung überlebte den Preis und die ersten Jahre nicht: Die erst gelungene, dann schreckliche Geschichte des Greifswälder Tageblatts lohnt, einmal aufgeschrieben zu werden.

Für Vetterick war sie ein guter Start, wie übrigens auch für Frank Pergande, der bei der FAZ eine beeindruckende Karriere gemacht hat.

Vetterick stieg steil auf, wurde stellvertretender Chefredakteur bei Bild und verantwortlich für den Osten (in dem Bild nie Fuß fassen konnte), ging für ein Jahr als Vize-Chefredakteur zum Tagesanzeiger in die Schweiz – als einer der ersten Deutschen; heute leitet mit Wolfgang Büchner, dem Ex-Spiegel– und dpa-Chef, ein Deutscher die Blick-Gruppe, der sich mit Michael Ludewig von dpa eine Art Super-Deskchef geholt hat.

Stellvertretende Chefredakteure von Bild werden gute Chefredakteure bei Regionalzeitungen: Es gibt einige Beispiele, die herausragenden sind Uwe Vetterick und Sven Goesmann, der die Rheinische Post wieder in Schwung gebracht hatte und nun bei dpa reüssiert, nicht nur weil er gerade drei Frauen in die Chefredaktion berufen hat.

Wie kam Vetterick aus der Schweiz zur Sächsischen Zeitung:

Ein Anruf des damaligen Geschäftsführers, zwei gemeinsame Essen (einmal Frühstück, einmal Brunch), ein ungewöhnliches Gespräch. Das war’s.

In Dresden spielt Uwe Vetterick seine entscheidende Stärke aus: Er ist Stratege, der Kopf der Redaktion, der mehr Ideen hat als der Verlag je umsetzen kann, der aber auch Ideen seiner Redakteure zulässt, der ermutigt, vorantreibt und bei Flops nicht die Peitsche schwingt, sondern gleich das nächste Projekt aus den Ruinen des alten auferstehen lässt. So nahm zwar vor wenigen Wochen der Verlag die Wochenzeitung AuSZeit nach einem Jahr vom Markt, weil nur tausend Exemplare verkauft wurden, aber Neues aus der Vetterick-Werkstatt wird sicher folgen.

Er besitzt das Vertrauen von Julia Jäckel, der Chefin von Gruner+Jahr, die weiß, dass Vetterick die SZ zu einer Zeitung gemacht hat, die man nicht mehr verkaufen will – und auch nicht verkaufen muss,  weil Erfolg das beste Argument ist.

Vetterick nutzt intensiv die eigene Leser-Forschung: „Lesewert“: Er weiß genau, was seine Leser wirklich lesen und richtet nach den Bedürfnissen der Leser seine Zeitung aus – wohl wissend, dass selbst eine kontinuierliche Leserforschung nur das messen kann, was in der Zeitung steht. Für das Neue, das Experiment, das Überraschende ist er verantwortlich. So antwortet er auch auf die Frage, was er an seinem Job mag: „Geschichten erzählen, Blattmachen, Menschen überraschen.“

Und da ein Chefredakteur kaum mehr zu eigenen Recherchen und großen Geschichten eine Zeit findet, geht die Antwort auf die Frage nach seiner besten Story in die Greifswälder Zeit zurück:

Sie ging kurz erzählt so. Ein Mann, Mitte 50, verliert durch Krankheit seine geliebte Frau. Eine Frau, Mitte 50, verliert durch Krankheit ihren geliebten Mann. Durch Zufall werden beide nebeneinander begraben. Zufällig auch treffen sich bei der Grabpflege Witwe und Witwer und verlieben sich ineinander. Die Geschichte erschien zu einem Totensonntag. Selbst aus großem Leid kann neues Glück wachsen.

Pegida ist für Dresden ein Unglück, für Vetterick bringt sie die Auszeichnung als Journalist des Jahres. Er hätte sie auch ohne Pegida verdient gehabt – aber wer schaut schon genau in die Provinz hinein?

So bezieht sich die Jury-Begründung auch auf die Pegida-Berichterstattung:

Uwe Vetterick und seine Redaktion erleben vor Ort Tag für Tag, was es heißt, wenn die Stimmung im Land kippt. Seit Ende 2014 werden jeden Montag ,Lügenpresse‘- Parolen direkt vor der Dresdner Verlagstür skandiert. Die Berichterstattung über die politische Stimmung und Spaltung ist eine permanente Gratwanderung. Er muss seine angefeindete Redaktion auf Kurs halten und motivieren. ,Rückendeckung von oben‘ ist täglich nötig und wird von Vetterick gegeben. Zugleich treibt er redaktionelle Innovationen voran (z. B. das Onlineportal Schul-Navigator). Bester Lokaljournalismus unter widrigsten Bedingungen: Das verdient hohe Anerkennung.

Auch den SZ-Reporter Ulrich Wolf ehrt die Jury:

2015 war das Jahr, in dem Dresden nicht mehr als Elbflorenz glänzte, sondern zur Pegida-Stadt wurde. Ulrich Wolf hat Recherche dagegen gesetzt – und u.a. Lutz Bachmanns kriminelle Machenschaften aufgedeckt. Und er hat sich jeden Montag aufs Neue zwischen die Demonstranten gestellt – trotz unmittelbarer Drohungen gegen ihn persönlich. Er ist der Journalist Deutschlands, der sich am längsten und intensivsten mit dem Thema Pegida beschäftigt und von dessen Recherchen viele nationale Medien profitieren.

Wer fragt, wie ein Chefredakteur das alles leisten kann, der schaue auf die Online-Seiten der SZ, wo Vetterick seinen typischen Arbeitstag beschreibt – mit gerade mal dreißig Minuten Pause zwischen 8.30 und 21 Uhr:

08.30 – 10.30 Uhr      Zeitungslektüre, Agenturen checken, Kaffee trinken
10.30 – 11.00 Uhr      Konferenz mit den newsgetriebenen Ressorts und Onlinern
11.00 – 12.00 Uhr      Verwaltungskram
12.00 – 13.00 Uhr      große Redaktionskonferenz
13.00 – 13.30 Uhr      Lunch
13.30 – 14.30 Uhr      neue Redaktionsprojekte besprechen und entwickeln
14.30 – 21.00 Uhr      Blattmachen

Herzlichen Glückwunsch, Uwe Vetterick!

 

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