Kolumnisten: Die Unantastbaren im Meinungskorridor der Redaktion
Mit Kolumnisten, noch dazu außerordentlichen, legt man sich nicht ohne Grund an.
So schreibt Hermann Unterstöger, selbst ein außerordentlicher Kolumnist, in seiner SZ-Kolumne „Sprachlabor“. Willkommen beim Wochenende der Kolumnisten auf dem Glatteis: Auch Bülend Ürük in Kress-Online hadert mit einer Kolumnistin bei der SZ, diesmal der SZ aus Stuttgart. Da hat ein Muslime-Nazi-Vergleich der Kolumnistin offenbar Leser so verärgert, dass eine Sprecherin der Zeitung (!) auch meint, herausheben zu müssen, dass man sich mit Kolumnisten nicht anlegen will:
Generell gilt in der Stuttgarter Zeitung die redaktionelle Linie, dass wir den Kolumnisten – zu denen auch Frau Krause-Burger gehört – einen weiten bis sehr weiten Meinungskorridor einräumen.
Der Kolumnisten-Kritiker Unterstöger aus München bleibt in seiner Kolumne charmant und nennt weder die Kolumne noch den Namen der Kolumnistin, er pflegt also einen inner-redaktionellen Datenschutz . Zudem wartete er fast einen Monat, ehe er die Kolumnistin tadelte – weil sie recht umgangssprachlich „mit was“ und „zu was“ formulierte statt die Adverbien „womit“ und „wozu“ zu nutzen. Da mag der Unterstöger wieder gedacht haben: Besser gut gemeint als gut geschrieben, das reicht den Kolumnisten, die unentwegt die Welt retten.
Unterstöger rettet nur die deutsche Sprache.
Sibylle Krause-Burger will mehr retten und richtet über den „Fremdenfrust“ der Ostdeutschen. Bülend Ürük und einigen Lesern der Stuttgarter Zeitung stieß dieser Satz der Kolumnistin auf, der offenbar nicht nur sprachlich mißlungen ist:
Und so begeistert, wie die Väter und Großväter einst den Mordaufrufen der Nazis folgten und für ihren Vernichtungswillen die gerade mal 500 000 völlig integrierten deutschen Juden ins Feld führten, so begeistert gehört es sich 70 Jahre später, Hunderttausenden von geflüchteten Muslimen ein freundliches Gesicht zu zeigen.
Sibylle Krause-Burger greift zu einem Nazi-Vergleich, und kress-online zitiert mich dazu:
Paul-Josef Raue warnt Journalisten davor, Nazi-Vergleiche zu ziehen: „Sie werden eigentlich meist falsch verstanden“, so der erfahrene Journalist. „Wer Nazi-Vergleiche bemüht, nutzt die schärfste moralische Waffe, die wir in Deutschland haben; wer solche Nazi-Hiebe austeilt, will Debatten verhindern, will Recht behalten, will als guter Mensch strahlen und verehrt werden“.
Noch ärgerlicher ist allerdings die Respektlosigkeit der Kolumnistin gegenüber den Ostdeutschen, den Deutschen „drüben“, übrigens ein Begriff aus dem Kalten Krieg: „Hier Willkommenslust, drüben Fremdenfrust“. Diese Respektlosigkeit verärgert die Menschen im Osten, diese Respektlosigkeit ist einer der Gründe, warum Pegida nicht implodiert.
Offenbar wächst mit dem Abstand zur ehemaligen innerdeutschen Grenze die Bereitschaft, den Osten zu stigmatisieren und ihn nicht verstehen zu wollen (oder nur nach eigenen Massstäben). Da baut man lieber wieder eine Mauer auf, nennt die Landsleute im Westen die „lieben Landsleute“ und die im Osten „Landsleute aus der ehemaligen Zone“. Sybille Krause-Burger versteht die Menschen im Osten nicht, dabei stehen mittlerweile, so fand sie heraus, „in ihren Wohnungen Trockner, Wasch- und Spülmaschinen“.
Gab es in der DDR keine Waschmaschine? Haben die Frauen in Dresden und Erfurt vor der Revolution noch am Waschbrett gestanden, geschrubbt und dabei Arbeiter-Lieder gesungen? Wahr ist: Die Waschmaschinen in der DDR waren nicht so gut wie die im Westen, weil die guten ostdeutschen Waschmaschinen in den Westen verkauft wurden.
Wer die Menschen im Osten verstehen will und respektieren, der sollte auf Küchenpsychologie verzichten nach dem Muster: Schwere Kindheit, Schattenseite des Lebens und nun auch noch Arbeitslosigkeit. Zu den Fakten: Die Arbeitslosigkeit in Thüringen und Sachsen ist mittlerweile niedriger als in Nordrhein-Westfalen oder Bremen. Und die Revolution war eine der Ostdeutschen, nicht der „lieben Landsleute im Westen“ auf der Sonnenseite.
Christoph Dieckmann in der ZEIT über Raue als Aufbauhelfer Ost – und über Bräutigam und Ludewig
Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro
Raue weiß: Gefühle sind Fakten.
Der Satz hat mir gefallen im Porträt von Christoph Dieckmann zu meinem Buch „Die unvollendete Revolution“ – erschienen in der Zeit im Osten.
Drei westdeutsche „Aufbauhelfer der Nachwendezeit“, die ein Buch über ihre Ost-Zeit geschrieben haben, porträtiert Christoph Dieckmann in der Ost-Regionalausgabe der Zeit, in der oft gute Geschichten zu lesen sind – und man sich fragt: Warum werden die den westdeutschen Lesern nicht zugemutet? Für die Zeit-Leser gibt es immer noch eine Mauer.
Das sind die drei Aufbauhelfer, die Dieckmann porträtiert:
- Der Politiker Hans Otto Bräutigam: Er war in Ostberlin Leiter der Ständigen Vertretung und nach der Wende Justizminister in Stolpes Brandenburger Kabinett
- Der „Wirtschaftsdirigent“ Johannes Ludewig: Er koordinierte für Kohl die Treuhand
- Der Chefredakteur Paul-Josef Raue – der Autor dieses Blogs -, der in Eisenach, Magdeburg und Erfurt Zeitung machte.
Anlass für den Artikel des Ostdeutschen Dieckmann sind „drei merkwürdige Erinnerungsbücher“:
Drei Westdeutsche verfassten ostdeutsche Memoiren… Ich las ihre Geschichten meines Landes mit Eifersucht. Beschrieb je ein Ostler die westdeutsche Übergangsgesellschaft? Gab es die überhaupt nach 1990?
Im Porträt geht Christoph Dieckmann ausführlich auf den spektakulären Wechsel in der Erfurter Chefredaktion 2009 ein: Ein Westdeutscher löst den Ostdeutschen Lochthofen ab, den Dieckmann als „orientales Organ“ und „unbotmäßigen Ossi“ ehrt.
Es war in der Tat „ein Donnerschlag“:
Unvergesslich bleibt Raue, wie er sich 2009 der TA -Redaktion als Lochthofens Nachfolger vorstellte. Er blickte in 120 Augenpaare und sah Hass. Ähnlich wütend hätten die Leser reagiert.
Die Leser haben in der Tat wütend reagiert. Eine Auswahl der Leserbriefe kann jeder in meinem Buch zu Dieckmanns Porträt lesen: Die unvollendete Revolution. Dem Hass in den Augen der Redakteure widerspricht ein anonymer Kommentator, offenbar vor sechs Jahren in der Redaktion dabei:
Ich für meinen Teil habe nicht hasserfüllt geschaut, als sich Paul-Josef Raue vorgestellt hat. Dazu hatte sich viel zu viel Frust über das unumschränkt totalitäre Kalifat seines Vorgängers angesammelt. Es ist ein schier unausrottbares Märchen, dass sich *alle* TA-Journalisten bis 2009 wie Nibelungen (oder Stockholm-Effekt-Betroffene) vor ihren Meister geworfen haben/hätten. (Spielbergtor)
Lob liest jeder Autor gerne, und Christoph Dieckmann ist eine ostdeutsche Autorität:
Raues Buch Die unvollendete Revolution liest sich als kundiges Kompendium ostdeutscher Übergangsdebatten. Raue weiß: Gefühle sind Fakten. Sozialpsychologisch spürsam schreibt er über Neonazismus und den Nährboden des NSU, über Besser-Wessis und die heimattreue Abwehr des Fremden, über die Töpfchen-Debatte und die erheblichen Generationsunterschiede Ost. Die Thüringer Allgemeine habe er zum Leserforum gemacht. Seine Überzeugung laute: Keine Tagesschau auf Seite 1!
„Raue weiß: Gefühle sind Fakten.“ Das ist ein schöner, aber ungewöhnlicher Satz für Journalisten, die auf Fakten schauen, auf Nachrichten und Informationen pur. Aber: Zwar müssen die Nachrichten stimmen, aber du musst als Journalist auch die menschliche Seele kennen, um die Menschen wirklich zu erreichen. Du musst die Menschen respektieren.
Das Ende des Porträts ist ein Potpourri: Stichworte auf Stichworte aus einem vierstündigen Gespräch. Es ist in der Tat eine Tortur, aus einem solch langen Gespräch einen roten Faden zu stricken.
Auf dem Platz im Erfurter „Willy B.“, auf dem Dieckmann beim Interview gesessen hatte, saß vor einigen Jahren Steffen Grimberg als taz-Redakteur. Nach einem offenen Brief, den 80 Redakteure unterschrieben hatte, wollte er herausfinden, wie ich auf das Misstrauen der Redaktion reagiere. Das war schon ein Fortschritt: Als ich in Erfurt als Chefredakteur begann, schrieb er über mich, ohne auch nur einmal mit mir zu sprechen. Da verwandelte Grimberg die Medienseite der taz in eine recherchefreie Zone, wohl wissend: Recherche ist bisweilen hinderlich, wenn man eine Mission hat.
Steffen Grimberg sprach im Willy B. lange mit mir, charmant, offen – und schrieb ein Interview, das mit unserem Gespräch wenig gemein hatte. Wir hatten Autorisierung vereinbart, ich schrieb das Interview um, und er druckte es nach einigen Tagen des Zögerns mit dem Hinweis:
Das Interview ist von ihm (Raue) noch überarbeitet und verdichtet worden. Das ist nicht unüblich, geht aber in diesem Fall über das übliche Maß hinaus.
Das war okay.
Grimbergs Thema war die Regionalisierung der Zeitung. Es ist abschließend auch ein Thema für Dieckmann:
Regionalität als Tugend? Nicht als enge Welt? Die Menschen leben, wo sie leben. Putsch in Indonesien? Du hast das Land nie gesehen. Raue kommt soeben aus Simbabwe. Demnächst will er nach Eritrea. Seit Sommer 2015 ist er Unruheständler. Große Vorhaben: Stiftungen…
Das Porträt endet mit einer Art Raueschem Credo:
Der Grundauftrag des Journalismus, erklärt Raue, ist Kontrolle der Macht…Der Leser, der Bürger müsse begreifen, dass er selbst Träger der Demokratie ist. Viele Ostler fühlten sich nicht als Gesamtdeutsche, dabei sei der Osten Deutschlands stärkerer Teil. Hier bewältige man Veränderungen, wie sie der Westen nicht ertrüge.
Ich hätte gerne mehr gelesen, aber das ist vermessen.
Meine ostdeutschen Freunde und Kollegen können mit dem Porträt nichts anfangen: Was ist nur Dieckmanns Botschaft?, fragen sie. Eine typisch ostdeutsche Frage?
Meinen westdeutschen gefällt es, einer schrieb:
Lochthofen wird als “unbotmäßiger Ossi” geadelt. Naja, bisschen komplizierter war es wohl doch. Dabei fällt mir der Bedeutungswandel auf, den das Wort “unbotmäßig” durchgemacht hat: bis weit in die 60er Jahre hinein war es eindeutig negativ besetzt. Jetzt aber darf sich rühmen, wer als “unbotmäßig” klassifiziert wird.
Ein westdeutscher Journalist erlebt die drei Epochen der deutschen Revolution (Teil 2)

Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro
Fünfundzwanzig Jahre danach wundern sich die Deutschen im Westen, dass die Deutschen im Osten nicht so denken wie sie; und es wundern sich die Deutschen im Osten, dass die Deutschen im Westen sie nicht verstehen. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Westen und halten die im Osten für widerborstig und undankbar. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Osten und halten die im Westen für arrogant und geizig.
Noch schwieriger sind die, die das Sprechen über West und Ost verbieten wollen. Sie argumentieren: Wenn wir nicht mehr über die Trennung sprechen, bauen wir nicht weiter mehr an der unsichtbaren Mauer. Als ob die Wirklichkeit sich an solch gute Ratschläge hält.
Die innere Einheit ist bestenfalls eine fragile Angelegenheit, meint der Berliner Journalist Markus Decker, der sich selbst einen „Ostdeutschen mit westdeutschem Migrationshintergrund“ nennt. Er hat dreißig Westdeutsche interviewt, die in den Osten gezogen sind; selbst über alle, die sich im Osten heimisch fühlen, schreibt er: „Mühelos ist es eigentlich nie“.
Und was für Zahlen! Die Völkerwanderung innerhalb von Deutschland ist beeindruckend:
—— Fast vier Millionen kamen aus der DDR in den Westen; jeder Zehnte ging allerdings wieder zurück;
—— über vier Millionen wanderten nach der Einheit vom Osten in den Westen;
—— Aber auch in die andere Richtung setzte sich vor der Einheit eine halbe Million in Bewegung, meist um die Familie zusammenzuführen.
—— Weit über zwei Millionen wechselte nach 1989 vom Westen in den Osten.
So viele Millionen! Aber die Einheit wartet noch immer. „Merkwürdig, unnatürlich und entsetzlich“ findet ein Engländer den „sogenannten Ossi-Wessi-Konflikt“ und nennt ihn eine Verbitterung: Frederick Taylor kommt aus dem Mutterland der Demokratie, spricht deutsch und schrieb ein dickes Buch über die Mauer und ihre Geschichte. Er erzählt beispielhaft von einer Veranstaltung in Berlin, in der zwei „gebildete Individuen“ aneinander geraten waren:
„Ein Veteran der früheren ostdeutschen Medien behauptete lautstark und der Wahrheit keineswegs entsprechend, dass er noch nie einen Westdeutschen getroffen habe, der auch nur mit einem Cent zum Wiederaufbau des Ostens beigetragen hatte. Woraufhin ein noch bekannterer Medienmann mit einem Schwall von Beschimpfungen reagierte und seinerseits einige farbige Ansichten zum Besten gab über die östlichen Defizite im Umgang mit dem Westen.“
Als Taylor nachher einen deutschen Historiker fragte, der den Streit auch beobachtet hatte, antwortete dieser mit einem verlegenen Lächeln: Herr Taylor, Sie müssen sich wie ein Anthropologe vorgekommen sein beim Studium der Kämpfe primitiver Volksstämme.
Wann hat das angefangen, dieses Misstrauen, dieses Vorurteilen? Wenige Wochen nach den Revolutions-Feiern, dem Klopfen auf die Trabbis, dem Umarmen, dem Glück der Einheit stehe ich geduldig in der Schlange vor einer Eisenacher Metzgerei. Es ist Samstag, ein kalter Wintermorgen mit dem typischen Schwefelgeruch im Eisenacher Tal, der in Nase und Augen beißt, es ist noch DDR.
Ein Mann, knapp fünfzig, in einen Wintermantel mit Pelzkragen gehüllt, kommt in die Metzgerei. Er ist ein Westdeutscher: Jeder konnte damals den anderen an seiner Kleidung und seinem Gang identifizieren. Der Mann geht langsam an der Schlange vorbei zur Theke und legt zwei, drei Hundertmark-Scheine auf das Glas und sagt: „Alles!“ Die Verkäuferin sieht das westdeutsche Geld und packt dem Mann, einem Wirt aus dem nahen Herleshausen, wirklich alles ein. Die Auslagen sind leer geräumt, die Wartenden gehen nach Hause, ohne zu murren.
So hat es begonnen. Erst kam dieser Wirt, dann kamen die Versicherungs-Vertreter und die Verkäufer, die ihre alten Autos zu Neupreisen verkauften, dann die Treuhand und die Unternehmer, die viele arbeitslos nach Hause schickten.
Sicher gab es auch die anderen im Westen – wie den Lebkuchen-Unternehmer aus Bayern, an den sich Katrin Göring-Eckardt erinnert. Er schickte vor Weihnachten 1989 viele Kisten zu einer Kirchgemeinde im Osten. Es waren nicht allein die mit Lebkuchen gefüllten Dosen, die die Menschen rührten, es war die Geste. Göring-Eckardt erinnerte sich später: „Diese Dose gewinnt ihren Wert dadurch, das sich jemand im Westen die Frage gestellt hat: Wie können wir zeigen, dass wir zusammengehören? Man hatte einfach an uns gedacht, und das war schön. Ich weiß, dass viele diese Dose noch heute besitzen.“
Viele aus dem Westen kamen als Idealisten, als Freunde der Revolution in das Land, das immer noch DDR hieß. Viele – als Unternehmer oder in der Treuhand – mussten etwas tun, was unausweichlich war als Konsequenz eines beispiellos verfehlten Experiments, das man sozialistisch nannte. Aber wer urteilt schon gerecht, wenn er nach der Euphorie der Freiheit ohne Arbeit dasteht, mit wenig Geld und noch weniger Zukunft?
Nur – was ist schon normal in einer Revolution? Und erst recht danach?
Die Deutschen haben Erfahrungen mit großen Kriegen und schweren Niederlagen, aber sie haben keine Erfahrung mit Revolutionen. So glauben wir, im Osten wie im Westen, nach dem Knall kommt die neue Zeit, einfach so, vielleicht ein wenig holprig, aber sie kommt. Doch eine Revolution ist keine Bundesliga-Saison, in der nach zehn Monaten der Meister seinen Triumph feiert und der Absteiger seinen Trainer feuert. Revolutionen brauchen Zeit, viel Zeit, und ihr wahrer Erfolg kommt erst spät, für viele zu spät. Deshalb ist der Osten immer noch anders: Die Menschen in Erfurt und Neubrandenburg, in Görlitz und Magdeburg denken, handeln und träumen nicht wie die Menschen in Essen und Braunschweig, in Konstanz und Flensburg.
In diesem Buch „Die unvollendete Revolution“ werde ich die Geschichte der Revolution als eine lange deutsch-deutsche Geschichte erzählen, als meine Geschichte, als mein Erleben – angefangen von den Kerzen in den Fenstern, die ich als Kind für die Brüder und Schwestern in der Zone angezündet hatte. Es sind die Geschichten eines Westdeutschen, den die Zone, die DDR, die Revolution und die nachrevolutionären Wirren in den Bann geschlagen hatte.
Wann hatte ein Deutscher schon mal die Gelegenheit, all dies unmittelbar zu erleben? Die Tyrannei der Unfreiheit und den Rausch der Freiheit und den Kater danach und die Knospen in den blühenden Landschaften? Und dies alles in einem Leben.
Auch eine Revolution hat ihre Zeiten: Das Vorher und Nachher. Unsere Revolution hatte drei Epochen:
> Die erste Epoche war die DDR des Todesstreifens, etabliert als sozialistischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Bundesrepublik; beide deutschen Staaten waren entstanden aus dem Erbe des Nationalsozialismus, des Weltkriegs, des Völkermords, der zerstörten Städte, der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Es war die Zeit des Stacheldrahts zwischen der sowjetischen und den westlichen Zonen, dem der Mauer folgte, die erste, die wirkliche Mauer. Revolutionen fallen nicht vom Himmel, sondern durchleben eine lange Vorbereitung. Sie erlebte ich – als skeptischer Achtundsechziger – durch einen Freund, der als linker Pfarrer den Sozialismus in der DDR als das bessere Deutschland sah; als Chefredakteur der Oberhessischen Presse in Marburg, das mit Eisenach eine der ersten und durchaus funktionierenden Städtepartnerschaften schuf; als Korrespondent im Bezirk Erfurt, der vieles erlebte und wieder vergaß, aber nachher alles in seiner Stasi-Akte nachlesen konnte.
> Die zweite Epoche war die Revolution, in der sich rasend schnell die zweite Mauer, die unsichtbare, die Trauma-Mauer aufbaute: Verlust des gewohnten Alltags, in dem alles geregelt war; Verlust der gewohnten Arbeit, die planmäßig organisiert war; Verlust des fürsorglichen Staates, der dem treuen Bürger alle Entscheidungen abnahm – und stattdessen eine Dominanz der Westdeutschen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Ich erlebte sie als Chefredakteur der ersten deutsch-deutschen Zeitung, der Eisenacher Presse,
die erstmals am 18. Januar 1990 erschien, und in der Jahrtausendwende als Chefredakteur der Volksstimme in Magdeburg mit Fremdenhass, Töpfchen-Debatte und Menschen, die kollektiv und aggressiv um Haltung kämpften, um das Erbe der Revolution.
> Die dritte Epoche ist die aktuelle, in der sich die dritte Mauer der Resignation und der Ungeduld aufbaut: Den meisten Menschen geht die Angleichung an den Westen nicht schnell genug, sie beklagen das Desinteresse oder den Überdruss des Westens, weiter in den Osten zu investieren – und sehen den Westen als Fremden. Gleichzeitig brechen die Generationen im Osten auseinander, viel leiser als in den Zeiten der Achtundsechziger des Westens: Die Kinder ziehen fort und kommen erst einmal nicht wieder. Es stagniert die Zustimmung zur Demokratie, es wächst der Unmut, sich mit der Geschichte der Diktatur und der eigenen Geschichte zu befassen – im Gegensatz zu den Jungen, die fragen: Wie war das damals, Vater und Mutter, mit Euch in der DDR? Im Osten steigt, wenn auch langsam, die Abneigung gegenüber dem, was man „Politik“ nennt, und es nimmt die Verweigerung zu, sich zu engagieren.
Aber die dritte Mauer hat viele Durchgänge, sie trennt nicht mehr wirklich, sie bröckelt – und sie gefährdet keinen inneren Frieden. Ungefährlich ist sie trotzdem nicht: Die Demokratie im Osten ist weniger stabil als die Demokratie im Westen. Bis zur Revolution 1989 hat der Osten nur Kaiser und Diktatoren erlebt, unterbrochen von der fragilen Weimarer Demokratie. Der Osten hat zwar bereitwillig die äußeren Formen der Demokratie angenommen: Wahlen und Rechtsstaat, Kontrolle der Macht und Mächtigen sowie Freiheit für Presse, Vereine und Berufswahl, Schule ohne Ideologie und die Freiheit, überallhin reisen zu können.
Doch die Ostdeutschen sind so verwirrt, dass vielen in der Rückschau die Diktatur wärmer, gar kuscheliger erscheint, dass der Zusammenhalt stärker war – ob wirklich oder eingebildet. Sie wundern sich: Die Demokratie ist kühl, sachlich und kennt keine Aufmärsche wie die Diktatur. Die Demokratie muss erst langsam die Seelen wärmen. Im Osten wärmt noch wenig. Denn dieses Feuer muss von den Bürgern selbst entfacht werden; das Holz dafür müssen die Politiker, die Regierungen besorgen. Beide Seiten, Bürger wie Politiker, sind noch überfordert: Ein bisschen weniger Adenauer, ein bisschen mehr Willy Brandt täte gut. Demokratie wagen – wäre dafür ein sinnvolles Motto.
Diese Demokratie-Defizite erlebe ich als Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, einer der großen Zeitungen im Osten. Die Beschreibung der drei Epochen wirkt wie ein Holzschnitt. Die Widersprüche und Details folgen in Buch „Die unvollendete Revolution“, sie sind Gegenstand der Erzählungen und Debatten.
**
Aus dem Editorial des Buchs „Die unvollendete Revolution“
Das Journalisten-Buch zu 25 Jahren Einheit: „Die unvollendete Revolution“

Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro
„Hören Sie auf, uns zu belehren!“ ist das Editorial meines Buchs „Die unvollendete Revolution“ überschrieben. Die Überschrift nimmt einen Satz auf, den ich in unzähligen Leserbriefen lesen und vielen Gesprächen im Osten hören musste – und der den Westdeutschen traf: „Hören Sie auf, uns zu belehren!“
Schon sind wir mittendrin im Missverstehen: Was der eine als „Belehrung“ empfindet, ist für den anderen einfach eine Erklärung oder eine Tatsache, die man belegen kann – eben nichts, was Missfallen oder gar Aufregung lohnte. 2004 sagte dennoch Hans-Joachim Maaz, der Psychotherapeut aus Halle:
„Auf keinen Fall kann der Westdeutsche der Therapeut sein.“ Ein Therapeut müsse bereit sein, zuzuhören, zu verstehen und sich einzufühlen und nicht von vornherein belehren.
„Die unvollendete Revolution“ geht der Frage auf den Grund:
o Warum fühlen sich so viele im Land der Revolution als Verlierer?
o Warum geben sie den Westdeutschen – aus ihrer Perspektive: den Gewinnern der Einheit – die Schuld an ihrer Depression?
o Und warum ist die Mauer der Vorurteile und Abneigung zwischen Ost und West – nach einem Vierteljahrhundert Einheit – so hoch wie nie zuvor?
o Schließlich: Wie geht es weiter?
Reinhard Höppner sprach von der Mauer aus Beton, die durch eine aus Vorurteilen ersetzt worden ist. Höppner (SPD) regierte Sachsen-Anhalt acht Jahre lang mit Duldung der PDS, den Nachfolgern der SED. „Gegen eine Wand aus Vorurteilen hilft kein Passierscheinabkommen. Da brauchen wir das Erzählen der vielfältigen Erfahrungen und den Streit über unterschiedliche Meinungen“, urteilte er über den heftigsten Ost-West-Streit, die Magdeburger Töpfchen-Debatte von 1999, ausgelöst durch den Fremdenhass der DDR-Nachkommen. Von der Töpfchen-Debatte erzählt das Buch ausführlich.
Höppner, der 2014 verstorbene, hat Recht: Wir müssen erzählen von unseren Erfahrungen, den so unterschiedlichen. Nur wer sich erinnert und erzählt, hat die Chance, aus Vorurteilen Urteile zu machen. Wenn Höppners Zitat nicht zu lang für einen Buchtitel wäre, stünde es auf dem Umschlag: „Keiner lässt sich gerne zum Trottel machen, schon gar nicht von einem Wessi.“ In diesen dreizehn Wörtern ist die Stimmung der meisten Ostdeutschen versammelt, die mitten im Leben standen, als die Mauer fiel.
Die meisten Westdeutschen schütteln den Kopf, wenn sie den Satz hören – weil sie einen ostdeutschen Jammerton heraushören oder sie der Osten nicht mehr interessiert.
Mein Buch „Die unvollendete Revolution“ erzählt die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen von den Westpaketen bis zur Dritten Generation Ost, von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart 25 Jahre nach der Einheit. Wir haben uns für einen Titel entschieden, der schon einmal auf einem Buchumschlag stand – zum 50. Jahrestag der russischen Revolution im Herbst 1967: „Die unvollendete Revolution“. Hier ein Auszug aus dem ersten Teil des Editorials:
Isaac Deutscher, ein unorthodoxer Marxist, hat das Buch „Die unvollendete Revolution“ geschrieben, entstanden aus sechs Vorträgen, die er kurz vor seinem Tod in Cambridge gehalten hat. Diese Sätze könnten genau so gut für die deutsche Revolution gelten:
„Hat die Revolution die Hoffnungen erfüllt, die sie erweckt hat. Und worin liegt ihre Bedeutung für unsere Epoche und Generation? Ich wünschte, ich könnte die erste dieser Fragen mit einem einfachen und nachdrücklichen Ja beantworten und meine Bemerkungen mit einer ordentlichen triumphalen Geste beenden. Leider kann ich das nicht. Doch würde eine verzagte und pessimistische Schlussfolgerung ebenso wenig gerechtfertigt sein.
Es geht noch immer in mehr als einem Sinn um eine unvollendete Revolution. Ihre Vergangenheit ist alles andere als einfach. Sie ist aus dem Misserfolg und dem Erfolg, aus enttäuschter Hoffnung und erfüllter Hoffnung zusammengesetzt – und wer kann diese Hoffnungen untereinander vergleichen? Wo sind die Waagschalen?“
Die Folgen der russischen Revolution – Stalinismus und zermürbender Alltag für die Bürger – sind kaum mit den Folgen der deutschen zu vergleichen. Aber die Fragen, die sich nach 25 oder 50 Jahren stellen, sind offenbar ähnlich:
Revolutionen sind nicht vollendet, wenn die Menschen siegestrunken die Freiheit feiern. Die meisten Revolutionen beispielsweise rund um die Jahrtausendwende zerbrachen schnell. In Arabien und einigen osteuropäischen Ländern wurden die Schatten der Vergangenheit nach kurzer Dauer wieder lebendig. Dem sogenannten arabischen Frühling folgte schnell ein Winter. Nur – es gibt keine Jahreszeiten in der Geschichte; menschliche Gesellschaften haben einen eigenen Rhythmus.
Die deutsche Revolution ist gelungen, aber – wie alle Revolutionen – nicht vollendet, weil die Einheit noch nicht vollendet ist. Was ist der Grund? Auch für die Antwort auf diese Frage lohnt ein Blick in Isaac Deutschers Rückblick auf die russische Revolution. Er spricht von einem Fiasko, das den Menschen Unbehagen bereitet: All das, was sie glauben sollten und oft auch glaubten, stellt sich als Fälschungen und Mythen heraus. Nur – was ist die Wahrheit? Wer hat gefälscht?
Deutscher spricht von einer „Verschwörung des Schweigens“. Solche Verschwörungen werden auch in einigen Kapiteln dieses Buchs zur Sprache kommen, verbunden mit dem Seufzer: Verschwörungen ist mit Vernunft nicht beizukommen.
Ich beginne mit einem Gespräch im Thüringer Winter, knapp 25 Jahre nach dem Mauerfall. Wir stehen vor einem kleinen Lokal in einem einsamen Tal und trinken Glühwein. Ein älterer Mann mit weißem Hemd und Wanderschuhen spricht mich freundlich auf meinen Leitartikel an, den ich zum dunkelsten Kapitel der Einheitsgeschichte geschrieben hatte: Die Mordserie an Ausländern, verübt von jungen Neonazis, der NSU, aus Thüringen. „Gestatten Sie?“, fragt er, „eines hat mir nicht gefallen in Ihrem Kommentar: Sie schieben uns die Schuld an den Neonazis und der NSU zu.“
Mit „uns“ meint er die Menschen im Osten. Mit „nicht gefallen“ meint er die kollektive Schuldzuweisung, die vermeintliche. „Nein“, antworte ich, „ich habe nur Fragen gestellt: Kann es sein, dass die Revolution von 1989 junge Leute aus der Bahn geworfen hat?“
„Das glaube ich nicht“, sagt der Mann, „wir hatten im Osten doch niemals Nazis. Die waren alle in den Westen gegangen und kamen dort bis in die höchsten Stellen. Nein, mit den Nazis hatten wir nichts zu tun.“ Wir sprechen über die alte Bundesrepublik, über das Schweigen der Eltern, wenn die Kinder im Westen nach der Schuld fragten, wir sprechen über den Auschwitz-Prozess und die Achtundsechziger, die den Stab über ihre Eltern brachen.
Und wir sprechen über den NSU-Prozess und die Mutter von Uwe Böhnhardt, einem der Neonazis im terroristischen Untergrund: Als Zeugin rang sie vor den Richtern mit der Schuld, auch ihrer eigenen – aber nennt auch die Wende, die Schulreform, die ignoranten Lehrer.
„Die Wende war eine schwere Zeit“, sagt der ältere Mann, „wir waren den Jungen keine Hilfe, sie mussten – wie wir Alten auch – schon selber zusehen, wie sie zurecht kamen. Da ist wohl mancher abgerutscht. Woher sollten wir wissen, wie das geht in der Freiheit?“
Wir sollten darüber sprechen, antworte ich, wir müssen zuerst die Fragen stellen und sollten dann die Antworten suchen – nicht nur als Eltern von Terroristen, die vor Gericht Zeugnis ablegen müssen. „Ja“, sagt der Mann, „das geht ja in einer Demokratie. Aber das haben wir nicht gelernt, und das müssen wir noch lernen.“ Die Kälte kriecht unter die Daunenjacke, der Becher Glühwein ist leer. Wir verabschieden uns freundlich. „Aber Sie haben mich beleidigt mit Ihrem Leitartikel“, ruft er mir beim Weggehen zu. Ich nicke nur. Was kann man gegen Gefühle sagen?
Welche Lehre Reporter aus der TV-Serie „Weißensee“ ziehen können: Einfach erzählen!
Die ARD-Serien „Weißensee“ erzählen von der DDR, dem Ende der DDR und von den ersten Wochen nach der Mauer-Öffnung. Die Kritik von Katharina Rhiel in der Süddeutschen Zeitung zeigt, worauf Reporter achten müssen:
> Zu viel ist meist zu viel des Guten. Wer alles, was passiert ist, in die Reportage zwängen will, presst die Helden der Geschichte in Schablonen. „Die Figuren werden zu Trägern historischer Botschaften“ – also: Der Reporter erhebt den Bildungs-Zeigefinger statt einfach zu erzählen.
> Katharina Rhiel verweist auf die hochgelobten und beim Publikum erfolgreichen Serien aus den USA, England oder Dänemark, an „House of Cards“ oder „Borgen“. Sie nennt diese Serien „deshalb so wunderbar, weil sie sich auf ihre Geschichten verlassen. Weil kein großes Erzählkino entsteht, wenn man nebenbei Volkshochschule sein will“.
Das gilt auch für die schreibenden Reporter: Lasst Eure Botschaft zu Hause! Erzählt so, dass sich der Leser sein eigenes Urteil bilden kann!
Missionare im Journalismus sollten Kommentare schreiben statt Reportagen.
**
Quelle: SZ 29.9.15 „Deutsches Neuland“
Wie antwortet eine Redaktion einem Besserwisser?
„Werden wir bei der nächsten Wiedervereinigung berücksichtigen!“
Der handschriftlicher Vermerk des Ex-Außenministers Hans-Dietrich Genscher, wenn er Briefe von Besserwissern bekam, was bei der Wiedervereinigung alles falsch gelaufen sei. Das ist eine Antwort, die sich auch Redaktionen zulegen können:
„Ihren Vorschlag / Ihre Kritik werden wir berücksichtigen bei der nächsten Berichterstattung zum Thema / bei der nächsten Wahl / bei der nächsten Katastrophe…“
**
Quelle: Newsletter von Stefan Kläsener, SHZ (Flensburger Tageblatt), 30.9.2015
Die Revolution war nicht die Revolution der Redakteure, gleichwohl begeisterte sie die Freiheit (Interview: 25 Jahre Einheit)
Das ist eine Frage, die im Westen gestellt wird: Warum, liebe Ostdeutsche, seid Ihr noch nicht wie wir? Diese Frage mögen Ostdeutsche nicht, weil ein Unterton mitschwingt: Wir haben Euch eine Billion Euro Entwicklungshilfe gegeben, so dass Eure Straßen besser sind als unsere; wir erwarten auch ein wenig Dank und wollen nicht mehr das ewige Genörgel hören!
Viele Westdeutsche vergessen: Es gab vor der Revolution keinen DDR-Bürger, der etwas anderes als Diktatur erfahren hatte – erst die Nazis, dann die sowjetischen Besatzer, dann die SED. Das steckt in der Seele, das können sie mit noch so viel Euros und Autobahnen nicht heilen. Und nach der Revolution mussten die Ostdeutschen komplett ihr Leben und ihren Alltag ändern, nichts, wirklich nichts blieb mehr, wie es vorher war. Und irgendwann konnten die Ostdeutschen all die guten Ratschläge aus dem Westen nicht mehr hören. Kurz: Sie vermissten und vermissen Respekt.
Gerade in der aktuellen Frage der Aufnahme von Flüchtlingen scheint das Land extrem gespalten: Während im sächsischen Heidenau ein Mob das Flüchtlingslager angreift, gehen die Bilder der Münchner um die Welt, die am Bahnhof Flüchtlinge willkommen heißen. Trügen diese Bidler? Oder woher kommen diese Unterschiede?
So extrem gespalten sind wir nicht. Die Angst vor den Fremden ist im Westen ähnlich verbreitet wie im Osten – und in anderen Ländern Europas übrigens noch stärker. Aber Sie bedienen mit Ihrer Frage ein typisch westdeutsches Vorurteil: Der Osten ist braun. Sie können München und Heidenau vergleichen, aber sie könnten auch Erfurt mit Weissach und Remchingen vergleichen: In Thüringen ein herzlicher Empfang und große Hilfe, im Südwesten brennende Asylbewerber-Heime. Aber das Aufrechnen bringt wenig: Wir haben ein gesamtdeutsches Problem und ein noch viel größeres europäisches.
Belegen nicht sämtliche Zahlen, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten um einiges höher ist als im Westen? In keiner westdeutschen Stadt gab es pogromartige Vorkommnisse wie in Hoyerswerda, Rostock oder zuletzt Heidenau.
Generalisierung ist in der Tat falsch. Die meisten Ostdeutschen sind nicht fremdenfeindlich, auch wenn korrekt ist: Es sind mehr als im Westen. Aber die schiefe Darstellung fängt schon in der „Tagesschau“ und in den Zeitungen an: Heidenau bekommt einen Spitzenplatz in den Nachrichten, während ein brennendes Flüchtlingsheim in Baden-Württemberg hinten im Meldungsblock zu finden ist. Auch Medien folgen ihren Vorurteilen und Vorlieben. Selbst der Bundespräsident sprach wieder von „Dunkeldeutschland“ – und suggerierte: Der Osten ist der dunkle Teil Deutschlands.
Teilen Sie die Ansicht, dass die Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern ein Erbe der DDR, des selbsternannten „besseren Deutschlands“ ist?
In der Tat wirkt im Osten die SED-Propaganda nach, die den Menschen suggerierte: Wir in der DDR haben aufgeräumt, wir sind die saubere, das nazifreie Deutschland.
Was ist daran korrekt? Im Adenauer-Deutschland wollte man schnell den Wohlstand, kümmerte sich kaum um die Nazi-Vergangenheit, berief Nazis sogar zum Generalbundesanwalt oder als Bundesminister; es gab mehr Nazis in hohen Ämtern als in der DDR, die allerdings in den Aufbau-Jahren auch auf Nazis nicht verzichtet hat.
Im Westen stellten die Achtundsechziger dann ihren Eltern unbarmherzig Fragen wie: Was habt Ihr gemacht, als die SS die Juden aus Eurer Nachbarschaft vertrieb? Diese Debatten haben die westliche Gesellschaft massiv verändert. In der DDR musste sich keiner die Fragen stellen, der Staat nahm die Antwort ab: Macht Euch keine Gedanken, wir haben alles richtig gemacht – im Gegensatz zum revanchistischen und kapitalistischen Westen! Gleichzeitig sperrte man die Gastarbeiter in Gettos, zwang Frauen aus Vietnam oder Angola, die schwanger wurden, zur Abtreibung oder zum Verlassen der DDR: Also keine Spur von Willkommenskultur in der DDR, sondern nur aufgesetzte Freundschafts-Parolen.
Der Gesellschaft im Osten fehlt die Erfahrung, die Fragen nach dem richtigen Leben in einer Diktatur, gleich welcher, zu stellen. Das war und ist eine Aufgabe für Politiker, Lehrer und Redakteure – auch wenn sie dabei niemals in begeisterte Gesichter schauen: Die Menschen wittern gleich Gefahr, wenn diese Debatte droht. Sie reagieren durchweg mit Abwehr: Ihr wollt unser Leben miesmachen, wollt Jahrzehnte unseres Lebens entwerten – übrigens ein Vorwurf, den Westdeutsche schnell zu hören bekommen, wenn sie mitreden wollen.
Die Reaktion ist verständlich: Was die Seele bedrückt, wird als Tabu in die Kulissen geschoben. Aber dieses Tabu taugt nicht in einer offenen Gesellschaft, schadet der Demokratie. So sieht der Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer auch ein „kleines 68“ im Osten, sieht die Jungen, die hellwach sind, aber nicht laut aufbegehren gegen die Älteren, sondern einfach aufbrechen – und machen.

ERSTAUSGABE TA nach der Wende – als Teil einer aktuellen Serie „25 Jahre Thüringen“ in der Thüringer Allgemeine
Thomas Schmid äußerte in der Welt die Befürchtung, dass bei den anstehenden Einheitsfeierlichkeiten diese Konflikte unter den Tisch gekehrt würden. Fehlt uns eine offene und ehrliche Diskussion über die Einheit?
Ja. Es geht dabei weniger um Offenheit und Ehrlichkeit, also um die Debatte überhaupt: Die meisten im Westen interessieren sich nicht für den Osten, und je weiter sie gen Westen oder Süden kommen, umso erschreckender ist das Unwissen, von Empathie ganz zu schweigen.
Andererseits ist die Diskussion auch nicht einfach zu führen: Die Älteren im Osten haben sich meist abgeschottet, empfinden die Westdeutschen als arrogant und besserwisserisch – und haben sich hinter einer unsichtbaren Mauer angenehm eingerichtet. Bisweilen glaube ich: In dem Leben der meisten Ostdeutschen ist so viel geschehen, dass sie müde geworden sind, dass sie meinen: Es reicht für ein Leben, nun soll es mir einfach nur mal gut gehen.
Sie haben ein Buch mit dem Titel „Die Unvollendete Revolution“ geschrieben. Darin sagen Sie aber auch, selten sei eine Revolution im Abendland so gelungen wie diese. Wie passt das zusammen?
Es ist ein realistischer Blick. Keine der Revolutionen nach Ende des Kalten Kriegs war erfolgreich: Schauen Sie nach Russland, in die Ukraine, in den Balkan, nach Nordafrika. Nur eine gelang wirklich; dabei hatten wir Deutschen keine Erfahrung mit Revolutionen, aber gleich die erste gelang. Und wir sollten stets bedenken: Diese erfolgreiche Revolution haben die DDR-Bürger hinbekommen, nicht die Westdeutschen; die schauten nur im Fernsehen zu.
Wir sind unbestritten ein Staat und in ein, zwei Generationen auch ein Volk. Es mag noch einige Unverbesserliche geben, die sich nach der DDR zurücksehnen, die überwältigende Mehrheit fühlt sich wohl in dem neuen Deutschland. Wir haben nicht die Probleme wie die Briten mit Schottland oder Spanien mit Katalonien.
Deutschland ist einfach reicher geworden, an Menschen, an Erfahrung, an Kultur (ein Drittel des deutschen Welterbes liegt im kleinen Osten), an Natur. Viele in Europa und der Welt beneiden uns.
Sie haben die Vereinigung journalistisch begleitet, ja sie journalistisch mitgestaltet. Sie waren Korrespondent in der DDR, gründeten als Chefredakteur der Oberhessischen Presse die Eisenacher Presse, waren Chefredakteur in Magdeburg und Braunschweig und schließlich bei der Thüringer Allgemeinen in Erfurt. Welchen Lokaljournalismus fanden Sie 1989/90 im Osten Deutschlands vor?
Einen ängstlichen – auch wenn die DDR-Redakteure im Lokalteil ein wenig mehr zwischen den Zeilen schreiben konnten als im politischen Teil. So war der Lokalteil der meistgelesene in den DDR-Zeitungen; das war auch der Grund für den Erfolg der gewendeten SED-Zeitungen, während die Neugründungen aus dem Westen durchweg scheiterten.
Die Lokalredakteure schrieben in der DDR vor allem über ihre Funktionäre und Helden der Arbeit, priesen den Sozialismus und waren, im heutigen Verständnis, Pressesprecher der Partei. Da viele DDR-Bürger zwar West-Fernsehen schauen konnten, aber keine West-Zeitungen lesen durften, war der Lokaljournalismus, vor allem der politische, völlig unbekannt – auch bei den Redakteuren.

Das Buch zu 25 Jahre Einheit ist im Klartext-Verlag erschienen.
Als Sie als Westdeutscher Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen wurden, der ersten Zeitung, die sich in der DDR für unabhängig erklärt hatte, gab es jede Menge ablehnende Leserzuschriften, wie man Ihrem Buch entnehmen kann. Was haben Sie da gedacht?
Wenig. Einsam war’s, und da besinnt man sich auf seine Professionalität und verlangt sie auch von den Mitarbeitern.
Sie haben bei der Braunschweiger Zeitung das Konzept Bürgerzeitung entwickelt – mit großem Erfolg. Wie wurde das Konzept später in Erfurt, als Sie bei der Thüringer Allgemeinen waren, angenommen?
Die Ostdeutschen diskutieren gerne. Das taten sie schon in der DDR reichlich, schrieben unentwegt Eingaben; das war auch möglich, wenn sie die Tabus beachteten. So nutzten die Leser der TA sehr schnell die Möglichkeiten, mit ihren Meinungen in die Zeitung zu kommen, auch die Querdenker, Nörgler und Besserwisser. Schon nach wenigen Wochen haben wir die tägliche „Leser-Seite“ eingeführt, auf der – gestaltet wie eine schöne redaktionelle Seite – nur unsere Leser zu Wort kommen. Den Redakteuren war das anfangs unheimlich, bei einigen ist das heute noch so.
Es blieb nicht bei der Leser-Seite, immer wieder beziehen wir unsere Leser mit ein, so dass die Thüringer Allgemeine mittlerweile eine exzellente Bürgerzeitung ist, das beweisen uns auch alle Leser-Untersuchungen: Die Menschen wollen nicht nur wissen, was Redakteure und Politiker meinen, sondern auch wie und was ihre Nachbarn denken und wie sie sich in der Gesellschaft engagieren.
Sie sprechen von einem „Demokratie-Defizit“, das Sie als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen erlebt hätten. Inwiefern?
Die Redakteure waren nach der Revolution, die ja nicht die Revolution der Redakteure war, gleichwohl von der Freiheit begeistert, so wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Aber die meisten Redakteure schauten auf den ersten Satz, auf die Meinungsfreiheit. Endlich durften sie kommentieren, was die Druckerschwärze hergab.
Dass aber die Pressefreiheit nicht nur Sonderrechte bietet, sondern auch Pflichten, war weniger bekannt: Die Demokratie zu stärken, die Bürger zu beteiligen und ihnen eine Stimme zu geben, die Mächtigen zu kontrollieren und die Leser verständlich und umfassend zu informieren – vor allem in den Städten und Kreisen – und in die Hinterzimmer der Macht zu leuchten. Nur so lebt die Demokratie.
Die Menschen sind 1989 für Demokratie, die D-Mark, die Wiedervereinigung auf die Straße gegangen. Wie konnte das alles so schnell wieder in ein Ressentiment gegen Demokratie und Marktwirtschaft kippen? War der Westen zu wenig feinfühlig?
Feinfühligkeit war nicht die Stärke des Westens, aber sie war auch nicht vonnöten: Der Westen spielte in der Revolution nur eine Zuschauer-Rolle. Die Menschen im Osten waren die Akteure, die haben nicht für Bananen, die haben für die Freiheit gekämpft, alles andere war hübsches Beiwerk. Für eine Reise nach Mallorca riskiere ich nicht mein Leben, für die Freiheit, mein Leben selber planen zu können, riskiere ich es schon, wenn ich genügend Mitstreiter finde.
Und da ist auch nichts umgekippt: Nur eine Minderheit im Osten will zurück in die Diktatur; die Hälfte fühlt sich als Gewinner der Einheit, nur – oder immerhin – ein Viertel als Verlierer. Allerdings haben die Ostdeutschen, zum Teil schmerzhaft, die Kehrseite der Freiheit erleiden müssen: Die Demokratie, die sie bekamen, war nicht die des Werbe-Fernsehens, sondern die der „Tagesschau“, in der auch Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit ein Thema war.
Offenbar laufen Revolutionen nach dem Muster ab: Die Diktatur steigert die Sehnsucht nach Freiheit, die Revolution übersteigt sie, es folgt der Jammer. So war das auch nach der deutschen Revolution: Sanfte Träume und Utopien prallten gegen die harte Wand der Wirklichkeit. Die Ostdeutschen wollten Freiheit und bekamen Westdeutsche, die mit Buschzulage Verwaltung und Justiz einführten.
Ich zitiere in meinem Buch eine Reihe von Umfragen, die belegen: Es gibt so gut wie keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West, wenn es um die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben geht (sie ist hoch); geht es um die Zuversicht, ist sie im Osten sogar höher als im Westen, vor allem bei den 16- bis 29-Jährigen.
Wenn Sie heute in die Zukunft blicken: Was stimmt Sie dennoch hoffnungsfroh?
Kein „dennoch“! Für Revolutionen gibt es keine Generalproben, „Fehler“ entdeckt man erst im Nachhinein: Wer in rund neun Monaten eine Demokratie, Marktwirtschaft, freie Medien und einen Rechtstaat einführt, der müsste eigentlich scheitern. Deutschland ist nicht gescheitert, wir haben vieles richtig gemacht und können das, was nicht rund läuft, verbessern – und sollten es auch tun.
Thüringen zum Beispiel hat, relativ gesehen, weniger Arbeitslose als Nordrhein-Westfalen und auch weit mehr Menschen in Beschäftigung. Die Liste der Erfolge ist lang, die der Defizite ist allerdings auch nicht klein.
Wer uns große Hoffnung verspricht, sind die Jungen, die Dritte Generation Ost – das sind die zweieinhalb Millionen, die zur Wende noch in die Schule gingen. Die sind der Jammerei überdrüssig, sie sind hungrig, viel hungriger als die meisten im Westen, sie wollen raus in die Welt, wo immer sie einen Platz für sich sehen, aber sie schätzen ihre Heimat. Was für eine Chance für unser Land!
Sie sagen, Ihr Buch sei kein Geschichtsbuch, eher aber ein Geschichtenbuch. Ich finde, es ist auch ein Erinnerungsbuch. Welche Rolle wird die Erinnerung zukünftig in einer Welt von Facebook, Google und Smartphones spielen?
Erinnerung ist das halbe Leben oder noch mehr. Da spielt es keine Rolle, ob sie die Geschichten am Lagerfeuer erzählen, in Moritaten, Büchern, Zeitungen oder auf Smartphones. Und die jungen Leute, die Smartphone-Generation, sind geradezu begehrlich, wenn es um die Erfahrungen der Alten geht. Wenn Sie mit Ostdeutschen sprechen, hören sie von den Älteren oft das Argument: „Macht ein Ende mit der Rückschau, mit den Stasi- und Opfern-Geschichten! Die wollen die jungen Leute einfach nicht hören.“ Aber das Gegenteil ist der Fall, die Jungen wollen wissen, wie das Leben in der Diktatur war – nicht als Vorlage für eine Anklage, sondern als Erfahrung, von der sie lernen wollen in der Freiheit, die sie genießen.
**
„Dunkeldeutschland“ ist ein Unwort (Friedhof der Wörter)
Hell und dunkel, weiß und schwarz, Himmel und Hölle – diese Wörter haben die Menschen schon immer fasziniert und ihr Denken bestimmt. In der deutschen Sprache springen die Gefühle, die diese Wörter auslösen, in die Vokale hinein: Das helle fröhliche „e“ in hell, das tiefe unheimliche „u“ in dunkel.
Der Gegensatz von hell und dunkel drängt sich selbst kritischen Geistern auf, wenn sie die Menschen verwirrt und sie sich nach einfachen Erklärungen sehnen – wie unser Bundespräsident. Angesicht der brennenden Flüchtlingsheime und der Bürger, die sich vor Fremden fürchten, sortierte er: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt, gegenüber dem Dunkeldeutschland.“
Diese schlichte Ordnung der Welt in Hell und Dunkel, in Gut und Böse, hat nicht unser Bundespräsident erdacht, sie ist so alt wie unser Denken überhaupt. Immer wenn Gesellschaften wanken, haben solche Philosophien Konjunktur, wie sie der Perser Mani im dritten Jahrhundert begründet hat: Die Welt gehört zum Reich der Finsternis, aber die Guten, die Kinder des Lichts, erlösen sie.
Diese Philosophie, die jedem zugänglich ist, mögen die Religionen und Ideologien, das Christentum ebenso wie der Kommunismus, Augustinus wie Karl Marx. Nur in friedlichen Zeiten finden auch Philosophen Gehör, die skeptisch sind, die den Menschen sehen, wie er ist: Manchmal gut, manchmal böse, meist widersprüchlich. Der Mensch ist weder hell noch dunkel, er ist grau.
So sind auch die Gesellschaften. Es gibt kein Helldeutschland, selbst das Wort braucht keiner: Wer im Internet danach sucht, wird nicht fündig. Es gibt auch kein „Dunkeldeutschland“, zumal dieses Wort belastet ist: Westdeutsche nutzten es, wenn sie durch die DDR reisten und sich über die wenigen Straßenlaternen wunderten.
Nach der Revolution demütigten Westdeutsche so die Ostdeutschen, so dass 1994 „Dunkeldeutschland“ sogar in die Auswahl zum Unwort des Jahres kam. Wörter haben auch ihre Geschichte: Der Bundespräsident, der aus dem Osten kommt, wird dies wissen.
**
Quelle:
Der Bundespräsident sagte am 26. August beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf in Berlin laut Tagesschau: (Er lobte) die „vielen Freiwilligen, die zeigen wollen, es gibt ein helles Deutschland, das hier sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerberunterkünfte oder gar fremdenfeindlichen Aktionen gegen Menschen hören“. Gauck bezeichnete Rechtsextremisten und Ausländerfeinde als Hetzer, die das weltoffene Bild Deutschlands beschädigten.
Thüringer Allgemeine, 31. August 2015, Friedhof der Wörter
Wörterbuch der innerdeutschen Grenze (Friedhof der Wörter)
Spezialisten neigen dazu, eine eigene Sprache zu erfinde: Wissenschaftler und Ingenieure, Geheimdienstler und Gottesdiener. Auch DDR-Bürger, die an der Grenze arbeiteten, waren Spezialisten.
Sie fanden neue Wörter wie den „Provokationspunkt“, mit dem sie die Stelle bezeichneten, an der ein West-Bürger unerlaubt die Grenze überschritt. Überschreiten war bisweilen ungenau, manchmal schlitterten sie ins Hoheitsgebiet: An der Sprungschanzen in Braunlage, den Brocken in Sichtweite, lag der Auslauf direkt an der Grenze. Hatte der Springer nur einen Weite-Rekord im Sinn, aber nicht die Grenze zur DDR, schlitterte er mit seinen Skiern in einen anderen Staat – auch wenn der von seiner Regierung nicht anerkannt war.
Auf dem Brocken hieß die weithin sichtbare Kuppen des Brockenhauses „Stasi-Moschee“: Da verbanden Sprachschöpfer Witz und Wissen. In der Tat stocherte die Stasi im Leben anderer an einem Ort, der einer arabischen Moschee glich.
„Pansen-Express“ nannte der Grenz-Jargon die Soldaten, die den Hunden ihr Fressen brachten. Widersprüchlich sind die Aussagen, ob die Hunde bewusst wenig zu fressen bekamen, um besonders schnell und hungrig Flüchtlinge erwischen zu können.
Die Grenzer gaben bekannten Wörtern auch neue Bedeutung: „Kairo“ war nicht nur eine Hauptstadt, sondern die Aufschrift einer Ablage bei der Grenzkontrolle. Darin kamen die Pässe von Ex-Flüchtlingen, Journalisten, Politikern, Pfarrer und anderen möglich Subversiven.
An der Grenze fühlte keiner eine Gemütlichkeit wie im heimischen Wohnzimmer, doch gab es einen Teppich, den „Spuren-Teppich“ – wie der mit einer Egge gezeichnete Streifen hieß, in dem Flüchtlinge und Rehe ihre Spuren hinterließen.
„Feindwärts Spuren“ nannte eine Bäuerin an der Elbe die Spuren hinterm Zaun, nahe dem Fluss. Allerdings hockte der Feind der Flüchtlinge eher „freundwärts“.
Hinter dem letzten Zaun begann das „vorgelagertes Hoheitsgebiet“, ein tückischer Streifen für Flüchtlinge wie für West-Besucher, oft fälschlich „Niemandsland“ genannt – aber in Wirklichkeit noch der letzte Streifen DDR.
Wie schreiben über das Leben in der DDR? Was ist Wahrheit? Was ist subjektiv?
Einem Leser missfällt, wenn Menschen, die an der DDR-Grenze gelebt und gelitten haben, zu Wort kommen – und „in die Rolle eines Opfers der DDR gerückt werden“. Seit einigen Wochen ist in der Thüringer Allgemeine die Serie „Die Grenze“ zu lesen, eine politische Wanderung entlang der kompletten innerdeutschen Grenze.
„Leider, ich weiß nicht aus welchen Gründen auch immer, kommen Ihre Darstellungen nicht ohne das Bedienen von Ressentiments aus“, schreibt der Leser. Er habe andere Erfahrungen gemacht, so hatte er beispielsweise „jahrelang permanent unmittelbar (in wenigen Meter Abstand) an der Grenze zu tun und durfte dies auch, ohne auch nur hundertprozentig zu sein, denn ich war weder Genosse und auch kein IM“.
Er schließt seine freundliche Mail: „Es kommt mir manchmal so vor, dass ähnlich wie zu DDR-Zeiten, wo kaum ein Fachvortrag ohne die Erwähnung des x-ten Parteitages der SED begann, auch heute in vielen Artikeln in mindestens einer Passage auf die permanente Unterdrückung und Unfreiheit hingewiesen werden muss, sei es auch mit Un- oder Halbwahrheiten. Vielleicht lassen sich auch solche nicht unbedingt relevanten Aussagen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt vor einer Veröffentlichung überprüfen.“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Es ist kaum möglich, an der Grenze jene links liegenzulassen, die von Schikanen, Vertreibungen und Unfreiheit, von Tod, Verstümmelung und unbewältigten Träumen berichten. Es dürfte auch schwer möglich sein, diese Geschichten als unwichtig zu erachten, wenn wir die Wahrheit der Geschichte erkunden.
Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Bruders, der immer noch unter der Enthauptung seines Bruders leidet? Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Menschen, den heute noch die Blicke der Arbeiter verfolgen, wenn er als junger Häftling in einen Betrieb einmarschierte?
Wie sollen wir ein Trauma, eine tiefe Verletzung überprüfen? Und – wer hat das Recht, diesen Menschen ihre Erfahrungen zu nehmen? Sicher sind das subjektive Erfahrungen, aber auch diese Erfahrungen gehören zur Geschichte.
Wo es möglich ist, haben wir in Dokumenten geforscht, haben Briefe und Urkunden gesichtet – und zitieren eifrig daraus. Wenn die Wahrheit im grauen Nebel verschwindet – wie beim Tod des Grenzers Rudi Arnstadt oder den Schüssen auf Wahlhausen -, dann schreiben wir auch das.
Aber den Opfern ihr Opfer zu bestreiten, käme einer zweiten Erniedrigung gleich. Es zu verschweigen, wäre zumindest unwahrhaftig.
**
Thüringer Allgemeine, 8. August 2015, Leser fragen
Kommentare von Lesern online:
- raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
- Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?