Die Eisbar-Knut-Affäre: Müssen Journalisten eine Sperrfrist befolgen?

Geschrieben am 7. September 2015 von Paul-Josef Raue.

Verstößt eine Redaktion, wenn sie die Sperrfrist nicht beachtet, gegen die „journalistische Sorgfalt“? Diesen Vorwurf erheben renommierte Wissenschaftler des „Forschungverbunds Berlin“ gegen die Berliner Zeitung und den Berliner Kurier und beschweren sich beim Presserat.

Worum geht’s? Am Montag, 24. August 2015, erzählten Wissenschaftler aus Berlin, woran Eisbär Knut gestorben sei; sie gaben vorab Informationen weiter unter der Bedingung, bis zur Pressekonferenz drei Tage später nichts zu veröffentlichen. Die beiden Berliner Zeitungen berichteten allerdings schon am Montag auf ihren Internet-Seiten und am Tag darauf in der Zeitung.

Die Wissenschaftler sehen darin einen Bruch „international gültiger Regeln in der Wissenschaftskommunikation“ und „publizistischer Grundregeln“. Die Zeitungsredakteure erhielten Hausverbot, durften an der Knut-Pressekonferenz nicht teilnehmen und bekommen ein halbes Jahr lang keine Informationen mehr. Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Wissenschaftler hier. Wissenschaftsorganisationen wie die Präsidenten der Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft protestierten bei Aufsichtsrat und Vorstand der „DuMont-Schauberg“-Mediengruppe:

Wir sind bestürzt über das Verhalten zweier Zeitungen aus der Mediengruppe M. DuMont Schauberg, die durch Alfred Neven DuMont zu großem Ansehen gelangt ist und sich für uns stets durch seriösen und qualitätsvollen Journalismus ausgezeichnet hat.  Da zum Zeitpunkt des Embargobruchs das o.g. wissenschaftliche Manuskript noch nicht veröffentlicht war, bestand für unsere Wissenschaftler die akute Gefahr, dass das Manuskript von der Nature Publishing Group als bereits veröffentlicht zurückgewiesen wird. Die jahrelange Forschung unserer international renommierten Arbeitsgruppen wäre damit entwertet worden.

„Fehler machen wir alle mal, man kann sie aber korrigieren“, so bewerten die Forscher den kurzfristigen Bruch der Sperrfrist durch den Fernsehsender rbb und Focus Online, die ihre Berichte aus der Mediathek und Internet wieder löschten – Focus mit der redaktionellen Bemerkung:

Ein anderes Medium hat die Sperrfrist für die Berichterstattung gebrochen. FOCUS Online wird sich daran halten und veröffentlicht am 27. August zum offiziellen Ende des Embargos ausführliche Informationen zu Knuts Todesursache.

Der Begriff „Embargo“ für Sperrfrist, den die Wissenschaftler hier nutzen, ist in der Schweiz gebräuchlicher, in Deutschland weitgehend unbekannt.

Der Presserat sieht den Bruch der Sperrfrist offenbar als ethisch irrelevant an und strich die Richtlinie 2.5 im Jahr 2007; offenbar berufen sich die Wissenschaftler deshalb bei der Beschwerde auf die Sorgfalts-Pflicht – und da bin ich schon gespannt, wie der Presserat das löst, denn mit Sorgfalt hat der Bruch überhaupt nichts zu tun, die Fakten stimmten ja.

Sie alte Sperrfrist-Richtlinie des Presserats lautete:

Sperrfristen, bis zu deren Ablauf die Veröffentlichung bestimmter Nachrichten aufgeschoben werden soll, sind nur dann vertretbar, wenn sie einer sachgemäßen und sorgfältigen Berichterstattung dienen. Sie unterliegen grundsätzlich der freien Vereinbarung zwischen Informanten und Medien. Sperrfristen sind nur dann einzuhalten, wenn es dafür einen sachlich gerechtfertigten Grund gibt, wie zum Beispiel beim Text einer noch nicht gehaltenen Rede, beim vorzeitig ausgegebenen Geschäftsbericht einer Firma oder bei Informationen über ein noch nicht eingetretenes Ereignis (Versammlungen, Beschlüsse, Ehrungen u.a.). Werbezwecke sind kein sachlicher Grund für Sperrfristen.

Es ist  eine Frage des Vertrauens. So schreibt die Leibniz-Gemeinschaft auch, sie sende vorab Studien an Journalisten, „damit diese sich in der Planung ihrer Berichterstattung darauf einstellen und Artikel recherchieren und vorbereiten können“. Sperrfrist gilt also als ein Service – auf Vertrauen.

Und wie reagieren die Redaktionen? Ein „DuMont“-Sprecher schiebt – laut Bülent Ürük im Kress Report – die Schuld auf die Lokalredaktion, die mit gängigen Regeln nicht vertraut sei, und die Wissenschaftler selber, weil die nicht nur Wissenschafts-Redakteure eingeladen habe. Im Hausverbot sieht der Unternehmenssprecher einen Angriff auf die Grundsätze der Pressefreiheit.

Brigitte Fehrle, Chefredakteurin der Berliner Zeitung, verwies laut Kress Report auf den harten Wettbewerb im Berliner Zeitungsmarkt.

Wie gehen andere Länder mit der Sperrfrist um? Während sich englische und amerikanische Zeitungen etwa über die Autorisierung von Interviews in Deutschland wundern, achten sie strikt auf die Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Sperrfristen. Der spektakulärste Fall einer Sanktion ereignete sich am Ende des Zweiten Weltkriegs und zerstörte eine US-Reporter-Karriere:

Edward Kennedy, der Leiter des Pariser AP-Büros, berichtete am 7. Mai 1945 von der Kapitulation Deutschlands, so dass die New York Times titeln konnte: „The war in Europa is endet!“ Allerdings hatte Präsident Truman eine Sperrfrist verhängt – offenbar mit Rücksicht auf Stalin, der die Kapitulation in Berlin als seine Leistung herausstellen wollte. Zudem hatte General Dwight D. Eisenhower auf die dienende Rolle der Journalisten verwiesen: Ihr seid „auxiliary staff officers“!, also Hilfsarbeiter, um den Krieg zu gewinnen durch „objektive“ Berichterstattung. Die Amerikaner haben immer schon gerne die Journalisten in ihre Interessen eingebettet.

Die AP feuerte Edward Kennedy, der den Rest seines Reporter-Lebens verbittert in einer Lokalzeitung zubringen musste – nicht ohne 1948 dem Atlantic Magazin zu sagen: „Ich würde es wieder tun.“

Erst 2012 entschuldigte sich der AP-Präsident Tom Curley in einem Vorwort zu den Memoiren Ed Kennedys, die seine Tochter Julia nach seinem Tod herausgegeben hatte: „Ed Kennedy’s War: V-E Day, Censorship, and the Associated Press“.

„Es war ein schrecklicher Tag für die AP“, sagte Curley in einem Interview, „wir haben es in der schlechtest möglichen Weise gemacht. Kennedy hat alles richtig gemacht: Er war wirklich ein Held.“

 

 

 

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