Alle Artikel der Rubrik "G 27 Vorsicht Zahlen"

Journalisten und Zahlen: Einige beherrschen Schlagzeilen besser als Statistik

Geschrieben am 2. Oktober 2016 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 2. Oktober 2016 von Paul-Josef Raue in G 27 Vorsicht Zahlen.

 

Detlef Gürtler ist Chefredakteur der Zeitschrift GDI Impuls. Foto: GDI

Detlef Gürtler ist Chefredakteur der Zeitschrift GDI Impuls. Foto: GDI

Detlef Gürtler fand heraus: Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus waren in einem Kreuzberger Stimmbezirk in die Spalte mit den Zweitstimmen noch einmal die Erststimmen eingetragen worden. Da die AfD in dem Bezirk keinen Direktkandidat und somit keine Erststimmen hatte, sah es aus, als hätte im Kiez keiner die AfD gewählt. Was für eine Jubel-Nachricht: Die AfD-freie Zone.

Detlef Gürtler schreibt dazu in seinem Newsletter:

Shit happens, könnte man sagen; aber dadurch, dass einige Journalisten (vom Tagesspiegel-Chefredakteur Maroldt bis zum Krautreporter Dominik Wurnig) Schlagzeilen besser beherrschen als Statistik, hat sich das Mem vom „besten Kiez der Welt“ (Wurnig) ziemlich weit verbreitet. Die Korrektur hingegen interessiert wie immer kein Schwein. Solange wir Journalisten uns so verhalten, brauchen wir uns auch nicht beschweren, dass so viele Leute so wenig von unserer Arbeit halten.

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Muss man wissen, was ein Mem ist? Der Duden hat das Wort nicht aufgelistet.

Journalisten sind Anhänger der Zahlenmystik: „Deutsche Bank“ und die 10-Euro-Marke

Geschrieben am 1. Oktober 2016 von Paul-Josef Raue.
Die Börse in Frankfurt (Foto: Deutsche Börse)

Die Börse in Frankfurt (Foto: Deutsche Börse)

Die Süddeutsche Zeitung schickte eine Push-Meldung, als der Kurs der Deutschen Bank erstmals unter zehn Euro fiel. In den meisten Radio-Nachrichten war dies die Spitzenmeldung. Warum?

  • Zum einen ist, beispielsweise, die Differenz von 10,1 zu 9,9 keine andere als die von 16,4 zu 16,2.
  • Zum anderen sind Börsen so labil wie eine verliebte Frau oder ein eifersüchtiger Mann: Sie springen hin und her, oft ohne Verstand. So kletterte der Deutsche-Bank-Kurs auch wieder – nur wenige Stunden nach der Pushmeldung; er war am Ende des Börsen-Tages bei 11,71 Euro.

Dass die Deutsche Bank in Turbulenzen geschüttelt wird, dass sie in kurzer Zeit den Großteil ihres Börsenwertes verloren hat – das ist das Thema, nicht die 10-Euro-Marke. Die ist Zahlenmystik.

Das neue Gold des Journalismus: Vier Erkenntnisse aus den Panama-Paper-Recherchen

Geschrieben am 5. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Die Zeit des einsamen Reporters ist vorbei. Das ist eine der Erkenntnisse, die wir aus den Panama-Papers ziehen können. Teams werden den Einzelkämpfer ablösen, denn 2,6 Terabyte an Daten und über 11 Millionen Dokumente – wie bei den Panama-Papers – zwingen zur Zusammenarbeit, auch wenn dies den meisten Journalisten noch schwerfällt. Die Zusammenarbeit ist schon in einer Redaktion bisweilen schwer;  erst recht kompliziert wird sie, wenn sie mit mehreren Redaktionen erfolgt, die man lange als Konkurrenten gesehen und vielleicht sogar bekämpft hat.

Lange Zeit waren aufwändige Recherchen eine Domäne der Magazine – allen voran der Spiegel -, die allein über die Kapazität verfügten. Eine Tageszeitung, die Süddeutsche Zeitung,  ist dabei, bei den investigativen Recherchen den Spiegel zu überholen. Die entscheidenden Köpfe in der SZ hat der Spiegel ziehen lassen: Chefredakteur Kurt Kister (falsch – siehe Kommentar unten), Chef-Rechercheur Hans Leyendecker und Georg Mascolo, der den Rechercheverbund mit NDR und WDR leitet.

Wie wird der Spiegel reagieren, falls er seine internen Querelen mal erledigen kann? Oder Stefan Aust, auch Ex-Spiegel-Chefredakteur, bei Springers  Welt? Mit wem werden sie kooperieren? Wie werden sich die großen regionalen Zeitungen organisieren, wenn sie die große Recherche auch für sich entdecken und  Kooperation nicht nur als Synergie-Effekt sehen? Recherche kostet aber Geld.

„Daten sind das Gold des Journalismus“ schreiben Frederik Obermaier und Bastian Obermayer, die SZ-Reporter, euphorisch; doch einer ist überfordert, in den Daten das Gold zu entdecken:  11 Millionen Dokumente – dafür reichte nicht einmal ein Reporterleben! Also bleibt nur die Zusammenarbeit.

Nicht die Mönchszelle ist noch das Vorbild für Journalisten, das kleine Ein-Raum-Büro,  sondern der Newsroom, in dem Kommunikation mehr ist als ein Modewort. Das ist die zweite Erkenntnis aus den Panama-Papers. Dazu kommt ein virtueller Newsroom: Journalisten, Hunderte und Tausende von Kilometern entfernt, arbeiten in einer Wolke, in der alle Daten, Fragen und Antworten, Artikel und Entwürfe  stecken.

Die dritte Erkenntnis: Techniker müssen zum Team gehören. Dateien gibt es in unterschiedlichen Formaten, die lesbar gemacht werden müssen, vor allem wenn es Daten gibt, die ein halbes Jahrhundert alt sind. Techniker müssen zudem den Dialog der Reporter sicher machen: Robuste Computer-Verbindungen, sicher gegen Hacker und Abhör-Spezialisten.  Zwar gibt es in der SZ-Redaktion mittlerweile einen Tresor und mit Nummerncodes gesicherte Zimmer, aber sichere Leitungen sind noch wichtiger.

Die vierte Erkenntnis: Die Goldsucher brauchen die alte Moral in den neuen Daten-Minen. Wolfgang Krach, einer der beiden SZ-Chefredakteure,  hat sie am ersten Tag der Panama-Papers im Leitartikel formuliert:

Die Frage ist nicht ausschlaggebend, ob die Daten rechtmäßig in den Besitz der Enthüller gekommen sind und ob  Medien sie veröffentlichen dürfen. „Entscheidend sind zwei andere Kriterien: Kann man der Quelle trauen? Und: Gibt es ein berechtigtes allgemeines Interesse.“

Bei aller Euphorie über diese historische Stunde des Journalismus: Der Reporter mit seinem Spürsinn und seiner Hartnäckigkeit wird nicht verschwinden, erst recht nicht in kleinen Lokal- und Regionalredaktionen. Auch die Panama-Papers beginnen mit dem Spürsinn und der Hartnäckigkeit eines SZ-Reporters, der einen Anruf bekommt: „Hallo, ich bin John Doe. Interessiert an Daten? Ich teile gerne“.

Der Rest wird irgendwann ein Film werden, vielleicht sogar mit Oscar-Ambitionen.

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Quellen:

SZ vom 4. April und NDR-Zapp „Die Geschichte der Panama Papers“

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Zur Veröffentlichung dieses Blogs in Newsroom schrieb  ein Journalist diese Mail:

PJR irrt, wenn er sagt, der Spiegel habe die entscheidenden Leute ziehen lassen.
Leyendecker kam vom Spiegel, stimmt, Kilz hatte das eingefädelt, auch er zuvor beim Spiegel, musste dort gehen, beide dann im Gespann bei der SZ; Leyendeckers Geschichte aus Bad Kleinen ist bis heute unbewiesen, (s)ein eigenwilliges Solitär, sie war mit entscheidend für den Wechsel.
Georg Mascolo – desgleichen, in Hamburg geschasst.
CR Kister ist ein SZ-Eigengewächs, kommt aus der Lokalredaktion Dachau.
Und was haben Bastian Obermayer und Frederik Obermaier mit dem Spiegel gemein? Nichts. Aber sie sind die treibenden Kräfte bei den panamapapers.
Und ungeklärt ist und wird wohl bleiben: wer ist die dieser John Doe?

Meine Antwort:

Er hat in einem Recht. Die Namen klingen ähnlich, beide waren oder sind Chefredakteure der SZ, aber nur einer kam vom Spiegel:

Kurt Kister ist in der Tat ein SZ-Eigengewächs, der nie verleugnet hat, dass er in einer Lokalredaktion zu einem exzellenten Journalisten wurde. Kister folgte auf Hans-Werner Kilz als Chefredakteur der SZ. Kister dürfte einer der besten Journalisten in Deutschland sein; zudem hat er  den Wert der tiefen Recherche erkannt und Hans Leyendecker – trotz Bad Kleinen – vom Solitär zum Ressortleiter befördert. Es ist nicht nur geglückt, sondern zum Glücksfall für die SZ und unsere Demokratie geworden – nicht erst mit den Panama-Papers.

Hans-Werner Kilz war Chefredakteur des Spiegel. Als Chefredakteur des Spiegel entlassen zu werden, gilt nicht als ehrenrührig, mittlerweile gilt es nahezu als Gütesiegel. In der SZ hatte Kilz auf jeden Fall in schweren Jahren sehr heilsam gewirkt.

Dass Reporter oft eigenwillige Solitäre sind, das stimmt. Wer gute Journalisten haben will, muss das ertragen. Immerhin hat Leyendecker, eigenwillig oder nicht, ein Investigativ-Ressort bei der SZ geschaffen, das führend ist in Deutschland; eines von dieser Qualität würde dem Spiegel gut tun. Dass Bad Kleinen eine bittere Niederlage für Leyendecker war, dürfte er selber wissen; dass er offenbar daraus gelernt hat, ehrt ihn.

Die beiden Obermaiers, der eine mit i, der andere mit y, haben nicht beim Spiegel, sondern in Leyendeckers Ressort genau die Basis gefunden, die Reporter für eine tiefe und professionelle Recherche brauchen.

Lügenpresse (3): Des Lesers Lust an der Verschwörung

Geschrieben am 6. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser greift die „Lügenpresse“ auf, den Ruf der Pegida-Demonstranten: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit.“ Er nennt ein Beispiel:

„Ein Reporter befragt 100 Leute über das Freihandelsabkommen mit den USA. 80 Leute sind dagegen, 20 sind dafür. In der Presse werden die Meinungen der 20 Befürworter bekannt gegeben. Zwei Kommentare der Gegner. Es erweckt nun den Anschein, dass die Meistbefragten dem Abkommen zustimmen. Die Presse hat somit nicht gelogen. Sie hat nur nicht die Wahrheit berichtet.“

Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Vor gut zwei Jahrtausenden stritten sich in Griechenland die Philosophen darüber: Was ist die Wahrheit? Die einen, Sophisten genannt, schätzten die schöne Rede, die ironische Wendung, die List und die Tücke – um den eigenen Standpunkt zu stärken und Macht zu bekommen; die Wahrheit dürfe so lange gebogen werden, bis sich die eigenen, die guten Interessen durchgesetzt haben.

Sokrates war der Gegenspieler der Sophisten, ein Liebhaber der Wahrheit, der lehrte: Ein guter, ein moralischer Mensch verdreht nicht die Wörter, bis sie ihm passen; er verführt nicht die Menschen mit falschen, aber schön anzuhörenden Geschichten.

Es gab offenbar zu allen Zeiten eine Lust an Verschwörungs-Theorien, die meist gründen in der Vorstellung: Es gibt die Bösen, und es gibt die Guten, zu denen ich gehöre.

Die Wirklichkeit ist dagegen eher grau, mal ein wenig heller, mal ein wenig dunkler. Diese Wirklichkeit ist die Welt der seriösen Medien, sie macht Mühe, und sie fordert die Kunst der Unterscheidung.

Die Wahrheit ist stets die Suche nach der Wahrheit.

Die Geschichte von dem Reporter, der eine Umfrage manipuliert – und das wäre eine Lüge -, ist schön erzählt und wäre in mancher Runde von beifälligem Kopfnicken begleitet. Nur – woher hat der Erzähler das Beispiel?

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 28. März 2015

Vorsicht Zahlen! Prozente sind trügerisch – und machen bei Wahlen Verlierer zu Siegern (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. September 2014 von Paul-Josef Raue.
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An Wahltagen sollten wir ein Wort in die Besenkammer sperren: Prozente – auch wenn wir zu wissen glauben, dass es die Prozente sind, die über Regierungen und Karrieren entscheiden. Aber die Prozente sind trügerisch, so wie es die meisten Zahlen sind: Man muss sie richtig einordnen, sonst richten sie mehr Schaden an als Nutzen.

So war am Abend der Landtagswahl in Thüringen bisweilen zu hören und im Internet zu lesen: Die CDU ist Wahlsieger, sie hat deutlich zugelegt – über zwei Prozent. Das stimmt nicht aus drei Gründen:

> Der Anstieg von 31,2 Prozent auf 33,5 ist ein Anstieg von gut sieben Prozent. Gemeint war aber der Abstand; der beträgt nur zwei Prozent-Punkte. Nur: Wer versteht, zumal im Eifer eines nervösen Wahlabends, was „Prozentpunkte“ bedeutet?

> Schauen wir uns nicht die Prozente an, sondern die Zahl der Stimmen: Dann hat die CDU über 14.000 Wähler verloren im Vergleich zur Landtagswahl 2009. Die anderen Parteien haben übrigens, relativ gesehen, noch mehr Wähler verloren: Die Linke doppelt so viel wie die CDU, die Grünen vier Mal so viel, die SPD fast zehn Mal so viel.

> Aber auch der Vergleich der Stimmen trügt. Thüringen schrumpft, die Zahl der Wähler ist um gut fünf Prozent geringer als vor fünf Jahren. Wer noch Lust hat zu zählen, etwa im Mathematik-Unterricht, der rechne aus, ob sich überhaupt eine Partei als Sieger feiern darf – von der AfD abgesehen, die erstmals auf dem Wahlzettel stand.

Da die Zahl der Stimmen erst in der Nacht mit dem Endergebnis vorliegt, werden wir am Wahlabend wohl weiter mit den Prozenten rechnen müssen. Es ist einfach und überschaubar, aber eben trügerisch.

Übrigens: In diesem Text kommen vier Zahlen vor, als Ziffern geschrieben. Die Lese-Forschung hat herausgefunden, dass die meisten spätestens nach der vierten Zahl aufhören zu lesen. Zahlen machen Menschen eben nervös, so oder so (und ich hoffe, alles richtig gerechnet zu haben).

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Thüringer Allgemeine 22. September 2014, Friedhof der Wörter

Prozente berechnet mit Prozentrechner.net

Die Zahlen (Landtagswahl 2014 Thüringen):

CDU verliert an Stimmen 4,3 Prozent
Die Linke 8,1
Die Grünen 17,7
Die SPD 40,2

Wahlberechtigten-Zahl schrumpft um 5,1 Prozent

Es lebe der Superlativ! Was ist die Steigerung von „knapp“ und „sehr knapp“?

Geschrieben am 17. September 2014 von Paul-Josef Raue.

ntv am frühen Morgen: Der Moderator schaltet nach Schottland, es geht um die Abstimmung zur Unabhängigkeit. Es wird wohl „knapp“, meint der Moderator, und fügt hinzu „sehr knapp“. Und was sagt der Korrespondent in Schottland? „Ja, es wird wahnsinnig knapp.“ Was für ein Wahnsinn!

Journalisten lieben den Superlativ und steigern ihn in den Wahnsinn. Es begann mit dem GAU, dem größten anzunehmenden Unfall. Es liegt in der Natur des Endlichen, dass der „größte“ Unfall nicht mehr der größte ist, wenn ein anderer noch größer ist. Der bekommt dann den Ehrentitel „Gau“.

Wie nannten wir Journalisten ihn? „Super-Gau“. Der nächste, der noch größer ist? „Mega-Gau“. Welche Steigerungen sind noch möglich: „Super-Mega-Gau“ und „Mega-Mega-Gau“ oder „Wahnsinns-Gau“.

Nach der Rettung des Genitivs sollten wir uns an die Rettung des Superlativs wagen.

Gegen die Lanz-Petition: Die Mausklick-Demokratie entwertet die Politik

Geschrieben am 25. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Höflichkeit gehört nicht zur Berufsbeschreibung von Journalisten. Eigentlich gehört es sogar zu den grundlegenden Moderatorenpflichten, dass sie den Redefluss von Politikern stoppen, die stur ihr Parteiprogramm herunterbeten.

Andrian Kreye im SZ-Leitartikel zur Online-Petition, die mehr als 170.000 anklickten, gegen den ZDF-Moderator Markus Lanz; er war in seiner Talkshow der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht mehrfach ins Wort gefallen. Vorwerfen könne man Lanz allenfalls, dass er seine kritische Moderation öffentlich bedauert habe.

Ins Gericht geht Kreye auch mit der „Mausklick-Demokratie“, die kein „Ausdruck eines politischen Willens, sondern Abbild momentaner Launen“ sei. Er spricht von einer „Entwertung der Politik durch die Passivität des politischen Klickens“.

Bedenklich findet Kreye auch – zu Recht -, dass sich Zeitungen und Magazine verleiten lassen, die hohen Klickzahlen als Abbild der Volksmeinung aufzuwerten: „Ein paar Hunderttausend Petionsklicker sind keine Bewegung“. Das Aufsetzen einer Petition dauere nicht lange auf der Webseite www.openpetition.de; dort findet man auch Petitionen wie „Freiheit für die KURVE + mehr STEHPLÄTZE in der Allianz Arena“ oder „Keine Moschee in Leipzig/Gohlis – Bürgerinitiative: Gohlis sagt Nein!“

Quelle: SZ 25.1.2014

Lexikon journalistischer Fachausdrücke:
Mausclick-Demokratie

Schauen Sie nicht nur auf die Sonntagsfrage! Das große Schönenborn-Interview zu Wahl und Umfragen

Geschrieben am 6. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Worauf sollen Redakteure achten, wenn sie eine Umfrage lesen?, fragte ich Jörg Schönenborn, den WDR-Chefredakteur und Umfragen-Papst der ARD. Seine Empfehlungen:

„Zum einen: Achten Sie auf das Datum der Befragung. Nicht selten sind Zahlen unterwegs, die aus der letzten Woche stammen und über die aktuelle Situation nicht mehr viel sagen. Und die andere: Gucken Sie bitte nicht nur auf die Sonntagsfrage.“

Diese Antwort ist Teil eines großen Interviews mit Jörg Schönenborn, das die Thüringer Allgemeine am 3. August veröffentlich hat – zum Auftakt der Wahlwette, bei der die Leser im Internet den Wahlausgang vorhersagen sollen; erfunden hat die Wahlwetter die Saarbrücker Zeitung, die auch das technische Wissen vermittelt und die Führerschaft der Aktion übernommen hat. Etwa ein Dutzend Zeitungen beteiligt sich an der Wahlwette.

Herr Schönenborn, wissen Sie schon, wie die Bundestagswahl ausgeht?

Nein, dann müsste ich ja Hellseher sein. Diese Woche zum Beispiel haben über 40 Prozent der von uns Befragten angegeben, dass sie sich entweder noch nicht entschieden haben oder dass sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegen. Viele von denen werden nicht einmal wissen, wen sie wählen, wenn sie am Wahlsonntag aufstehen, sondern sich wirklich erst in letzter Minute entscheiden. Deshalb ist mir die Botschaft immer besonders wichtig: Umfragen sind keine Prognosen, keine Vorhersagen.

Sie präsentieren Monat für Monat die Sonntagsfrage, also: Wenn heute die Wahl wäre, wie würden die Deutschen entscheiden. Wen beeinflussen Sie damit mehr: Die Politiker oder die Wähler?

Zum Glück bin ich da nicht der Einzige, es gibt andere Institute, andere Zahlen. Sonst wäre die Verantwortung noch größer. Politiker haben im Zweifel ihre eigenen Umfragen, die von den Regierungen und Parteien bezahlt werden. Unsere Zielgruppe sind die Wähler und unser Publikum. Und ich will da nicht drum herum reden: Je schwächer die Parteibindung in Deutschland wird, desto mehr Menschen wählen taktisch. Und das heißt nichts anderes, als dass sie sich an Umfragen orientieren und diese in ihre Überlegungen mit einbeziehen.

Deutschland hat rund 62 Millionen Wahlberechtigte. Warum kommen Sie eigentlich immer mit tausend Bürgern aus oder ein paar hundert mehr? Ist eine Umfrage stimmig mit dieser nicht sehr hohen Zahl von Befragten?

Natürlich gilt bei jeder Umfrage: Je mehr Menschen man befragt, desto genauer sind statistisch gesehen die Ergebnisse. Allerdings gilt aus mathematischen Gründen, dass jenseits von 1.000 oder 1.500 Befragten ein paar hundert mehr den Kohl auch nicht fett machen. Im Übrigen darf man nicht vergessen: Der statistische Messfehler ist das eine, die Unentschlossenheit vieler Befragter das andere. Deshalb ist die Sonntagsfrage eben nur ein Trend und nicht mehr.

Bei den vergangenen Wahlen lagen Sie manchmal reichlich daneben. Nehmen wir die Niedersachsen-Wahl: Die CDU hatte vier Prozent zu viel, die FDP vier Prozent zu wenig. Woran lag es?

Umfragen sind eben wie gesagt keine Vorhersagen, auch wenn das manchmal so verstanden wird. Zehn Tage vor der Wahl hatten mehrere Institute unabhängig voneinander die FDP bei fünf Prozent gemessen, am Ende hat sie fast das Doppelte erreicht. Ich glaube, dass die Umfragen die Stimmung zum Zeitpunkt ihrer Erhebung richtig gemessen haben, aber dann haben selbst CDU-Politiker unmissverständlich dazu aufgerufen, FDP zu wählen, damit sie auf jeden Fall in den Landtag kommt.
Diese Aufrufe haben Wirkung gezeigt, stärker, als es der CDU im Nachhinein lieb war. Übrigens war das in Niedersachsen ein Paradebeispiel dafür, wie die Wähler Umfragen in ihr Kalkül einbeziehen. Das ist übrigens für uns durchaus ein Dilemma.

Wir wissen, dass die Wähler immer öfter wechseln, dass die Stammwähler, die stets ein- und dieselbe Partei wählen, immer weniger werden. Wir wissen auch, dass immer mehr Menschen spontan nicht zur Wahl gehen. Ist dann eine Umfrage nicht eher ein Blick in die Glaskugel als eine wissenschaftlich exakte Forschung?

Nein, Umfragen sind eine ziemlich genaue Messung – aber eben nur zum Zeitpunkt, zu dem sie durchgeführt werden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Sonntagsfrage eine von 12 oder 14 ist, die wir stellen. Wir fragen auch danach, wie das Betreuungsgeld ankommt, ob Thomas de Maizière zurücktreten soll oder wie Kanzlerkandidat Steinbrück eingeschätzt wird. Nur in der Zusammenschau ergibt sich daraus ein Bild, und die Sonntagsfrage ist ein Mosaikstein. Ich wünsche mir auf jeden Fall Zuschauer, die das ganze Bild wahrnehmen.

Beim vergangenen US-Wahlkampf kam ein Journalist, der Twitter-Meldungen auswertete, zu genaueren Vorhersagen als die Wahlforscher. Sind die Menschen in den sozialen Netzwerken ehrlicher als bei Ihnen am Telefon?

Das ist ein guter Vergleich, der die wesentlichen Unterschiede deutlich macht. In den USA ging es um Romney oder Obama. Das ist verglichen mit dem deutschen Zweistimmen-Wahlrecht eine ziemlich einfache Entscheidung. Die Unsicherheiten bei uns entstehen ja vor allem dadurch, dass viele Menschen einfach nicht mehr wissen, was sie mit ihrer Stimme machen sollen oder ob sie sie überhaupt nutzen. Bei der Frage Merkel gegen Steinbrück tun sich die Menschen übrigens auch bei uns leichter. Aber weder die Wahlforschung noch Twitter kann etwas widerspiegeln, was Menschen für sich selbst noch nicht entschieden haben.

Gerade in den Wochen vor der Wahl gewinnt man den Eindruck, als ob jeden Tag eine Umfrage veröffentlicht wird. Wer gibt die eigentlich alle in Auftrag?

Ja, es gibt eine wahre Umfrageflut. Ein Teil kommt von Instituten, die nach wissenschaftlichen Standards wöchentlich oder monatlich im Feld sind, andere tauchen nur in Vorwahlzeiten auf oder erheben ihre Daten sogar über das Internet. In dieser Phase werden die meisten Umfragen von Medien in Auftrag gegeben. Insgesamt aber gibt es viele unveröffentlichte Umfragen, die Staatskanzleien oder Parteizentralen bezahlen. Und darin liegt für mich der eigentliche Grund für unsere Arbeit: ARD und ZDF sorgen mit ihrer Wahlforschung für Transparenz. Alles, was wir machen, ist öffentlich. Bei uns erfahren die Wähler auch das, was ein Wahlkampfteam lieber unter der Decke hält.

Wie erkennt man, ob eine Umfrage eine seriöse ist?

Im Grunde ist das wie beim Autokauf. Jeder kennt Marken, die seit Jahren auf der Strasse herumfahren oder weiß von Freunden, wo es besonders viele Pannen gibt. Ich kenne nicht alle Institute, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Arbeit von Infratest dimap und der Forschungsgruppe Wahlen für ARD und ZDF seriös und in keiner Weise interessengeleitet ist.

Was muss eine Partei für eine Umfrage bezahlen?

Das hängt von der Länge des Fragebogens ab. Eine kurze aktuelle Erhebung kann man sicher für 5.000 Euro bekommen, eine intensivere Studie mit genaueren Fragen kostet aber schnell das Doppelte und Dreifache.

Worauf müssen ein Journalist und ein Bürger achten, wenn sie eine Umfrage lesen?

Ich hätte zwei Empfehlungen. Zum einen: Achten Sie auf das Datum der Befragung. Nicht selten sind Zahlen unterwegs, die aus der letzten Woche stammen und über die aktuelle Situation nicht mehr viel sagen. Und die andere: Gucken Sie bitte nicht nur auf die Sonntagsfrage.


Auch unsere Zeitung – wie andere auch oder Magazine wie der „Spiegel“ – fragen ihre Leser: Wie geht Ihrer Meinung nach die Wahl aus? Wie genau sind diese Umfragen im Internet, an denen Zigtausende von Bürgern teilnehmen?

Ein schwieriges Feld. Um es ganz ehrlich zu sagen: Sie sind in keiner Weise repräsentativ. Denn es nehmen nur Internetnutzer teil, und von denen nur solche, die auch eine bestimmte Seite ansteuern und zudem aus irgendeinem Grund die Mühe auf sich nehmen zu klicken. Ich finde das durchaus interessant, aber man darf es bitte nicht mit repräsentativen Umfragen verwechseln. Übrigens auch dann nicht, wenn Zigtausende mitmachen.

In Frankreich dürfen Umfragen in der Woche vor der Wahl nicht mehr veröffentlicht werden. Würden Sie das auch für Deutschland als sinnvoll erachten?

Die ARD hat sich genau diese Abstinenz selbst auferlegt. Seit wir Wahlforschung machen, gibt es in der letzten Woche vor der Wahl einfach keine Umfragen mehr. Denn das ist die Phase, in der sich die Unentschlossenen wirklich entscheiden. Leider stehen wir damit ziemlich allein. Verbote kann man übrigens ziemlich leicht umgehen, Einsicht wäre mir lieber.

Thüringer Allgemeine 3. August 2013

Wie AP recherchierte, ob der Unglücks-Zug zu schnell gefahren ist

Geschrieben am 5. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Recherche ist Kleinarbeit, bisweilen ein wenig Mathematik, begleitet von einer gehörigen Portion Logik – wie nach dem Zugunglück im spanischen Santiago de Compostela, bei dem 79 Menschen getötet wurden.

Der Grafik-Spezialist Panagiotis Mouzakisder von AP in London fand heraus, wie schnell der Zugführer gefahren ist mit folgender Methode:

1. Die Geschwindigkeit des Zuges ist zu berechnen, wenn er den Abstand zwischen den im Überwachungsvideo zu sehenden Leitungsmasten kennen würde.

2. Er spielte das Video Bild für Bild ab und schaute auf den Zeitstempel, um herauszufinden: Wie lange ist der Zug von einem Mast zum nächsten unterwegs?

3. Der am Unglücksort filmende Madrider Kameramann Alfonso Bartolome schätzte den Abstand zwischen den Masten.

4. Um diese Daten abzusichern, zählte Fisnik Abrashi, Redakteur am Europa-Desk der AP, die Zahl der Bahnschwellen zwischen zwei Masten auf dem Foto einer Lokalzeitung.

5. AP-Redakteur Bob Barr, ein Eisenbahn-Fan, recherchierte den üblichen Abstand zwischen zwei Bahnschwellen im europäischen Schienennetz.

Beide Methoden führten jeweils zu dem Ergebnis: Die Geschwindigkeit lag zwischen 143 und 192 km/h oder zwischen 154 und 180 km/h. Da die Geschwindigkeitsbeschränkung bei 80 km/h lag,konnte die AP lange vor der Bestätigung durch die Behörden melden: Der Zug fuhr doppelt so schnell wie erlaubt.

Fünf Tage später bestätigten die Daten aus der Black Box die Richtigkeit; laut vorläufigem Untersuchungsergebnis bremste der Fahrer in den Sekunden vor dem Unfall von 191 km/h auf 153 km/h.

Aus dem AP-Blog „Spain train crash: How a journalist’s quick thinking provided vital info“ von Erin Madigan White (31. Juli 2013); aus dem Amerikanischen übertragen von Felix Voigt.

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