Kuppelei: Wenn sich in der SZ Anzeigen und Redaktion verbinden
Reiseteil der Süddeutschen Zeitung am 10. Dezember 2015: Eine normale redaktionelle Seite im normalen Layout über Thüringen, Luther und Bratwurst. Allerdings steht auf einem Viertel der Seite eine Anzeige des Thüringer Umweltministeriums, in dem die „Nationalen Naturlandschaften in Thüringen“ gepriesen werden.
In dem großen Reisebericht kommt ausführlich eine Mitarbeiterin der Thüringen Tourismus GmbH zu Wort. Die Seite ist klein in der Kustode als „eine Sonderseite“ gekennzeichnet. Der Text ist gefällig geschrieben, es ist nette PR.
Die rechtliche Seite: „Wer zusätzlich zur Erteilung eines Anzeigenauftrags die Zugabe einer redaktionellen Besprechung anbietet oder gewährt, handelt unlauter“, zitiert das Handbuch des Journalismus ein Oberlandesgericht.
Die ethische Seite: Ziffer 7 des Pressekodex mahnt zur Trennung von Werbung und Redaktion.
Ein Leser ist empört, weil sein Brief über das Versagen der Politik gekürzt wurde
„Es ist zum Kotzen!“ schreibt ein Leser über Politiker und ihre Politik – und beschwert sich darüber, dass die Redaktion diesen Ausspruch und andere Sätze mehr gekürzt hat in seinem rund 3500 Zeichen langen Leserbrief:
„Ich muss unterstellen, dass der Inhalt aus Gründen eben der Political Correctness absichtlich „entschärft“ wurde, so wird z. B. keiner der Namen aktiver Politiker, um die es in meiner Zuschrift ging, nach der Kürzung noch erwähnt. Das, was vom eigentlichen Anliegen übrigblieb, war nicht nur gleich Null.
Der veröffentlichte Rest erscheint, da aus dem Kontext gerissen, banal bis albern, so dass ich mich dafür schäme, dass mein Name darunter steht. Ein weiterer Grund, diese kastrierte Zuschrift zu veröffentlichen, mag evtl. Ihrerseits der Zwang sein, einen noch leeren Platz auf der Leserseite zu füllen.
Das war in der Thüringer Allgemeine die Antwort des Chefredakteurs:
Sehr geehrter Herr Richter,
ich bin nicht erbost, möchte mich aber bei Ihnen noch unbeliebter machen: Mir ist diese Art von Kritik an unseren Politikern zu billig.
Sie schreiben in den nicht abgedruckten Teilen Ihres Briefes zum Beispiel über die SPD-Generalsekretärin Nahles:
„Eine Frau, die noch nie etwas anderes getan hat, als auf Beratungen und Konferenzen rumzusitzen, weil gar nicht, was Verantwortung heißt, geschweige denn hat sie jemals welche tragen müssen.“
Woher wissen Sie das, Herr Richter? Haben Sie schon einmal einen Tag mit der Politikerin verbracht?
Über Carsten Schneider schreiben Sie in Ihrem Brief:
„Ihn qualifiziert eine Lehre als Schalterbeamter in einer Bank und einigen angelesenen Binsenweisheiten, die jeder Zeitungsleser auch in Talkshows vortragen könnte.“
Was haben Sie gegen einfache Bürger wie „Schalterbeamte“? Schadet es unserer Demokratie, wenn sie im Parlament sitzen? Wollen wir nur Professoren und hochbezahlte Manager im Parlament, um die Finanzkrise zu bewältigen?
Wie gesagt: Populistischen Ausbrüche sind mir zu billig, politische Korrektheit hin oder her. Ich frage dagegen: Machen wir nicht unsere Demokratie verächtlich, wenn wir alle Politiker verspotten?
Ich bin überzeugt: Wir stärken unsere Demokratie, wenn wir unsere Volksvertreter ernst nehmen und beim Wort; wenn wir sie kontrollieren und nichts durchgehen lassen; wenn wir sie bei kleinen und großen Verfehlungen, die wir aber klar aufdecken müssen, dem Urteil der Öffentlichkeit aussetzen – und notfalls auch den Ermittlungen von Staatsanwälten und den Fragen von Richtern.
Wir alle tragen in einer Demokratie Verantwortung, das Volk ebenso wie die Volksvertreter. Es hilft keinem, Politiker abzuwatschen – wie in Ihrem Brief: „Keinerlei Lebenserfahrung, keinerlei Ahnung davon, was es heißt, Verantwortung für irgendetwas zu tragen! Es ist zum Kotzen!“
Übrigens bekommen wir viele Briefe unserer Leser, so viele wie nie zuvor – so dass wir niemals „leeren Platz“ füllen müssen, sondern nur einen kleinen Teil drucken können, in der Regel kurz und treffend.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 14. Dezember 2013
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