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Was interessiert die Leser? Was vergrault? Die wichtigsten Erkenntnisse der Zeitungsforschung

Geschrieben am 8. Juni 2016 von Paul-Josef Raue.
Auch wenn in Europa und Nordamerika die Auflagen sinken: Weltweit lesen immer mehr Menschen Zeitungen, vor allem in Asien. Dieser Händler in Nepals Hauptstadt Kathmandu ist einer von fast drei Milliarden Lesern, er findet offenbar die Themen, die ihn nicht langweilen. Foto: Paul-Josef Raue

Auch wenn in Europa und Nordamerika die Auflagen sinken: Weltweit lesen immer mehr Menschen Zeitungen, vor allem in Asien. Dieser Händler in Nepals Hauptstadt Katmandu ist einer von fast drei Milliarden Lesern, er findet offenbar die Themen, die ihn nicht langweilen. Foto: Paul-Josef Raue

Es gab noch nie so viele und so genaue Leserforschungen wie im vergangenen Jahrzehnt. Die Ergebnisse bedeuten zwar nicht das Ende des Bauchgefühls, das gute Chefs immer brauchen, aber die Leserforschung hilft bei vielen Entscheidungen. Das Lob des Erzählens und die Vorlieben der Leser – das ist das Thema in der 18. Folge der Kress-Serie „Journalismus der Zukunft“: Langweile nicht (der siebte Pfeiler der Qualität).

Das sind die 20 wichtigen Ergebnisse aus den Quotenmessungen von „Readerscan“ und „Lesewert“, zusammengetragen nach Auswertung von zigtausend Artikeln in Regionalzeitungen:

  1. Reportagen, Porträts und Features sind die Lieblinge der Leser, je länger, desto besser. Carlo Imboden, der Schöpfer von Readerscan, berichtet: „Lange Texte saugen die Leser auf! Nur bei solchen Texten merken die Leute: Ich brauche diese Zeitung!“
  2. Glosse, Lokalspitze oder Kolumne sind noch beliebter als die Reportage. Amerikanische Zeitungen wissen das schon lange: Kolumnisten sind die am besten bezahlten Redakteure und oft so populär wie Fernseh-Stars. Kolumnen bis hin zur Lokalspitze („Guten Morgen“) werden immer gelesen, sofern sie regelmäßig kommen und am besten den Autor im Bild zeigen. Gute Schreiber machen gute Zeitungen aus.
  3. Der Leitartikel hat überraschend hohe Quoten, aber nur wenn er eine klare, bissige Überschrift hat. Titel wie aus dem Textspeicher verscheuchen die Leser: „Zwischen den Stühlen“ oder „Um Europa verdient gemacht“ sind Quotenkiller. Noch intensiver werden Kommentare gelesen, wenn sie direkt neben oder in dem Bericht stehen. Bezieht sich der Leitartikel auf den Aufmacher der Titelseite und ist sein Thema ein regionales, dann bekommt er Spitzenwerte.
  4. Das Vermischte steht an der Spitze der beliebtesten Seiten. Überall ist die Klatsch-Spalte, also die kleine Bild-Zeitung, der Quotenrenner. Menschen und ihre Geschichten locken die Leser an. Auch wenn Mord, Totschlag und Brand stets gut gelesen werden, bleibt die Frage: Wie viel Boulevard verträgt der Leser einer Regionalzeitung? Nicht viel. Er liest alles, aber er zweifelt an der Seriosität, wenn zu viel Blaulicht in der Zeitung steht. Ein Beispiel: Ein Mörder gerät bei der Flucht vor der Polizei unter die Straßenbahn. Darf man das Foto auf der Titelseite bringen? Ja, aber nur mit einem extrem trockenen Text: „Die Polizei dokumentierte mit diesem Foto, das um 13.52 Uhr entstanden ist…“
  5. Gerichtsreportagen sind absolute Quoten-Garanten, gleich wo sie im Blatt stehen. Auch Fortsetzungen werden gelesen.
  6. Die Politik hat überdurchschnittlich viele Leser, wenn sie vom Nutzen oder Schaden für den Bürger handelt.
  7. Tagesschau-Themen dürfen nicht fehlen, wenn die Zeitung in die Tiefe geht mit Hintergrund und Analysen. In einem Interview mit der Drehscheibe erzählte Carlo Imboden, wie sich das Leseverhalten in einem Jahrzehnt allerdings radikal verändert hat: Vor gut zehn Jahren war bei der Main-Post in Würzburg der Lokalteil der am geringsten gelesene Teil – und das war typisch für die meisten deutschen Zeitungen; bei einer Messung des Nordkurier in Neubrandenburg vor fünf Jahren stand schon das lokale Buch weit vorne. Die jüngeren Leser holen sich Mantel-Informationen bereits am Vortag aus dem Internet; mittlerweile agieren die älteren Leser zwischen 45 und 55 ähnlich. So verlagert sich ihr Interesse in der Zeitung aufs Lokale, auf neue Informationen, die viel mit dem Leben der Leser gemein haben.
  8. Titelseite: Am meisten wird das Lokale und Regionale gelesen, wenn das Thema wichtig ist. Und auch hier gilt: Wichtig ist alles, das einen Bezug zum Leben und Alltag der Leser hat, das zum Stadtgespräch taugt. Wirtschaft bekommt hohe Lesewerte, wenn es um Arbeitsplätze geht, neue Firmen und Geschäfte – und wenn Menschen im Vordergrund stehen, und die können Manager sein oder Wirte oder Verkäuferinnen auf dem Weihnachtsmarkt.
  9. Gesundheit ist das Top-Thema – mit Spitzenwerten, wenn das Krankenhaus oder der Chefarzt aus der Region kommen. Überhaupt werden Ratgeber gelesen, wenn die, die den Rat geben, Nachbarn sein könnten.
  10. Leser-Seiten, auf denen nur Leser schreiben, erreichen stets Top-Positionen; erscheint die Seite täglich und ist wie eine redaktionelle Seite gestaltet, kann sie sogar Vermischtes von der Spitze verdrängen. Auf der Seite dürfen nicht nur Leserbriefe stehen, sondern auch Leser-Fotos, -Erzählungen, -Tagebücher, sogar Gedichte.
  11. Vorder- und Rückseite der Zeitungs-Bücher bekommen von allen Seiten die besten Lesewerte.
  12. Die Kultur mögen die meisten Leser nicht. Sogar in der Hauptstadt ziehen große Konzertkritiken nicht. „Nur knapp drei Prozent lesen sie wirklich“, kam bei der Berliner Zeitung heraus. Allerdings lesen diese Wenigen ihre Nischen-Themen besonders intensiv.
  13. Der Lokalsport wird noch weniger gelesen als die Kultur. Selbst der große Sport dümpelt dahin, es sei denn Länderspiele oder Europapokal-Spiele laufen, die auch im Fernsehen mit hohen Einschaltquoten die Massen anziehen.
  14. Rubriken wie Horoskop oder Sudokus bekommen schwache Quoten. Doch Vorsicht! Als eine Redaktion das Kreuzworträtsel rauswarf, konnte sie sich vor Anrufen und Briefen nicht mehr retten; Mails kamen keine. Offenbar haben Ältere das Kreuzworträtsel geschätzt, aber in der Messung war die Zielgruppe nicht oder nur schwach vertreten.
  15. Muss man alles, was schwache Quoten bringt, rauswerfen? Nein, das kann gefährlich werden. Auch manche Seiten und Artikel, die wenig gelesen werden, gehören für die Leser zur Grundausstattung einer Zeitung. Das können in einer katholischen Gegend die Gottesdienst-Termine sein, auf dem Land die Kreisklassen-Spiele im Fußball. Schwache Quoten sollten die Redaktion zum Nachdenken anspornen, ob sie durch veränderte Rubriken, neue Präsentation und originelle Ideen die Leser wieder zum Lesen bringen kann.
  16. Spezial-Seiten, etwa für junge oder ältere Menschen, meist noch im speziellen Layout, verscheuchen die Leser. Es gibt zwei Ausnahmen: Die verständlich erklärende Kinderseite wird selbst von Erwachsenen gelesen; und eine Senioren-Seite, wenn sie, wie bei der Thüringer Allgemeine, von einer Senioren-Redaktion geschrieben wird, die nur aus Lesern besteht.
  17. Das Fernsehen ist thematisch für die Zeitung interessant. Artikel werden intensiv gelesen, die auf große TV-Ereignisse reagieren, etwa auf einen Tatort, der in der Region spielt. Als in Erfurt der erste (und einzige) Tatort spielte, hatten die Berichte dazu über Wochen hohe Quoten: Er war Gesprächsstoff in den Büros und an den Stammtischen. Hätte die Thüringer Allgemeine in der Zeit nicht die Quoten gemessen, wäre das Thema schnell von der Redaktion weggelegt worden: Das Beispiel zeigt, dass Redaktionen oft zu schnell ein Thema begraben mit dem Argument „Die Leser haben genug davon!“
    Als die „Main-Post“ erstmals Readerscan einsetzte, machte sie eine ähnliche Erfahrung. Anton Sahlender, damals Stellvertreter des Chefredakteurs, berichtete: „Auf der Quote des Fernsehens aufzusetzen, ist ein Wellenreiter für die Zeitung.“ Themen-Kampagnen mögen die Leser, also die Verfolgung eines Themas über eine längere Zeit. Offenbar mögen die Leser nicht, dass jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird; sie schätzen es, wenn die Redaktion an einem wichtigen Thema dranbleibt.
  18. Eine Bild-Text-Schere vergrault den Leser: Foto und Überschrift müssen passen. Wenn Tarzan in der Überschrift steht und Micky Maus auf dem Foto zu sehen ist, ist der Leser nur verwirrt und zieht weiter, da kann der Text noch so gut sein.
  19. Recherche wird vom Leser honoriert – im Gegensatz zum Abdruck von Pressemitteilungen. Ist ein Thema exklusiv, investigativ und umfassend, dann interessiert es die Leser. Im Zentrum stehen alle Veränderungen: Ob es der neue Baumarkt ist, eine Baustelle oder gestiegene Eintrittspreise im Zoo.
  20. Fehler mögen einige Leser ärgern, aber sie sind keine Quoten-Killer. Thomas Bärsch, der viele Lesewert-Untersuchungen ausgewertet hat: „Im Unterschied zu ärztlichen Kunstfehlern, an denen in Deutschland jährlich Tausende Menschen sterben, richten Fehler in der Zeitung keinen irreparablen Schaden an. Sie müssen nur erkannt und korrigiert werden.“

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Mehr: http://kress.de/news/detail/beitrag/135058-kressde-serie-journalismus-der-zukunft-von-paul-josef-raue-langweile-nicht.html

 

 

Vorbildlich: Die Middelhoff-Buddenbrooks-Reportage der SZ

Geschrieben am 9. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Zwei Reporter haben Thomas Manns Bürger-Roman „Buddenbrooks“ gelesen und das Schicksal der Lübecker Familie mit der von Thomas Middelhoff verglichen: Entstanden ist ein großes Feature,  eine Mischung aus Essay, Porträt und Analyse, eine prächtiges Lese-Stück über drei große Zeitungsseiten. Die Süddeutsche mit ihrer neuen Wochenend-Ausgabe zeigt, was Zeitung erschaffen kann, was eine gute Redaktion leisten kann, wenn sie den Mut hat, über eine Zeitungsseite hinauszudenken. Mit der Wochenend-Ausgabe ist das Gefäß dafür geschaffen, jetzt kommen die edlen Stoffe hinein.

„Warum ist Middelhoff so geworden? Was trieb ihn an? Warum handelte er so widersprüchlich? Warum erscheint sein glanzvolles Leben im Nachhinein als eine einzige Unstimmigkeit?“, fragen Uwe Ritter und Ulrich Schäfer in der SZ-Wochenendausgabe. „Mein Haus, meine Yacht, meine Familien“ ist „eine Geschichte wie ein Roman, ein Verfall wie bei den Buddenbrooks“. Nur wofür die Buddenbrooks vier Generationen brauchten, das schafft Middelhoff in nicht einmal einem Leben.

Lesen!

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SZ 8. August 2015

Eine Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten: Warum wir stolz sein können

Geschrieben am 9. November 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 9. November 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, H 31 Feature.

Können Sie eine Liebeserklärung an den Osten schreiben?, fragte mich der Südkurier-Chefredakteur Stefan Lutz aus Konstanz am Bodensee. Ja, das ist die Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten Deutschlands:

Die Mauerspechte perforieren die Mauer, die Wessis klopfen auf Trabbis als Willkommens-Gruß, und Helmut Kohl und Lothar de Maiziere verhandeln über die Einheit – vor knapp 25 Jahren.

Der eine, Kanzler seit acht Jahren, ist groß und kräftig; der andere, erst seit einigen Wochen DDR-Ministerpräsident, klein und schmächtig. Der Kanzler wähnt sich als Sieger der Einheit; der DDR-Präsident weiß, sein Staat ist pleite und sein Volk will die Einheit, egal wie.

Nach einem der zähen Gespräche bewegt der DDR-Regierungssprecher den sichtbar mürrischen Kanzler dazu, die Journalisten nicht länger warten zu lassen. Er bittet Kohl vor dem Gästehaus nicht auf der obersten Stufe stehen zu bleiben – aus Rücksicht auf den DDR-Präsidenten, der einen Kopf kleiner ist.

Kohl bleibt oben stehen, sieht die Fotografen, zögert und steigt unwillig eine Stufe hinab. Nun sind sie auf Kopfhöhe, die beiden deutschen Regierungschefs: Ein symbolisches Bild in jeder Hinsicht.

Der Starke und der Schmächtige – in diesem Bild fanden sich die Ostdeutschen wieder, als das Trabbiklopfen leise wurde und zwei von drei Ostdeutschen keine Arbeit mehr hatten. Im Südwesten, eine Tagesreise von Schwedt oder Cottbus entfernt, verschwand schnell das Interesse an dem, was man die „neuen Bundesländer“ nennt – ein typisch westdeutscher Begriff, der suggeriert, man habe ein Land erobert.

Dabei haben die Ostdeutschen unmerklich die Achse des neuen Deutschlands (eigentlich das alte, das verfassungsgemäße) nach Osten verschoben: Berlin, die neue Hauptstadt, liegt näher an Warschau als an Paris; die Kanzlerin kommt aus Vorpommern, der Bundespräsident aus einem schmalen Streifen an der Ostsee, den man Fischland nennt.

Man muss die Ostdeutschen nicht lieben, aber man sollte es zumindest versuchen. Denn – was ist das nur für ein stolzes Volk, das hinter dem Todesstreifen die Sehnsucht auf eine Revolution wach hielt – trotz Indoktrination und Angst vor einer Bande unfähiger und die Menschen verachtenden Politiker? Was ist das für ein Volk, das eine Gesellschafts-Ordnung beerdigte, die ihnen ein gutes Leben und frei Rede verwehrte? Was ist das für ein Volk, dem die einzige Revolution in Deutschland gelang, und die auch noch friedlich?

Sie machen einen das Lieben auch nicht leicht, gelten als mürrisch – und undankbar. Undankbar? Wofür sollten die Ostdeutschen danken?

Sicher ist eine Billion oder noch mehr in die Unternehmen, Städte, Straßen und Landschaften gesteckt worden, damit sie blühen. Aber es war eine Laune der Geschichte, dass die Menschen in Erfurt, Rostock und Dresden unter die Knute der Sowjets kamen und ein sozialistisches Experiment auszuprobieren hatten, während die Brüder und Schwestern in Hamburg, Essen und Konstanz an ihrem Wohlstand arbeiten und am Feiertag, dem 17. Juni, in die Biergärten gehen durften. Nach ihrer Revolution bekamen die Ostdeutschen zurück, was ihnen vorenthalten war und ihnen zustand.
Es ist schon ein westdeutscher Hochmut, dafür Dankbarkeit zu erwarten. Und dieser Hochmut geht den Ostdeutschen gegen den Strich. Was haben sie nicht alles ertragen müssen, als dem Rausch der Revolution der Kater folgte?

Wer eine totale, wirklich totale Veränderung seines Lebens und seines Alltags noch nicht erlebt hat, der gebe sich einmal fünf Minuten und denke nach: Gelänge es mir

> mit dem Verlust meines Arbeitsplatzes fertig zu werden – nach einem Arbeitsleben, in dem Arbeitslosigkeit so gut wie nicht vorkam?

> erstmals einen Versicherungs- und Mietvertrag verstehen, eine Steuererklärung abgeben und einen Kreditantrag ausfüllen zu müssen?

> mit einem ebenfalls deutsch sprechenden Menschen einen Kaufvertrag abzuschließen über einen sechs Jahre alten Golf, der fast so viel kosten soll wie ein neuer?

> einen Menschen zu respektieren, der Beamter ist, eine Buschprämie zu seinem hohen Gehalt bekommt und mit mir so unverständlich, aber kompromisslos redet, als habe er einen Unzivilisierten aus dem Busch vor sich?

Viele, zu viele kamen aus dem Westen, um Karrieren zu machen, die sie wegen mangelnder Eignung in ihrer Heimat nie hätten machen können. Trotz dieser Mitläufer und Günstlinge der Revolution, aber auch dank manch wirklicher Helfer gelang den Ostdeutschen ein zweites Wirtschaftswunder, zumindest im Süden des Ostens, in Sachsen und Thüringen.

Wer weiß schon in Konstanz, dass die Arbeitslosigkeit in Thüringen geringer ist als in Nordrhein-Westfalen und die Zahl der Industrie-Arbeitsplätze, in Relation zu den Einwohnern, die zweithöchste in Deutschland? Manches erinnert an den Aufschwung in Westdeutschland nach Verabschiedung des Grundgesetzes: Ein fleißiges und genügsames, bisweilen auch seltsames Volk schafft sich seinen Wohlstand – und denkt nicht über die Vergangenheit nach.

Man sollte sie einfach lieben, aber jeden Fall zu ihnen reisen. Der Osten ist der schönste Teil Deutschlands: Ein Drittel unseres Welterbes ist im Osten zu besichtigen. Wer beispielsweise nach einer langweiligen Fahrt durch die hessische Kulturwüste über die alte Grenze fährt, den grüßt gleich die Ruine der Brandenburg, die Unkundige schon für die Wartburg halten. Es ist eine Perlenkette entlang der Autobahn:

 Die Wartburg, auf der Luther die Bibel übersetzte, grüßt oberhalb von Eisenach, wo Johann Sebastian Bach geboren wurde.

 Nicht einmal eine halbe Autostunde entfernt lockt die Residenzstadt Gotha mit dem ältesten englischen Landschafts-Park auf dem Kontinent.

 Noch einmal eine halbe Autostunde weiter liegt mit Erfurt eine der schönsten und fast vollständig erhaltenen Altstädte Deutschlands mit dem beeindruckenden Dom.

 Nebenan liegt Arnstadt mit der Kirche, an der Bach seine erste Anstellung als Organist bekam.

 Ja, und dann kommt Weimar, die deutsche Kulturstadt schlechthin, in der Goethe lebte, liebte und schrieb, und Schiller und Herder und viele andere – und in der Nietzsche starb.

Übrigens: Sie sind wirklich anders, die Revolutionäre und ihre Nachfahren im Osten. Wer ungeduldig fragt: „Ist das denn möglich – 25 Jahre nach der Wende?“, der hat Revolutionen nicht verstanden und kennt nicht mehr die Spätfolgen von Diktaturen, der spürt nicht die Narben in den Seelen der Menschen, die immer noch schmerzen, der ahnt nur, wie schwer es ist, ein Paradies und das Glück der Freiheit zu erwarten und eine Demokratie zu bekommen, die einem keiner so recht erklärt.

So müde auch die Älteren geworden sind, überdrüssig der Veränderungen und der Debatten über Stasi, Mitläufer und Unterdrückung, so neugierig sind die Jungen, so vital und tatendurstig und so unbekümmert. Die Dritte Generation Ost ist das Potential für die Zukunft Deutschlands.

Wir befinden uns in der historischen Zeit „25 Jahre danach“, also im Achtundsechzig des Ostens: Die Jungen halten das Schweigen der Eltern kaum aus; sie wollen wissen, was sie getan und wie sie gelebt haben in der Diktatur. Was ist das für eine Generation, die Dritte? „Eine Generation, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, weil sie in der Gegenwart wenig darüber erfährt“, so beschreibt sie es in einem Buch, das einfach „Dritte Generation Ost“ heißt.

In manchem ähnelt der Aufschrei der jungen Leute aus dem Osten dem Aufschrei der jungen Achtundsechziger einst im Westen:

 Während die Älteren, die Väter- und Großväter-Generation, Ruhe haben will, während sie behaupten, die Jungen wollen die alten Geschichten nicht hören, widersprechen die Jungen laut: „Wer sagt, dass die Vergangenheit für die Jungen keine Rolle mehr spielt, der irrt… Wir wollen nicht mehr ausweichen und um alles lavieren, was mit Ostdeutschland zusammenhängt.“

 Die Jungen wollen wissen, warum sie autoritär (aber auch liebevoll) erzogen worden sind – eben so, wie es in der DDR üblich war. Sie wollen wissen, ob eine andere Erziehung besser gewesen wäre und in Zukunft auch wäre – vor allem mit Blick auf ihre Kinder. Sie wissen, dass mit einer Revolution nicht alles untergeht, was die Menschen geprägt hat.

 Sie ringen um Antworten, was sie aus dem untergegangenen Land mitnehmen können in das neue Land – und sie wünschen,
dass ihre Eltern dabei helfen. Sie ringen um die Werte und fragen: Welche Werte sind so wertvoll, dass sie nicht über Bord geworfen werden dürfen?

Anders als die Achtundsechziger im Westen begehren sie nicht auf und gehen nicht auf die Straße. Sie haben andere
Möglichkeiten: Sie verlassen einfach ihr Elternhaus, lassen die Alten schweigend zurück und gehen zu Studium oder Lehre in den Westen oder fliegen gleich nach England oder Australien. Sie sehen die Trauer in den Augen der Mütter und verstehen sie nicht; diese Trauer belastet sie sogar, weil sie wissen: Es war schwer in der Diktatur, seinen Kindern trotzdem den aufrechten Gang zu lehren. Aber sie Jungen schütteln die Last der Vergangenheit ab, weil es um ihr Leben geht.

Wir sprechen von weit mehr als zwei Millionen junger Menschen, die in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR herangewachsen sind. Sie haben heute einen unschätzbaren Vorteil gegenüber ihren Altersgenossen im Westen: Sie kennen zwei Wirtschafts- und Gesellschafts-Systeme, sie waren – im besten Alter – auf sich selbst geworfen, konnten selbstbewusst in eine neue, eine freie Gesellschaft wechseln, ohne hohe Eintrittsgebühren zahlen zu müssen. Sie kennen etwas, was im Wohlstand und Freiheit aufgewachsene Generationen nicht erfahren: Im besten Alter die Richtung ändern, neu anfangen, die Welt neu denken – ja, die Welt verändern und mit der eigenen anfangen.

Die Erste deutsche Generation entstand aus der Dritten Generation Ost und wurde in der Revolution elternlos in dem Sinne: Sie brauchten ihre Eltern nicht mehr. Am liebsten hätten die Eltern ihre Kinder nach der Zukunft gefragt, hätten Rat gesucht, wie es weitergeht. Aber wer in einem streng hierarchischen System von Oben und Unten gelebt hatte, will sich vor seinen Kindern keine Blöße geben – und schweigt, erst recht wenn er sich nicht sicher ist, ob er das richtige Leben gelebt hat in dem falschen der Diktatur.

Kurz angemerkt sei, um nicht fahrlässig euphorisch zu werden: Es gibt auch Kinder der Revolution, die in den falschen Weg abgebogen sind, die ohne Hilfe hilflos wurden und ihre Energie fatal einsetzen – wie die jungen Terroristen der NSU, die mit ihrer Intelligenz ein Jahrzehnt lang mordeten und die Polizei unseres Landes an der Nase herumführten. Auch das ist eine Parallele zu den 68ern des Westens, von denen einige in den Terror gingen und mordeten und die Gesellschaft ihrer Eltern herausforderten.

Die meisten der Jungen, der Dritten Generation Ost, haben ihren Weg gefunden ohne große Hilfe, denn auch ihre Lehrer waren ratlos und die Ratgeber aus dem Westen selten die besten. Für die Jungen ist Deutschland nicht mehr geteilt, auf jeden Fall nicht in Ost und West, sondern eher in Nord und Süd, in Gestern und Morgen.

So wie die Achtundsechziger den Westen verändert haben, vielleicht sogar radikaler als viele denken, so werden die Achtundsechziger des Ostens die gesamte Republik verändern, langsamer zwar und leiser, aber tiefgreifend. Es ist so: Die Revolution hat Deutschland, auch und gerade den Westen, verändert. Um es neudeutsch zu beschreiben: Nachhaltig verändert.

Unser Land ist ein anderes geworden. Man mag es in der äußersten, der südwestlichen Ecke der Republik kaum merken.
Wer es wenigstens mal ahnen will, reise in den Osten – und nicht nur nach Berlin, unserer Hauptstadt, die zu unserer ersten Metropole geworden ist.

Kommt er nach Thüringen oder Mecklenburg zu Besuch, wird er sich wohlfühlen, erst recht in den Touristen-Hochburgen. Bleibt er länger, bekommt er eine nachrevolutionäre Antipathie zu spüren, die ihn verwirrt oder gar verletzt: Viele in der Eltern- und Rentner-Generation mögen den Fremden nicht, erst recht nicht den Fremden aus dem eigenen Land, der sich über das lädierte Selbstbewusstsein wundert, an die Lebens-Geschichte rührt, darüber sprechen oder gar urteilen will. Da geht es dem Fremden nicht besser als den Kindern der Revolution.

Trotzdem: Wir können die Revolutionäre nur lieben, zumindest aber sollten wir sie und ihr Leben respektieren.

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Im Südkurier erschien die Liebeserklärung am 30. Oktober auf den Seiten 2-3. Online hat ihn die Redaktion in die Exklusiv-Abteilung gestellt:

29.10.2014 | THEMEN DES TAGES | Exklusiv
25 Jahre Mauerfall: Warum wir stolz sein können. Eine Liebeserklärung an Ostdeutschland
25 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen – aber noch heute fremdeln die Deutschen miteinander. Paul-Josef Raue, einer der angesehensten Journalisten Deutschlands, erklärt exklusiv für den SÜDKURIER, warum die Deutschen stolz auf ihren Osten sein können.

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