Alle Artikel der Rubrik "21 Die Pressekonferenz"
Pippi Langstrumpf ist ein beliebtes Motiv auf Seiten der Linksautonomen. Foto: BpB / Indymedia
„Einige Touristen suchten das Weite“, schreibt die Badische Zeitung über die Demonstration gegen das Verbot der Internet-Plattform www.linksunten.indymedia.org („Wir sind zur Zeit offline…“). Die dreihundert Demonstranten zeigten Transparente wie „Pressefreiheit statt Polizeistaat“ oder „Kein Forum ist illegal“. Eine Sprecherin der „Soligruppe unabhängiger Medien in Freiburg“ bezeichnete laut Badischer Zeitung das Verbot als massiven Angriff auf die Pressefreiheit.
Haben die Polizisten bei der Durchsuchung im Freiburger Autonomen Kulturzentrum KTS wirklich Waffen gefunden? So berichteten dpa und andere im Anschluss an eine Pressekonferenz des Innenministeriums. Zweifel hegte die Netzpolitik-Redaktion: „Durchsuchungen wegen Linksunten: Doch keine Waffen bei Journalisten gefunden.“
Die Tagesschau-Faktenfinder recherchierten und erfuhren von einer Sprecherin des Bundesinnenministeriums: Die Waffenfunde sind Zufallsfunde im Zusammenhang mit dem Vollzug des Verbotes und spielen daher im Zusammenhang mit dem Verbot eine nachgeordnete Rolle. Unbeantwortet blieb eine Frage der Faktenfinder, warum diese „Zufallsfunde“ bei der Pressekonferenz am Freitag direkt zu Beginn erwähnt wurden.
Das Stuttgarter Landeskriminalamt hatte laut Netzpolitik-Redaktion bei der Pressekonferenz Sprühdosen, Handschuhe, Schlagstöcke, Böller, vier Messer, vier Zwillen und ein Elektroschockgerät gezeigt.
Ein Verbot bewirkt wenig, meint der Politikwissenschaftler Rudolf von Hüllen, der zwanzig Jahre lang das Linksextremismus-Referat beim Verfassungsschutz geleitet hat. Auf einer Internet-Seite der Bundeszentrale schrieb er vor einigen Jahren: „Der Urheber auch strafbarer Inhalte kann sich über Domains im Ausland mit etwas Geschick wirksam vor Strafverfolgung schützen.“ Stimmt diese Einschätzung wäre das Verbot durch den Innenminister eher ein symbolischer Akt.
Von Hüllen vergleicht das deutsche Indymedia mit der vom Innenminister verbotenen Abspaltung www.linksunten.indymedia.org:
- Bei Indymedia kann jeder Beiträge einstellen. Moderatoren achten darauf, dass „hierarchische, etablierte oder kommerzielle Gruppierungen“ den Auftritt nicht nutzen ebenso dass „sexistische, rassistische, faschistische u./o. antisemitische Beiträge jeder Art“ nicht gepostet werden; Abgrenzung gegen Gewalt fehlt.
- „linksunten.Indymedia“ präsentiert laut von Hüllen linksextreme Menschenverachtung in offener Form mit Fotos, Hinweisen zu Beruf und Adresse von „Nazi-Schweinen“ sowie Hinweisen, was man bei einem Anschlag vor Ort beachten sollte.
In meiner Kolumne JOURNALISMUS! surfe ich durch die Online-Seiten der „Bundeszentrale für politische Bildung“, einer Behörde des Bundesinnenministeriums und entdecke dabei auch das Bild von Pippi Langstrumpf, das Linksautonome gerne auf ihren Seiten zeigen.
Mit ihrer Lebensweise entspricht Pippi Langstrumpf linksautonomen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben ohne Regeln, ohne Staat und ohne Hierarchien,
schreibt Udo Baron aus dem niedersächsischen Innenministerium.
Vor gut zwanzig Jahren informierten sich Linksautonome vor allem über Zeitschriften wie die in Berlin herausgegebenen „Interim“ oder „radikal“, in denen laut Baron auch mal eine Anleitung zum Bau von Brandsätzen stand; beide hatten eine geschätzte Auflage von je etwa 2000 und erschienen offenbar nicht mehr.
Online ersetzt mittlerweile das Papier. Das habe aus Sicht der Extremen einige Vorteile, meint Rudolf von Hüllen: Flächendeckend zugänglich, kostengünstig, in doppelter Hinsicht anonym, da weder Betreiber noch Nutzer kaum erkennbar sind. Von Hüllen:
Für Linksextremisten, die mit Fragen des ‚ideologischen Kampfes‘ vertraut sind, ist das Internet im Kampf um die Hegemonie in den Köpfen heute mindestens so bedeutend wie die Straße.
Vor sechs Jahren beschäftigte sich Marie-Isabel Kane in ihrem Buch „Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland“, herausgegeben von der Bundeszentrale, schon mit dem Wechsel vom Papier zum Netz. Noch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hatten Zeitschriften eine wichtige Integrationsfunktion in der zersplitterten autonomen Szene. Sie wurden beobachtet und tauchten regelmäßig in Verfassungsschutz-Berichten auf, wurden beschlagnahmt und verboten.
Was der Innenminister mit dem Verbot der Internet-Seite aktuell verfügt, steht also in der Tradition der Verbote von Zeitschriften in der Vergangenheit. Kane warnte damals schon vor den Internetforen, die „keine Grenzen“ markierten.
Indymedia – Abkürzung für unabhängige Medien (Independent media) – ist ein Kind der Proteste gegen die G20-Gipfel, entstanden 1999 in Seattle, als sich 700 NGOs in 87 Ländern zusammenschlossen, wie Rainer Winter berichtet, der an der Universität in Klagenfurt Medien- und Kulturtheorie lehrt. Die Überschrift seines Artikels: „Das Erfolgsrezept: Lokal verankert, global und digital vernetzt.“
Für Professor Axel Bruns ist die Strategie der Linksextremen ein Indiz für den „Journalismus im Umbruch.“ Für den Wissenschaftler, der in Australien über Online-Journalismus forscht, zeigen Phänomene wie Indymedia einen grundlegenden Wandel in unserem Umgang mit Informationen:
Die traditionellen Massenmedien waren (und sind vielfach immer noch) industriell organisiert: Die Produktion und Verbreitung von Inhalten benötigt technische Hilfsmittel und spezialisiertes Personal und kann daher nur von entsprechend ausgerüsteten Verlagen und Sendern unternommen werden. Im Internet gelten diese Regeln dagegen nur noch sehr begrenzt: sind die Plattformen erst einmal verfügbar, ist das Erstellen und Verbreiten von Inhalten eine Aktivität, an der auch ganz normale Nutzer erfolgreich teilnehmen können. Die Trennlinien zwischen Nutzern und Produzenten von Inhalten verblassen, und es entwickelt sich ein Hybrid: ein ‚productive user‘ bzw. produktiver Nutzer, den ich als ,produser‚ bezeichnet habe – auf Deutsch ‚Produtzer‘, und wenn das ein wenig nach ‚Revoluzzer‘ klingt, ist das schon ganz richtig.
Der Soziologie-Professor Dieter Rucht weist auf ein Dilemma der Medien hin, wenn sie über Proteste berichten:
Protestgruppen und soziale Bewegungen erzeugen den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit über die Medien. Damit ist auch ihre Wirkung abhängig von medienwirksamen Inszenierungen und sie unternehmen große Anstrengungen, um medial sichtbar zu werden und zu bleiben.
Für ihn haben die Gruppen, die Indymedia weltweit nutzen, „inzwischen aber wohl ihren Zenit überschritten“. Kommt der Innenminister also zu spät?
Was bedeutet der Generalbegriff „Linksextremismus“ überhaupt? Wer erfand und fördert ihn? Welche Milieus verbergen sich dahinter? Vor dem G20 in Hamburg veranstaltete die Bundeszentrale eine Tagung zu „Linksextremismus und linke Militanz – Phänomene, Kontroversen und Prävention“, bei der Experten schon unüberhörbar vor der Gewalt während des Gipfels warnten.
Professor Hans-Gerd Jaschke von der „Hochschule für Wirtschaft und Recht“ empfahl, schon in der Wortwahl zu differenzieren und statt „Linksextremismus“ lieber einzelne Milieus zu analysieren und zu beschreiben. In der Debatte zum Jaschke-Vortrag wurde – laut Tagungsdokumentation – beklagt: Der Begriff Linksextremismus sei aus dem Umfeld der Sicherheitsbehörden heraus entstanden und habe keine soziale Entsprechung; gerade daher sei ein sensibler Umgang mit Internetforen wie Indymedia unbedingt nötig. In der Tat: „Ein sensibler Umgang“.
Im Business Punk werden Donald Trump und seine Pressesprecherin daran erinnert, was eine Pressekonferenz ist:
Keine Beschimpfung der Presse, sondern die Kommunikation des Präsidenten mit der Öffentlichkeit. Business Punk zitiert Playboy-Korrespondent Brian J. Karem, der in einer Pressekonferenz des Weißen Hauses auf Trumps Pressesprecherin Sarah Huckabee reagiert hatte („Ich glaube wir sind dort angekommen, dass wenn man den Medien nicht mehr vertrauen kann zu berichten, dann ist das gefährlich für Amerika“):
„Kommen Sie schon, Sie hetzen hier gerade jeden auf. Diese Regierung hat das auch getan. Warum um Himmels willen! Jeder von uns ist ersetzbar, und jeder von uns, falls wir etwas falsch machen. Das Publikum hat die Möglichkeit umzuschalten oder uns nicht zu lesen.
Sie sind für mindestens vier Jahre gewählt worden. Da gibt es keine andere Option. Wir sind hier, um Fragen zu stellen. Sie sind hier, um Antworten zu liefern. Und was Sie gerade getan haben, ist Menschen im ganzen Land aufzuhetzen, die das sehen und sagen ‚Schau, schon wieder hat der Präsident recht und alle anderen hier sind Fake-Medien.‘ Und jeder hier versucht nur, seinen Job zu machen.“
Quelle: Business Punk, 28.6.2107, zitiert von Xing News
Sabine Adler ist Osteuropa-Korrespondentin des DLF (Foto: Deutschlandradio / Bettina Straub)
Ulrike Demmer war Redakteurin der Madsack-Redaktionen in Berlin. Sie wechselte ins Presseamt und ist stellvertretende Regierungssprecherin. Sabine Adler war Korrespondentin des Deutschlandfunks und wurde Sprecherin des Bundestagspräsidenten; sie kehrte nach knapp einem Jahr vom PR-Job zurück in die Redaktion: „Man wird mundtot gemacht; ich fand das furchtbar. Man büßt doch ein hohes Maß an Freiheit ein“, sagte sie in einem Zapp-Interview.
Auch wenn immer mehr gut ausgebildete Redakteure in die PR wechseln, rümpfen die meisten fest angestellten Redakteure die Nase, wenn sich Pressesprecher oder PR-Leute Journalisten nennen. Klaus Kocks, der letzte VW-Sprecher mit Vorstandsrang, ärgert sich über solche Redakteure, „die sich auf dem Ruhekissen der vierten Gewalt räkeln“ und spottet über die „Speichelleckerei gegenüber Lobbying, über die Bequemlichkeit, mit der einige nachbeten, was andere vorsetzen“.
Redakteure, die – ohne sich zu räkeln – in der Unabhängigkeit bleiben, ärgern sich umso mehr, wenn sogar Leser ihre Unabhängigkeit anzweifeln. Degradieren sie ihre Leser zu besseren Pressesprechern, reagieren sie wie Henning Noske, der Lokalchef der Braunschweiger Zeitung ist; er schrieb vor wenigen Tagen in seiner Kolumne „Offen gesagt“:
Kürzlich las ich in einem unserer Internet-Kommentarforen: ‚Herr Noske macht seinem Ruf als Pressesprecher der BISS wieder alle Ehre.‘ Die BISS, das ist die ,Bürgerinitiative Strahlenschutz‘ im Braunschweiger Norden. Zu viel der Ehre, liebe Kommentatoren. Denn wenn einer Pressesprecher wird, muss er sich aus der Redaktion verabschieden. Pressesprecher ist ein ehrenwerter Beruf, den viele Journalisten einschlagen und klasse ausüben. Klar ist allerdings auch: Sie verbreiten Informationen und Wahrheiten, die im Interesse ihres Unternehmens oder ihrer Organisation liegen. Die Zeitung – gedruckt oder online – leistet sich ein Leser, der unabhängig und unvoreingenommen informiert werden will.
Die Pressefreiheit, die unsere Verfassung garantiert, gilt eben nicht für Pressesprecher und Lobbyisten, auch wenn sie mitunter meinen, Parteien und Politiker, für die sie arbeiten, würden sie verleihen und garantieren – und auch einschränken, wenn es sein muss.
Der Public Relations-Sektor wächst, der Journalismus schrumpft; Öffentlichkeitsarbeit wird vom Journalismus unabhängiger,
stellt der Journalistik-Professor Stephan Ruß-Mohl fest, beklagt eine zunehmende Abhängigkeit und mahnt: „Eine sehr gefährliche Dynamik.“
Der Professor trennt scharf: Hier Journalismus – und auf der anderen Seite PR, die folglich kein Journalismus ist. Was unterscheidet also, wenn überhaupt, Journalismus von PR?
Erst einmal: nichts. Beide nutzen die Sprache; sie schreiben so, dass ihre Leser sie verstehen; sie buhlen um Aufmerksamkeit; sie verführen mit Bildern und Grafiken; und sie schreiben für einen Auftraggeber, ob es ein Referatsleiter im Ministerium ist oder Millionen lesend hinter der Bildzeitung. Die Sprache beherrschen müssen alle, die von Menschen und für Menschen schreiben. Und die Regeln der Verständlichkeit gelten für einen Bericht über die Bundestags-Sitzung ebenso wie für einen PR-Artikel über neue Produkte.
Und jeder, der schreibt, wird von einem bezahlt, für den er schreibt. Für den Pressesprecher ist es sein Chef, der meist eitel ist, oder der Referatsleiter im Ministerium, der seine Bürokratensprache schätzt, oder die Marketing-Chefin, die ungenießbare Adjektive verlangt.
Redakteure schreiben für den Chefredakteur oder Verleger, Feuilleton-Redakteure für Intendanten und Dirigenten, deren Beachtung sie suchen und finden; im besten Fall schreiben Redakteure für die Leser, für Tausende und Zigtausende, die eine Zeitung abonnieren oder kaufen.
Man mag den Redakteur mehr achten, der für Tausende schreibt, als den Lobbyisten, aber im luftleeren Raum schreibt keiner. Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler, mag eine zynische Boulevard-Weisheit sein, aber sie stellt klar: Thema oder Richtung, Sprache oder Ansprache – bestimmt in der Regel der, der bezahlt, ob es die Bürger sind oder der Bürgermeister.
Doch es gibt, bei vielen Gemeinsamkeiten, eine klare Grenze: Sie verläuft eben zwischen unabhängiger Information auf der einen Seite und Verlautbarung wie Propaganda auf der anderen Seite. Der unabhängige Redakteur ist eigentlich nur einem Auftraggeber verpflichtet: Den Bürgern, denen er die notwendigen Informationen zu beschaffen hat, damit sie ihre Macht in der Demokratie ausüben können.
Die Pressefreiheit, die unabhängige Journalisten genießen, ist nicht ihre Freiheit, es ist die Freiheit der Bürger. Sie leihen den Journalisten die Macht, für sie alle Informationen zu sammeln, und verbinden sie mit der Verpflichtung, wichtige Informationen sofort an sie weiterzugeben. Der Journalist handelt also für seinen Auftraggeber – wie ein Treuhänder.
Zeitungen sind ein Markenartikel, sogar der Markenartikel der Demokratie. Und so sind Redakteure, im Gegensatz zur PR-Mitarbeitern, unverzichtbar für unsere Gesellschaft.
Mehr auf https://kress.de/news/detail/beitrag/137198-vom-ruhekissen-der-vierten-gewalt-pr-und-journalismus.html
Bearbeitete und erweiterte Fassung auf der Webseite von KM (Kompaktmedien): http://www.kompaktmedien.de/wie-viel-journalismus-steckt-in-der-pr/
Fehlerkorrektur
Dies ist eine bearbeitete Fassung. Die Funktion von Ulrike Demmer ist nun korrekt angegeben. Dank an dp-Chefredakteur Sven Goesmann für den Hinweis.
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Foto: bpb/Ulf Dahl
In einem Interview mit kress.de spricht Thomas Krüger (56), Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, über „Dunkeldeutschland“, Journalisten und das Misstrauen der Bürger gegenüber den Medien, Medien-Manipulation und den Fehlern, die Journalisten verschweigen oder zugeben.Thomas Krüger (56) studierte Theologie in der DDR, war nach der Revolution Jugend-Senator in Berlin und ab 1994 einige Jahre Abgeordneter im Bundestag.
Gerade im Westen sagen viele: 25 Jahre Einheit müssten doch ausreichen, um die Diktatur aus den Köpfen zu vertreiben.
Thomas Krüger: Diktatur-Aufarbeitung dauert lange, das ist ein Generationen-Projekt. So etwas braucht seine Zeit. Nehmen Sie mal die Zeit des Nationalsozialismus. Sie dauerte 12 Jahre. Der zeitliche Abstand zur DDR ist heute 26 Jahre, also wären wir, was die NS-Aufarbeitung angeht, heute gerade mal im Jahr 1971 angelangt, also: vor der TV-Serie „Holocaust“, dem Gedenkstättenboom, dem kritischen Nachfragen einer neuen Generation. Die DDR dauerte 40 Jahre, also fast zwei Generationen. Warum sollte die „Aufarbeitung“ und Bewältigung schneller gehen als bei der des Nationalsozialismus?
Ist der Osten also wirklich noch Dunkeldeutschland?
Thomas Krüger: Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich sehe – wie der Bundespräsident – in ganz Deutschland und auch in Ostdeutschland eine engagierte und organisierte zivilgesellschaftliche Willkommenskultur, viele Ostdeutsche verurteilen die Fremdenfeindlichkeit und die Übergriffe aufs Schärfste. Aber gerade in den letzten Monaten, wo sich Menschen, die aus größter Not zu uns gekommen sind, gewalttätigen rechtsextremen Demonstranten aussetzen, gibt es eine Notwendigkeit, diese Schattenseiten klar und deutlich anzusprechen.
Haben Journalisten diese Schattenseiten nicht deutlich genug angesprochen. Kurzum: Haben die Medien, haben die Journalisten versagt?
Thomas Krüger: Nein, ich bin Anhänger der These, dass der Journalismus heute nicht schlechter, die Leser aber sehr viel kritischer sind. Als publizistisches Rückgrat der demokratischen Öffentlichkeit bleiben Journalisten unersetzlich und natürliche Verbündete der politischen Bildung. Beiden geht es darum, Sachverhalte zu erklären, Kontroversen aufzuzeigen und letztendlich das demokratische Bewusstsein und die aktive Mitarbeit zu stärken.
Offenbar haben auch Journalisten einiges falsch gemacht. Umfragen deuten an: Das Vertrauen ist bei vielen Bürgern erschüttert. Haben Journalisten vielleicht wie Oberlehrer aufs Volk hinabgeschaut – was die Bürger eben nicht mögen?
Thomas Krüger: Wenn Journalisten etwas falsch gemacht haben, dann höchstens zwei Dinge: Erstens, dass sie sich zu spät in die Debatten im Netz, in den sozialen Medien eingeschaltet haben. Hier haben viele Journalisten die Möglichkeiten unterschätzt, sich frühzeitig Gehör zu verschaffen. Und zweitens haben Sie ihr Licht unter den Scheffel gestellt. Guter Journalismus setzt sich schon durch, dachte man, dass dazu aber heute eine transparente Kommunikation gehört, haben viele noch nicht begriffen.
Journalisten wie der ehemalige FAZ-Redakteur Udo Ulfkotte schreiben: Medien manipulieren, lassen sich korrumpieren und von Amerika und der Nato einspannen. Stimmt unsere Politik-Berichterstattung nicht mehr?
Thomas Krüger: Natürlich kann man manches kritisieren. Wenn zum Beispiel der Eindruck entsteht, im politischen Berlin würde eine Art „Hofberichterstattung“ stattfindet, und zum Beispiel Pressekonferenzen nur dazu genutzt werden, um O-Töne einzuholen, statt Dinge kritisch zu hinterfragen – dann werden Journalisten ihrer Rolle als „vierte Gewalt“ nicht mehr gerecht. Aber es gibt sie ja noch, die investigativen und meinungsstarken Formate und Reporter und die genannten Vorwürfe von Herrn Ulfkotte sind doch sehr verschwörungstheoretisch. Da macht es auch keinen Unterschied, dass er mal für die FAZ geschrieben hat.
Wenn Redaktionen Fehler öffentlich zugeben, laufen sie Gefahr, dass andere wie beispielsweise der Ministerpräsident Seehofer sagen: Seht Ihr, jetzt geben sie schon selber zu, dass sie Fehler machen! Wäre es da nicht besser zu schweigen und die Fehler auszusitzen?
Thomas Krüger: Auf keinen Fall! Fehler müssen benannt und analysiert werden – auch öffentlich. Die Taktik, solche Dinge totzuschweigen, ist nicht mehr zeitgemäß und führt keinesfalls dazu, Vertrauen, das durch einen Fehler möglicherweise verloren gegangen ist, wieder zurückzugewinnen. Gerade in den lokalen und regionalen Tageszeitungen konnten wir aktuell feststellen, dass sich besonders die Lokalredaktionen herausgefordert sehen, sie aktiv auf ihre Leser zugehen – durch Bürgerdialog-Veranstaltungen und andere Events. Hinzu kommt eine neue Ombuds-Bewegung, die sich den Fragen und der Kritik der Leserschaft annimmt.
Teil 2 folgt.
Das komplette Interview, geführt von Paul-Josef Raue:
http://kress.de/news/detail/beitrag/134670-interview-mit-bpb-praesident-thomas-krueger-stimmt-unsere-politik-berichterstattung-nicht-mehr.html
Verstößt eine Redaktion, wenn sie die Sperrfrist nicht beachtet, gegen die „journalistische Sorgfalt“? Diesen Vorwurf erheben renommierte Wissenschaftler des „Forschungverbunds Berlin“ gegen die Berliner Zeitung und den Berliner Kurier und beschweren sich beim Presserat.
Worum geht’s? Am Montag, 24. August 2015, erzählten Wissenschaftler aus Berlin, woran Eisbär Knut gestorben sei; sie gaben vorab Informationen weiter unter der Bedingung, bis zur Pressekonferenz drei Tage später nichts zu veröffentlichen. Die beiden Berliner Zeitungen berichteten allerdings schon am Montag auf ihren Internet-Seiten und am Tag darauf in der Zeitung.
Die Wissenschaftler sehen darin einen Bruch „international gültiger Regeln in der Wissenschaftskommunikation“ und „publizistischer Grundregeln“. Die Zeitungsredakteure erhielten Hausverbot, durften an der Knut-Pressekonferenz nicht teilnehmen und bekommen ein halbes Jahr lang keine Informationen mehr. Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Wissenschaftler hier. Wissenschaftsorganisationen wie die Präsidenten der Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft protestierten bei Aufsichtsrat und Vorstand der „DuMont-Schauberg“-Mediengruppe:
Wir sind bestürzt über das Verhalten zweier Zeitungen aus der Mediengruppe M. DuMont Schauberg, die durch Alfred Neven DuMont zu großem Ansehen gelangt ist und sich für uns stets durch seriösen und qualitätsvollen Journalismus ausgezeichnet hat. Da zum Zeitpunkt des Embargobruchs das o.g. wissenschaftliche Manuskript noch nicht veröffentlicht war, bestand für unsere Wissenschaftler die akute Gefahr, dass das Manuskript von der Nature Publishing Group als bereits veröffentlicht zurückgewiesen wird. Die jahrelange Forschung unserer international renommierten Arbeitsgruppen wäre damit entwertet worden.
„Fehler machen wir alle mal, man kann sie aber korrigieren“, so bewerten die Forscher den kurzfristigen Bruch der Sperrfrist durch den Fernsehsender rbb und Focus Online, die ihre Berichte aus der Mediathek und Internet wieder löschten – Focus mit der redaktionellen Bemerkung:
Ein anderes Medium hat die Sperrfrist für die Berichterstattung gebrochen. FOCUS Online wird sich daran halten und veröffentlicht am 27. August zum offiziellen Ende des Embargos ausführliche Informationen zu Knuts Todesursache.
Der Begriff „Embargo“ für Sperrfrist, den die Wissenschaftler hier nutzen, ist in der Schweiz gebräuchlicher, in Deutschland weitgehend unbekannt.
Der Presserat sieht den Bruch der Sperrfrist offenbar als ethisch irrelevant an und strich die Richtlinie 2.5 im Jahr 2007; offenbar berufen sich die Wissenschaftler deshalb bei der Beschwerde auf die Sorgfalts-Pflicht – und da bin ich schon gespannt, wie der Presserat das löst, denn mit Sorgfalt hat der Bruch überhaupt nichts zu tun, die Fakten stimmten ja.
Sie alte Sperrfrist-Richtlinie des Presserats lautete:
Sperrfristen, bis zu deren Ablauf die Veröffentlichung bestimmter Nachrichten aufgeschoben werden soll, sind nur dann vertretbar, wenn sie einer sachgemäßen und sorgfältigen Berichterstattung dienen. Sie unterliegen grundsätzlich der freien Vereinbarung zwischen Informanten und Medien. Sperrfristen sind nur dann einzuhalten, wenn es dafür einen sachlich gerechtfertigten Grund gibt, wie zum Beispiel beim Text einer noch nicht gehaltenen Rede, beim vorzeitig ausgegebenen Geschäftsbericht einer Firma oder bei Informationen über ein noch nicht eingetretenes Ereignis (Versammlungen, Beschlüsse, Ehrungen u.a.). Werbezwecke sind kein sachlicher Grund für Sperrfristen.
Es ist eine Frage des Vertrauens. So schreibt die Leibniz-Gemeinschaft auch, sie sende vorab Studien an Journalisten, „damit diese sich in der Planung ihrer Berichterstattung darauf einstellen und Artikel recherchieren und vorbereiten können“. Sperrfrist gilt also als ein Service – auf Vertrauen.
Und wie reagieren die Redaktionen? Ein „DuMont“-Sprecher schiebt – laut Bülent Ürük im Kress Report – die Schuld auf die Lokalredaktion, die mit gängigen Regeln nicht vertraut sei, und die Wissenschaftler selber, weil die nicht nur Wissenschafts-Redakteure eingeladen habe. Im Hausverbot sieht der Unternehmenssprecher einen Angriff auf die Grundsätze der Pressefreiheit.
Brigitte Fehrle, Chefredakteurin der Berliner Zeitung, verwies laut Kress Report auf den harten Wettbewerb im Berliner Zeitungsmarkt.
Wie gehen andere Länder mit der Sperrfrist um? Während sich englische und amerikanische Zeitungen etwa über die Autorisierung von Interviews in Deutschland wundern, achten sie strikt auf die Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Sperrfristen. Der spektakulärste Fall einer Sanktion ereignete sich am Ende des Zweiten Weltkriegs und zerstörte eine US-Reporter-Karriere:
Edward Kennedy, der Leiter des Pariser AP-Büros, berichtete am 7. Mai 1945 von der Kapitulation Deutschlands, so dass die New York Times titeln konnte: „The war in Europa is endet!“ Allerdings hatte Präsident Truman eine Sperrfrist verhängt – offenbar mit Rücksicht auf Stalin, der die Kapitulation in Berlin als seine Leistung herausstellen wollte. Zudem hatte General Dwight D. Eisenhower auf die dienende Rolle der Journalisten verwiesen: Ihr seid „auxiliary staff officers“!, also Hilfsarbeiter, um den Krieg zu gewinnen durch „objektive“ Berichterstattung. Die Amerikaner haben immer schon gerne die Journalisten in ihre Interessen eingebettet.
Die AP feuerte Edward Kennedy, der den Rest seines Reporter-Lebens verbittert in einer Lokalzeitung zubringen musste – nicht ohne 1948 dem Atlantic Magazin zu sagen: „Ich würde es wieder tun.“
Erst 2012 entschuldigte sich der AP-Präsident Tom Curley in einem Vorwort zu den Memoiren Ed Kennedys, die seine Tochter Julia nach seinem Tod herausgegeben hatte: „Ed Kennedy’s War: V-E Day, Censorship, and the Associated Press“.
„Es war ein schrecklicher Tag für die AP“, sagte Curley in einem Interview, „wir haben es in der schlechtest möglichen Weise gemacht. Kennedy hat alles richtig gemacht: Er war wirklich ein Held.“
Die Beziehung zwischen Sportjournalisten und Trainern schwankt zwischen Extremen: Entweder Umarmung und Bussi-Journalismus oder Abneigung und Niederschreiben. Das professionelle Maß fehlt oft, also Distanz und klarer Blick.
Als BVB-Trainer Jürgen Klopp im April 2013 eine Pressekonferenz gab, stellte ein Reporter vom WDR eine Frage, die er abschloss:
Ich wäre dankbar, wenn Sie auf Floskeln verzichten würde wie „Die Jungens sind Profis genug“.
Jürgen Klopp bläst die Backen auf und kann sich auf seine Antwort konzentrieren, während die Frage in Italienische übersetzt wird:
Zunächst einmal möchte ich mich bedanken. Ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Aber direkte Forderungen zu stellen, was ich zu sagen habe: Hut ab! Welches Ressort? Was machen Sie? Tierfilme? Oh, Sport. Okay, alles klar.“
Klopp steht auf und geht.
Besser kann man das Verhältnis von Sportjournalisten und Trainern nicht klar machen:
1. Trainer will Nähe, etwa: Wir müssen schon einmal ein Bier zusammen getrunken haben, bevor Sie mich fragen dürfen.
2. Er will keine Fragen, die er nicht mag. Und was er mag, bestimmt er. Eine kritische Frage lässt er nur mit der Bemerkung zu: „Eine gute Frage…“
3. Er will, dass der Journalist in seiner Community aufgenommen ist und die Regeln kennt. Nur so bekommt er auch Informationen, auch exklusive.
Ein Leser-Kommentar zeigt, wie es in dieser abgeschlossenen Welt zugeht:
Schön Jürgen! Endlich mal einer, der mit dem jungen Schnösel Klartext spricht.
Bussi – und Schluss.
Korrespondent in Berlin, im Herzen der Macht – das muss ein toller Job sein! All die schönen Reisen: nach Washington, New York und Madrid, nach Peking und – naja in letzter Zeit weniger – nach Moskau.
Dies sind schon reizvolle Städte mit den schönsten Museen der Welt, mit großartigen Theatern und Sehenswürdigkeiten, die man einmal im Leben gesehen haben soll. Aber der Korrespondent sieht sie nicht, er latscht immer nur hinterher – hinter der Merkel oder dem Gabriel, dem Steinmeier oder der von der Leyen.
„Nachlatscher“ nannte Kurt Kister den reisenden Korrespondenten. Kister war mal Leiter des Berliner Büros der Süddeutschen Zeitung, also ein berufsmäßiger Nachlatscher. Heute ist er Chefredakteur und latscht nicht mehr hinterher.
Im Februar 2002 hat Kurt Kister das Wort erfunden, als er mit Kanzler Gerhard Schröder zu der mexikanischen Stadt mit dem unaussprechlichen Namen fuhr: Teotihuacán. Und er schrieb, nicht ohne Selbstironie: „Im Bus saßen typische Kanzler-Nachlatscher: Beamte, Abgeordnete, Reporter.“
Nico Fried, Kisters Nachfolger in Berlin, schreibt eine der schönsten Politik-Kolumnen der Republik: „Spreebogen“, und erinnerte sich gerade erst im Spreebogen an seinen Chef und seine Wortschöpfung. „Nachsprecher“ könnte man ihn nennen, aber das wäre unfair, denn er hat ein schönes Wort wiedererfunden, das Journalisten wohl lieber beerdigten.
Als die Chefredakteure aus Thüringen vor einigen Jahren zwischen Weihnachten und Neujahr mit der Ministerpräsidentin nach Jerusalem flogen, latschten sie auch stets hinterher – und stundenlang saßen sie nach. Denn immer wenn es spannend wird, müssen die Nachlatscher draußen bleiben und warten.
Ministerpräsidentin Lieberknecht hatte eine ganz wichtige Audienz bekommen, irgendein Stellvertreter des Stellvertreters des Außenministers. Als sie endlich herauskam und – wie es so schön heißt – mit ihrem Regierungssprecher Zimmermann vor die Presse trat, fiel ihr eigentlich nur ein: Der Stellvertreter des Stellvertreters hatte sich über einen Kommentar in der Thüringer Allgemeine vom Tage geärgert.
Da hatte sich das Nachlatschen schon gelohnt.
Nico Fried erwähnt in seiner Kolumne noch einen zweiten wichtigen Begriff aus dem Wörterbuch des Nachlatschers: Der „Badge“ – ist ein Plastik-Schild als Folge der notwendigen Akkreditierung, das ein Korrespondent unbedingt tragen muss, denn ohne ist er verloren und darf weder nachlatschen noch nachsitzen.
Mittlerweile müssen sich Journalisten auch in Kriegen akkreditieren. Da reicht einfach die große Schrift „Press“ auf der Kleidung, um Bomber-Piloten und Scharfschützen daran zu erinnern, nicht auf Journalisten zu schießen. Das gelingt leider nicht immer, aber dann entschuldigen sich Regierungssprecher gerne: Die Schrift war nicht gut lesbar, und es war – ein Kollateralschaden. Oder noch einfacher: es waren die anderen, die Bösen, das passt immer.
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Thüringer Allgemeine, erweiterte Fassung des „Friedhof der Wörter“, 15. September 2014
Offenbar sind Bilder, starr und bewegt, Grafiken und Illustrationen im Netz noch wichtiger als in der gedruckten Zeitung: Wer Informationen anbietet, hat wenig Chancen, gelesen zu werden, wenn er nicht ein Bild dazu stellt. Da es zu aktuellen Nachrichten oft noch keine Bilder gibt, überlegt die dpa, den Online-Redaktionen Symbol-Bilder und Illustrationen anzubieten – also das Blaulicht auf dem Polizeiwagen-Dach, im Winter auch mit Schnee-Haube, oder die Waage zu einem Gerichtsbericht. Fünf Foto-Kategorien entstehen: Das aktuelle Bild, das Symbol-Bild, die Illustration, das Archiv-Bild und das geplante Bild.
Zudem war auf der dpa-Ost-Kundenkonferenz in Berlin zu erfahren, dass die Agentur „Video-Schnippsel“ plant, also kurze Nachrichtenfilme, die zur schnellen Information auf dem Smartphone taugen. Das werde kein Fernsehen sein, sagte Roland Freund aus der dpa-Chefredaktion, sondern ein Format, das genau aufs Handy zugeschnitten ist, ein Anreger eben.
Unter den Schnipseln wird auch nur selten eine Politiker Pressekonferenz zu finden sein. Solche Filme haben nur geringe Klick-Quoten. Was dagegen auf dem Smartphone läuft: Blaulicht, Tiere und Promis – eben ein Hauch von Boulevard, seriös präsentiert.
Kennen Sie die Luchs-Wochen? Modeschöpfer und Kosmetik-Vertreter mögen sie.
Sind Sie „loscht in Fäschen“? Mitten im Winter strömten schöne Männer und noch schönere Frauen ins eisige Berlin, um das Iwent zu erleben.
Es gibt immer noch Werbetexter, die in englische Wörter fliehen, um modern zu wirken. Die Luchs-Wochen präsentieren keine Modeschauen für Pelzmäntel, sondern sollen den Blick der Männer auf schöne Frauen lenken:
„Die Looks Wochen“ sind eine Mischmasch-Wendung aus dem englischen „look“ (für den Blick) und zwei deutschen Allerweltswörtern. Eine Drogerie-Kette wirbt so für Schönheits-Creme und Haarfärbemittel, die „Mixing Colors“ heißen, also Mischfarben. Doch deutsch informiert die Verpackung, wenn frau wissen will: Dunkelbraun oder schwarz, schoko oder blond. Das Risiko, englisch in die Irre zu färben, geht kein Hersteller ein, auch nicht in den Looks-Wochen.
Wer versteht „Lost in fashion“ (sprich: Loscht in Fäschen)? Der Werbespruch prangt an einem Buswarte-Häuschen nahe dem Erfurter Flughafen, spielt auf die Modemesse in Berlin ebenso an wie auf den Bill Muray-Film „Lost in translation“ – und bedeutet so viel wie „Verloren oder versunken in Mode“. Ob man nur Anglistik-Studentinnen ins Einkaufszentrum locken will?
Wer Texter engagiert, die modern und englisch werben, der bestraft sich selbst: Die meisten Kunden verstehen es nicht oder verstehen es falsch – und bleiben zu Haus. Aber kann man deutsch für die Schönheit werben? Ja, man kann:
Glühend an der Purpurwange
Sanft berührt vom Lockenhaar,
Von der Lippe, süß und bange…
Fand die trunkne Seele sie.
Was für ein Event (sprich: Iwent)! So schließt Hölderlin, ganz deutsch, vor zweihundert Jahren seine Hymne an die Schönheit.
Wir wischen uns die Augen und denken: Das kann doch nur Satire sein – Heute-Show, Scheibenwischer oder Neues aus der Anstalt. Die Anstalt ist ein diesmal Gericht, und die Satire läuft so:
An einem Frühlingsmorgen in München treffen sich ein Richter und eine Aufsichtsperson, gespielt vom Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, zur Ziehung der Lottozahlen, Pardon: zur Ziehung der Pressekarten für den Neonazi-Prozess.
Eine Direktübertragung der Ziehung fand nicht statt, so dass die Frage bleibt: Sind alle Kugeln auch in die Trommel gefallen? Das ist keine abwegige Frage: Vor wenigen Wochen blieben zwei Lotto-Kugeln stecken, trotz notarieller Aufsicht. Die falschen Zahlen wurden verkündet. Ein Gewinner mit sechs Richtigen ging leer aus, weil nochmals gelost werden musste. Zum Trost kam der Gewinner groß in die Bildzeitung.
Wie beim Lotto fand auch im Münchner Gericht die Verkündigung vor laufenden Kameras statt. Man nennt so etwas ein Medien-Ereignis, wohl gemerkt: Nicht der Prozess-Auftakt, sondern die Presse-Lotterie.
So etwas kann die beste Satire nicht leisten. Das unwürdige Schauspiel fand wirklich statt – im Münchner Oberlandesgericht. Aus Ärger über ein Urteil des Verfassungsgerichts verschob das Gericht den Prozess und verordnete eine Lotterie. Dabei wäre das Verfassungsgericht schon zufrieden gewesen, hätte man drei Stühle für türkische Journalisten in den Saal 101 gestellt.
Große Medien mit internationaler Bedeutung wie die FAZ oder die „Welt“ sind durchgefallen, politisch unauffällige wie „Brigitte“ oder „Radio Lotte“ aus Weimar sind dabei. Das Gericht in München hat eine der großen Prinzipien unseres Rechtsstaats lächerlich gemacht: Die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren. So viel Häme hat unsere Demokratie nicht verdient.
Leitartikel der Thüringer Allgemeine für den 30. April 2013 (unredigiert)