Zum 70-Jahr-Jubiläum: Die Saturiertheit der Spiegel-Redakteure
Volker Lilienthal ist Professor für „Praxis des Qualitätsjournalismus“ in Hamburg. In der Süddeutschen Zeitung gratuliert er dem Spiegel, dem ersten Magazin Deutschlands, zum Siebzigjährigen; er habe beigetragen „zur Modernisierung der Bundesrepublik, zur Rationalisierung ihrer Institutionen und zur Liberalisierung der Lebensverhältnisse“. Im letzten Absatz geht er auf das mangelnde Engagement der Redakteure ein, denen der Spiegel-Verlag mehrheitlich gehört:
Was es fürs achte Jahrzehnt ganz bestimmt braucht, ist neues Engagement in einer Redaktion, die in ihrem institutionellen und persönlichen Wohlstand auch die Schattenseiten des Saturierten kennengelernt hat: deren Elitenorientierung vor allem, bis man kaum noch etwas weiß vom Leben einfacher Menschen. Diese Entfremdung wird von manchem Populisten beklagt, und teils zu Recht.
Habermas beklagt: Journalisten passen sich zu sehr der Politik an
„Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“, sagte vor fünfzig Jahren Paul Sethe, der als Herausgeber die FAZ gründete. Wer Verleger sein wollte und die Massen mit seinen Zeitungen erreichen, brauchte teure Druckmaschinen. Das änderte sich mit dem Internet. Endlich wird der Traum der Achtundsechziger wahr: Jeder kann von vielen gelesen werden. Die Demokratie ist bei sich angekommen, Öffentlichkeit endlich verwirklicht.
Und nun? Jürgen Habermas, Philosoph der Achtundsechziger, beklagt in einem Interview, die Bürger bedienten sich der neuen Freiheit nicht im Sinne der Aufklärung, sondern kehrten sie gegen die Freiheit und würden zum „Saatboden für einen neuen Faschismus“.
Im Jubiläums-Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik, vor sechzig Jahren gegründet, verdächtigt er etablierte Politiker wie Journalisten, „von Anfang an die falsche Richtung eingeschlagen“ zu haben:
Der Fehler besteht darin, die Front anzuerkennen, die der Rechtspopulismus definiert: „Wir“ gegen das System.
Wer mit Rechtspopulisten öffentlich debattiere, nehme sie ernst, verschaffe ihnen Aufmerksamkeit und mache den Gegner stärker – wie Justizminister Heiko Maas, der sich im Oktober mit Alexander Gauland von der AfD in einer ZDF-Talkshow duellierte.
Es sei Schuld der Medien, dass „nach einem Jahr nun jeder das gewollt ironische Grinsen von Frauke Petry kennt und das Gebaren des übrigen Führungspersonals dieser unsägliche Truppe“. Rechtspopulismus verdiene Verachtung statt Aufmerksamkeit. Im Juli hatte Habermas schon in einem Interview mit der Zeit aus der „Perspektive eines teilnehmenden Zeitungslesers“ die Anpassungsbereitschaft der Journalisten gegenüber Merkel und der Politik beklagt: „Der gedankliche Horizont schrumpft, wenn nicht mehr in Alternativen gedacht wird.“
Medien wie Parteien informierten die Bürger nicht mehr „über relevante Fragen und elementare Tatsachen, also über die Grundlagen einer vernünftigen Urteilsbildung“. Das Argument ist nicht weit entfernt von der Kritik bei den Pegida-Spaziergängen in Dresden.
Habermas bringt als weiteres Indiz für den Zerfall der Öffentlichkeit die Wahlmüdigkeit der jungen Leute. „Das klingt so, als sei wieder die Presse schuld“, wirft der „Zeit“-Redakteur Thomas Assheuer ein. „Nein“, zieht sich Habermas zurück, „aber das Verhalten dieser Altersgruppe wirft ein Schlaglicht auf die Mediennutzung jüngerer Leute im digitalen Zeitalter und auf den Wandel der Einstellung zu Politik überhaupt. Nach der Ideologie des Silicon Valley werden ja Markt und Technologie die Gesellschaft retten und so etwas Altmodisches wie Demokratie überflüssig machen.“
Die Forderung nach „Dethematisierung“ verbindet Habermas mit der Forderung an Journalisten und Politiker:
Die Bürger müssen erkennen können, dass jene sozialen und wirtschaftlichen Probleme angepackt werden, die die Verunsicherung, die Angst vor sozialem Abstieg und das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, verursachen.
** Mehr in meiner JOURNALISMUS!-Kolumne auf kress.de: Gebt Rechtspopulisten keine Bühne
10 Regeln für ein gutes Interview: „Ich stelle hier die Fragen!“
Im Interview des Magazins Cicero mit Bodo Ramelow von der „Linken“ ist Cicero-Redakteur Christoph Seils dem Gast nicht gewachsen, der die Regie übernimmt – und die Medien kritisiert, weil sie Politiker kontrollieren:
Solange wir das nicht machen (= über Werte sprechen), halten uns Journalisten weiterhin Stöckchen hin, über die wir dann springen. Und hinterher lesen wir in der Zeitung, wie doof wir sind.
Ein Kinderspiel: Über Stöckchen springen? Die Stöckchen – das sind unbequeme Fragen von Journalisten, das ist die Kontrolle der Mächtigen im Auftrag der Bürger. Soll ein Journalist solch eine Schelte, von Ramelow harmloser formuliert als Pegidas „Lügenpresse“, unwiderfragt in einem Interview stehenlassen?
Das sind zehn Regeln für ein gelungenes Interview:
- Was die Überschrift verspricht, muss der Text halten
- Der Redakteur muss nachhaken
- Auf eine geschlossene Ja-Nein-Frage verlangt der Leser eine eindeutige Antwort
- Ein Interview braucht einen roten Faden, eine Ordnung
- Der Leser liest zuerst nur die Fragen: Die müssen genau sein, verständlich und attraktiv
- Der Journalist darf provozieren, darf des Teufels Advokat sein, aber er sollte seine Meinung hinterm Berg halten
- Ein Schachtelsatz wirft Leser aus dem Text raus – und verleitet den Gast zum Schwadronieren
- Ross und Reiter nennen – darauf muss ein Journalist bestehen
- Der Redakteur führt das Gespräch und lässt nicht zu, dass sich der Gast davon redet
- „Ich stelle hier die Fragen!“, unterbricht der Kommissar das Verhör. Das gilt auch im Interview
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Mehr in der JOURNALISMUS!-Kolumne auf kress.de:
Ombudsfrau und –mann als Antwort auf den Lügenpresse-Vorwurf
Nur gerade mal ein Dutzend deutscher Zeitungen hat Ombudsleute etabliert und sind dem Vorbild der Ombuds-Pioniere von Volksstimme in Magdeburg und Berliner Zeitung gefolgt; noch weniger folgen dem US-Vorbild des Leser-Ombudsmanns, der konsequent und unabhängig auf die direkte Kritik der Leser an der Redaktion reagiert.
„Wir haben doch den Presserat!“, argumentieren die meisten Chefredakteure, selbst die, die im Presserat nur Schatten sehen und nicht das Licht der Vernunft. Aber für meisten Leser ist der Presserat eine anonyme Stelle, einer Behörde gleich, die kein Gesicht hat. So wiederholt sich eine Diskussion, die vor Jahrzehnten schon einmal geführt worden ist – als es um den Bürgerbeauftragten in Rheinland-Pfalz ging, der den Bürger in Schutz nehmen soll gegen die immens wachsende Macht von Verwaltungen. „Menschliche Schicksale gerinnen zu einer Akte“, kritisierte Bundeskanzler Helmut Kohl und plädierte für den Ombudsmann, den der Staat selbst schickt, um seine Bürokraten zu zügeln.
Kohls Plädoyer liest sich wie ein Plädoyer für den Ombudsmann, der Redaktionen zügeln soll:
Wenn der Anonymität des Verwaltungsapparats entgegengewirkt werden soll, so ist hierfür am besten eine Persönlichkeit geeignet, die das Vertrauen der Bürger besitzt, an die sich der Bürger persönlich wenden kann und die im unmittelbaren Kontakt mit den zuständigen Verwaltungsstellen dem Bürger zu helfen vermag.
Dem Beispiel von Rheinland-Pfalz sind nur wenige Länder gefolgt, Schleswig-Holstein, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und seit einigen Monaten auch Baden-Württemberg, auch Kreise und Städte wie Kiel, Lübeck und Mannheim; für spezielle Fälle wird im Bund der Wehrbeauftragte gewählt oder in Hessen ein Ombudsmann für die Polizei. Gerade wenn Institutionen unter Druck geraten und das Vertrauen verlieren, berufen sie einen neutralen Ombudsmann: Versicherungen, Banken oder die Bahn.
Journalisten verlieren das Vertrauen wie die meisten großen Institutionen, dennoch tun sich Redaktionen schwer: Gerade mal ein Dutzend Zeitungen gehört zur Vereinigung der Medien-Ombudsleute (VDMO), von Anton Sahlender gegründet und zusammengehalten, dem Ombudsmann der Main-Post. Und nur eine Handvoll der Ombudsleute widmet sich der eigentlichen Aufgabe, Kritik an der Redaktion aufzunehmen; die anderen kümmern sich um die Sorgen der Leser mit Behörden und Institutionen und sind dem Bürgerbeauftragten vergleichbar.
Fünf unterschiedliche Formate von Ombudsfrau und Ombudsmann finden wir in Deutschland:
- Der Ombudsrat (Ein Redakteur und ein Neutraler von außen)
- Der klassische Zeitungs-Ombudsmann (der sich auf die Leser-Kritik an der Zeitung konzentriert – wie Anton Sahlender von der Main-Post)
- Ein Jurist als neutraler Ombudsmann
- Die Ratgeber-Ombudsfrau
- Das Leser-Sorgentelefon
Mehr in der Kress-Kolumne „Journalismus!“: http://kress.de/news/detail/beitrag/135695-ombudsleute-bei-deutschen-zeitungen-sagen-sie-es-uns-ins-gesicht.html
Selbstkritik nach dem Amok-Abend: Ich weiß nicht mehr, warum ich Falschmeldungen abgesetzt habe
„Lediglich BBC World und CNN berichteten, dass jemand vor den Schüssen im Olympia-Einkaufszentrum laut rief ,Allah ist groß‘, und zwar auf Arabisch“, mailt mir ein guter Freund, schickt ein Screenshot von CNN, vermutet bewusste Nachrichten-Unterdrückung bei deutschen Medien und argwöhnt: „Es bleibt eine merkwürdige Differenz zwischen nationalen und internationalen Medien in der Berichterstattung. Oder sehe ich da Spuren, die keine sind?“
Ja, sieht er. Christian Jakubetz beschreibt auf Twitter, auch mit bemerkenswerter Selbstkritik, wie Berichterstattung der ausländischen Medien funktioniert. Er habe so viel wie noch nie über Journalismus gelernt, schreibt er:
Ich war gestern Abend und heute Nacht für Stunden bei BBC World und Deutsche Welle TV on air. Jeden zweiten Satz musste ich mit „not confirmed“ beenden. Und obwohl ich mich natürlich bemüht habe, ausschließlich (vermeintliche) Fakten zu schildern, habe ich Falschmeldungen in die Welt gepustet: nämlich die, dass es auch am Stachus zu einer Schießerei gekommen ist und dass drei Männer am OEZ geschossen haben… Jetzt, mit dem Abstand von einer paar Stunden, weiß ich nicht mehr, warum ich diese Meldungen abgesetzt habe, ohne sie gegenzuchecken. Allerdings, ohne dass das eine Ausrede sein soll: Man steht da plötzlich mehr oder weniger unvorbereitet und Radio- und TV-Stationen aus der ganzen Welt wollen von dir im Minutentakt etwas Neues haben.
Jabubetz Erkenntnisse über die Sozialen Medien sind zwiespältig nach dem Münchner Amok-Abend:
Großartig! Der Hashtag #offeneTür, die unaufgeregten Informationen der Polizei und die Facebook-Funktion, mit der man markieren konnte: Ich bin in Sicherheit.
Hassenswert: All der Dreck, der ausgekotzt wird; Gerüchte (Bombenanschlag mit 250 Toten); die üblichen Hetzer; Journalisten wie vom Münchner Merkur, die kommentierten, wie perfide es sei, ausgerechnet München zum Ziel des bestialischen islamischen Terrorismus zu machen.
Ist das nicht ein Plädoyer für einen Journalismus, der recherchiert, einordnet und zum Auge des Orkans wird, zum Ruhepunkt?
Joachim Gauck: Ein Journalist darf nicht zum Politiker werden
Bundespräsident Joachim Gauck ist stolz auf die Medien in Deutschland, er spricht von einer „Presselandschaft, die ihresgleichen sucht“, von einer „vorbildlichen Medienwelt“. Aber:
Es beunruhigt mich, wenn ich in diesen Tagen den Vorwurf höre, die Medien berichteten bisweilen einseitig und unvollständig besonders über die Probleme, die mit Flucht und Einwanderung einhergehen. Da ist von Widersprüchen zwischen beobachtbarer und berichteter Welt die Rede, von einer Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus, von Medienverdrossenheit, ja sogar von „Lügenpresse“.
Bei der Verleihung des „Europäischen CIVIS Medienpreises“ erinnert er an seine DDR-Geschichte:
Ich weiß, was Lügenpresse ist. Ich habe sie erlebt – jahrzehntelang, in der DDR. Eine zentrale Stelle bestimmte, welche Informationen und welche Meinungen verpflichtend waren. Zensur und Desinformation bestimmten den Medienalltag. Und heute? Es ist so völlig anders – und trotzdem: Verschwörungstheoretiker behaupten im Netz und auf der Straße, dass unsere Presse gelenkt sei – so entstünden „Systemmedien“.
In seiner Antwort auf die Frage, warum „die Diffamierung als Lügenpresse bei einem Teil der Öffentlichkeit verfangen hat“, lobt er die Debatte über die Wahrhaftigkeit der Berichterstattung, das Nachdenken über die Regeln des Journalismus und die journalistische Selbstkritik.
Gauck nennt die Grundsätze, die „so einfach wie ehern sind“:
- Sagen, was ist.
- Informieren sauber trennen vom Kommentieren.
- Distanz halten.
- Sich nicht dazu hinreißen lassen, wegen einer guten Sache Fakten selektiv zu benennen.
Da hat der Bundespräsident den schönen Satz von Hajo Friedrichs korrekt, aber sprachlich weniger schön wiedergegeben: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken.“ Dürfen die Redenschreiber des Präsidenten andere nicht zitieren?
Joachim Gauck trennt den Journalisten vom Politiker und fordert die Trennung. Wer die journalistischen Regeln nicht befolgt, werde schnell zum politischen Akteur:
Und dann ist es nicht mehr weit, bis der Fluch der edlen Absicht dazu verführt, etwas zu verschweigen, um nicht den Falschen Argumente zu liefern. Die Lebenserfahrung zeigt aber: Nicht wer ein Problem benennt, vergrößert es, sondern wer es verschweigt.
„Hintergründe aufdecken gegen Gerüchte und gefühlte Wahrheiten“ (Krüger-Interview 2)
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, spricht im zweiten Teil des Kress-Interviews über Strategien, wie Journalisten mit Politik-Verdrossenheit oder Verschwörungstheorien umgehen sollen.
Wie gewinnen Journalisten das Vertrauen zurück? Müssen sie mehr erklären, wie sie arbeiten?
Thomas Krüger: Dies ist ja bereits in vollem Gange. Redaktionen bekommen über die Sozialen Medien unmittelbare Rückmeldungen zu ihrer Berichterstattung. Journalisten die diesen Kommunikationsweg nicht als „Meckerecke“ abtun, sondern reagieren und sich auf die Diskussion einlassen. Der Dialog ist das A und O, um herauszufinden, was die Nutzerinnen und Nutzer eigentlich möchten. Für die wiederum ist es wichtig, dass sie ernst genommen werden und in den Journalisten seriöse Partner wissen.
Ist die Medienverdrossenheit ein Spiegel der Politikverdrossenheit?
Thomas Krüger: Für bestimmte Personenkreise ist das sicherlich der Fall. Es ist ja kein Zufall, dass der Schlachtruf „Lügenpresse“ genau dort salonfähig ist, wo es Leute gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – meinen, keine politische Stimme mehr zu haben und sich leider im demokratischen Parteienspektrum nicht mehr angemessen vertreten fühlen.
Redaktionen werden von ihren Lesern mit Verschwörungs-Theorien konfrontiert. Sollen sie darauf eingehen, wenn sie geballt in Briefen, Anrufen oder auf Facebook eintreffen?
Thomas Krüger: Auch bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien spielt das Internet eine große Rolle. Es hat dazu beigetragen, dass viele dieser Theorien überhaupt erst im Mainstream bekannt geworden sind, darunter auch solche, die einen rechtsextremen Hintergrund haben. Unser Anspruch als politische Bildner ist es ja, alle erreichen zu wollen und niemanden verloren zu geben. Natürlich ist es schwer, Personen argumentativ zu begegnen, deren Weltbild nicht mehr auf der Grundlage des Common Sense basiert. Versuchen muss man es trotzdem. Gerade dann, wenn solche Theorien auf öffentlichen Plattformen wie Facebook gestreut werden. Denn hier erreichen die Gegenargumente ja nicht nur den Absender selbst.
Sozialpsychologen haben herausgefunden: Die Verschwörung, detailliert nacherzählt, bleibt im Kopf hängen, die Widerlegung dagegen verblasst schnell. Was bedeutet das für Journalisten? Und für die politische Bildung?
Thomas Krüger: Das bedeutet, dass sowohl die Medien als auch wir in der politischen Bildung der „Kreativität“ der Verschwörungstheoretiker ebenso kreative Angebote entgegensetzen müssen.
Wie könnte solch eine Kreativität in einer Lokalredaktion aussehen?
Thomas Krüger: Sie sollte das machen, wofür Journalismus eigentlich schon immer steht: Hintergründe investigativ und faktenbasiert aufdecken und erklären. Ich halte dies für eine der wirkungsvollsten Methoden, um emotional geführten Debatten, die häufig von Gerüchten, Vorurteilen und „gefühlten Wahrheiten“ bestimmt werden, den Druck zu nehmen und in geregeltere Bahnen zu lenken.
Sind denn die Hassprediger noch zum Dialog bereit? Die Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen hat es versucht – offenbar ohne Erfolg.
Thomas Krüger: Wenn wir zum Beispiel von den Anführern der Pegida-Bewegung sprechen, dann geht es um Personen, die seit Jahren in ihrem Weltbild gefestigt sind und sich mit Personen umgeben, die sie in diesem Weltbild bestätigen und bestärken. Es ist sehr schwer, solche Leute noch mit politischen Bildungsangeboten zu erreichen, da diese – ab einem gewissen Alter – ja immer auf freiwilliger Basis ablaufen. Politische Bildung kann keinesfalls das alleinige Mittel sein, ein gesamtgesellschaftlicher Prozess muss angestoßen werden. Und hier sehe ich politische Bildung wiederum in der Pflicht ihren Beitrag zu leisten.
Sind also die Sympathisanten noch zu erreichen? Die Menschen, die den Hasspredigern Beifall zollen?
Thomas Krüger: Am Auf- und Abschwung der Pegida-Veranstaltungen sieht man ja, dass dem so ist. Die zunehmende Radikalisierung der Forderungen hat nicht dazu geführt, dass die Demonstrationen mehr Zulauf bekommen – im Gegenteil. Ein für mich eindeutiges Zeichen, dass auch Personen noch erreichbar sind, die dem dort verbreiteten Gedankengut in Teilen zustimmen oder in der Bewegung zeitweise ein Ventil für ihre Sorgen gesehen haben.
Nirgends ist das Vertrauen der Leser so groß wie in ihren Lokalteil. Die Wut-Briefe, die in Redaktion eingehen, zeugen doch davon, dass die Menschen seit Jahrzehnten und immer noch die Zeitung lesen. Was würden Sie als Lokalchef tun?
Thomas Krüger: Das Fundament eines erfolgreichen Lokaljournalismus ist die Recherche. Aktueller Präzedenzfall ist natürlich die Suche nach Unterkünften für Geflüchtete. Verschiedene Lokalmedien haben hier großartige Arbeit geleistet, indem sie transparent aufgezeigt haben, wie viele Geflüchtete tatsächlich in die Region kommen, welcher Ort wie viele von ihnen aufnimmt, wie sie dort leben und woher sie kommen. In der „drehscheibe“, unserem Magazin für gute Ideen und Konzepte im Lokaljournalismus, stellen wir genau solche gelungenen Beispiele vor und hoffen, dass sich andere Zeitungen an ihnen orientieren.
Gerade für die Lokalzeitungen gilt, dass sie nah an den Leserinnen und Lesern sein müssen. Sie sollten ihnen das Gefühl vermitteln, in der Presse ein Sprachrohr und eine Plattform für die vor Ort geführten Diskurse haben, gerade auch für jene, die besonders kontrovers geführt werden. Nicht umsonst unterstützt die bpb seit vielen Jahren die lokale Politikberichterstattung mit den verschiedenen Angeboten des Lokaljournalistenprogramms.
Erleben wir die Dämmerung der Demokratie? Wächst langsam wieder die Sehnsucht nach einem, der alles besser macht?
Thomas Krüger: So schwarz sehe ich auf gar keinen Fall. Laut Kishon ist Demokratie ja das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann. Ich bin überzeugt, dass sich dessen auch viele derer bewusst sind, die gerade ihre sogenannten Sorgen sehr lautstark äußern. Außerdem erlebe ich täglich zahllose engagierte Akteure, die daran mitarbeiten, die Demokratie lebendig zu halten. Dieser Einsatz, das Wissen und der Einfallsreichtum dieser Menschen sind die Voraussetzungen dafür, dass auch jene, die an unserer Gesellschaft zweifeln, wieder auf die richtige Seite gezogen werden können.
Deshalb müssen wir sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen. Auch die Rolle der Institutionen darf man nicht unterschätzen. Natürlich geben sie als „Teil des Systems“ ein dankbares Ziel für Kritik ab. Trotzdem ist es wichtig, dass Ministerien, Behörden, alle Teile der öffentlichen Hand ein klares Signal senden, indem sie Vielfalt und Demokratie vorleben. Nur so bleibt beides zukunftsfähig.
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Mit Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, sprach Paul-Josef Raue. Das komplette Interview:
Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft: „Was ist, wenn es rauskommt?“
Ein guter Reporter recherchiert nicht, um einen Mächtigen zum Rücktritt zu zwingen oder ins Gefängnis zu bringen. Auch wenn eine Portion Jagdfieber dabei sein sollte: Ein guter Reporter kontrolliert die Macht und schaut genau hin, wo und wie sich die Mächtigen um jeden Preis – oder fast jeden Preis – die Macht sichern.
Ein Gerichtsverfahren oder gar einen Rücktritt können die Leitartikler fordern. Nicht von ungefähr ist im angelsächsischen Journalismus klar unterschieden: Recherche ist die Sache der Reporter, der Kommentar und die Linie des Blattes ist Sache der Editoren, die in den klimatisierten Etagen der Zentrale sitzen.
Der Rücktritt eines Regierungschefs ist Sache des Parlaments oder des Präsidenten oder – wie in Island in Folge der Panama-Papers – Sache des Volks, das auf die Straße geht. Ein solcher Rücktritt ist sozusagen der Kollateralschaden einer Recherche.
Ziel einer Recherche ist durchaus, die Mächtigen zu warnen und gar in Furcht vor dem Herrn zu halten, dem Volk also und seinen recherchierenden Treuhändern, den Journalisten. Im Handbuch des Journalismus* loben wir den Willen zur Wahrhaftigkeit bei Journalisten wie Politikern und zitieren Bodo Hombach, der Politiker war, dann Verleger der WAZ und heute zweifacher Honorarprofessor: Er deutete Kants kategorischen Imperativ „Was ist, wenn es alle tun?“ um in den kategorischen Imperativ der Mediengesellschaft: „Was ist, wenn es rauskommt?“
An diesen kategorischen Imperativ haben die Panama-Papers die Mächtigen wieder erinnert – übrigens nicht nur die in westlichen Ländern, sondern auch die Diktatoren und Kriegsherren dieser Welt.
Zudem sind die Panama-Papers eine Antwort auf die „Lügenpresse“-Prediger und –Anhänger.
*Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus, Seite 293 (Rowohlt 2016)
Wie sollen Journalisten mit Verschwörungs-Theorien umgehen? (Die Zukunft des Journalismus)
Sind Menschen, die von der „Lügenpresse“ sprechen, für Journalisten überhaupt noch zu erreichen? Ja, abgesehen von den Unbelehrbaren, den Hasspredigern und Aufwieglern und ihren treuesten Anhängern. Wir müssen mit ihnen sprechen, sie ernst nehmen – und auf ihre Verschwörungstheorien eingehen, die sie so faszinieren.
Aber Vorsicht! Wer Verschwörungen ausführlich Raum gibt, macht sie glaubhaft – auch wenn er sie gleich widerlegt; das fanden Sozialpsychologen heraus.Wie entkommt ein Journalist dieser Falle? Der Wissenschaftsredakteur Sebastian Herrmann gibt Tipps in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeiung; er rät dazu: Statt Verschwörungen detailliert zu erzählen, so dass sie sich einprägen, ist es besser, die falsche Geschichte mit einer neuen Geschichte zu überschreiben und zu recherchieren:
- Wer erzählt die Geschichte?
- Warum erzählt er sie? Was sind seine Motive?
- Wie ist die Geschichte entstanden? Welche giftigen Quellen gibt es?
- Wer profitiert von der Verbreitung?
Um die Kunst der Unterscheidung, wer von dem „Lügenpresse“-Vorwurf angezogen wird, und von der Macht der Gerüchte und um Verschwörungen geht es in der achten Folge der Kress-Reihe „Journalismus der Zukunft“.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung 29. Januar 2016, Seite 4
Bürger misstrauen Journalisten schon immer: Die Krise ist nicht neu (Serie „Journalismus der Zukunft“)
Haben die Deutschen ihr Vertrauen in die Medien verloren? Ja, aber dies ist schon seit Jahrzehnten so, und es ist typisch für den skeptischen Bürger in einer Demokratie. Um die von den Medien selbst hochgespielte Vertrauenskrise geht es im siebten Teil meiner Kress-Serie „Journalismus der Zukunft“. Der Münchner Kommunikations-Professor Carsten Reinemann meint, Journalisten könnten nicht mit Zahlen umgehen, und stellt nach seinen Recherchen fest:
Zumindest bis Ende 2014 hat sich das Medienvertrauen großer Teile der Bevölkerung gar nicht dramatisch verändert. Auch die im Jahr 2015 erhobenen Daten lassen diesen Schluss nicht zu.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Professor Kim Otto und Andreas Köhler von der Universität Würzburg, die Umfragen des Eurobarometers auswerten, die von der EU jährlich in Auftrag gegeben werden:
Von einer neuen generellen Vertrauenskrise in die Medien in Deutschland kann angesichts der Langzeitdaten nicht gesprochen werden. Insofern kann die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion über die Arbeit der Journalisten schon fast als hysterisch bezeichnet werden, und es wäre ratsam, Dampf aus der Debatte zu nehmen.
Wer sich in der politischen Mitte verortet, vertraut den Medien im Gegensatz zu denen, die sich politisch extrem einstufen, also weit rechts oder links. „Dass dieser Personenkreis von ,Lügenpresse‘ spricht, ist ein weit bekanntes Muster“, meinen die Wissenschaftlicher.
Umfragen zeigen, dass mehr als jeder fünfte befragte Pegida-Anhänger deutliche Kritik an der Arbeit von Journalisten übt. Dabei steht insbesondere der Vorwurf der Tendenzberichterstattung im Raume.
Auch wer seine wirtschaftliche Lage als schlecht einstuft, misstraut eher den Massenmedien. So fehlt der Mehrheit der Ostdeutschen das Vertrauen im Gegensatz zu den Westdeutschen: 58 Prozent misstrauen im Osten, nur 47 Prozent im Westen. Professor Otto:
Die Menschen in Ostdeutschland sind bekanntlich mit dem Funktionieren der Demokratie grundsätzlich unzufriedener als die Menschen in Westdeutschland. Auch das Institutionenvertrauen ist geringer.
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Die Links:
http://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/medienvertrauen-auf-dem-tiefpunkt
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