Journalisten erfinden neue Wörter: Heribert Prantl und die „Dresdner Republik“ (Friedhof der Wörter)
Wörter fallen nicht vom Himmel. Selbst fromme Bürger, die eh einer aussterbenden Spezies angehören, glauben nicht mehr, dass Gott oder ein anderes höheres Wesen in unsere Sprache hineinfährt wie ein Blitz.
Wörter werden gemacht, zum Beispiel von Journalisten, zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung, unserer bedeutendsten nationalen Zeitung. Im Leitartikel der Samstag-Ausgabe erfindet Heribert Prantl gleich zwei neue Wörter und bietet dem staunenden Leser drei Spezialbegriffe an, die dort am besten aufgehoben sind, wo sie hingehören: In die Fachsprachen oder dem Reservat der Bildungshuberei.
Wissen Sie, was „Aberratio“ bedeutet? Oder „ „incidenter“, ohne in einem Lexikon nachzuschlagen? Die Fragen dürften in einem TV-Quiz zu den Millionen-Preisfragen zählen. Also –
Aberratio können zumindest humanistisch Gebildete enträtseln: Das lateinische Wort kreist um den Irrtum. Vor allem Menschen, die gerne ihre Bildung vorzeigen, nutzen die alten Vokabeln und zeigen ihre Überlegenheit, indem sie das Wort für die Ungebildeten gleich übersetzen: ein großer Bohei, ein großer Irrtum.
Heribert Prantl nutzt gleich drei Wörter für einen Irrtum in einem einzigen Satz seines Leitartikels!
- Bohei aus der Umgangssprache – ein Wort, das der Duden erst vor zwölf Jahren auflistete;
- Irrtum aus der Alltagssprache und
- Aberratio, das der Duden den Fachsprachen zuordnet.
Incidenter stammt auch aus dem Lateinischen, zählt zum Bestand der Bildungshuberei, hört sich bedeutend an, bedeutet aber nur „beiläufig“ – also etwas, was man am Rande erwähnt.
Rezivilisierende Wirkung ist eine klassische Neuschöpfung, die allerdings nur schwer zu enträtseln ist. „Zivilisieren“ ist eine Art Integration: Wie bringe ich Fremden unsere westliche Kultur bei? Das „Re“, das Zurück, wäre also die Umkehr der Zivilisation, die Rückkehr in den alten Zustand der Barbarei.
Wer will das? Was soll es bedeuten in dem Satz:
Ein NPD-Verbot schon im Jahr 2003 hätte vielleicht eine gewisse rezivilisierende Wirkung (auf die rechtsradikale Szene) gehabt.
Aber wahrscheinlich ist nur die Wortschöpfung missglückt: Streichen wir das Wort, damit es nicht eines Tages im Duden auftaucht.
Dresdner Republik ist eine neue, eine polemische Schöpfung: So würde die Bundesrepublik sein, wenn Pegida herrschte oder die AfD. Es ist ein fieses Wort: Es suggeriert, dass die Mehrheit der Dresdner und der Ostdeutschen so denken wie eine Pegida-Anführerin, die auf einer Kundgebung zur Gewalt rief:
Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, würden sie diese volksverratenen Eliten aus den Parlamenten, den Gerichten, den Kirchen und den Pressehäusern prügeln.
„Dresdner Republik“ erinnert an „Weimarer Republik“, die zu schwach war und Hitler an die Macht brachte. Wir sollten die „Dresdner Republik“ schnell wieder vergessen.
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Thüringer Allgemeine, erweiterte Fassung der Kolumne „Friedhof der Wörter“ vom 7. März 2016 (geplant)
Quellen:
- SZ vom 27. Februar „Der braune Kern“
- (Festerling) dpa Meldung vom 12. Januar 2016 Siehe: http://www.sz-online.de/sachsen/festerling-provoziert-strafanzeige-3296346.html
„Hausbesuch“ bei Wut-Lesern: Ein SZ-Reporter reist nach Dresden und München
Wer mit Lesern spricht, die Wut-Briefe schreiben und Pegida loben, der ist überrascht, wie wenige dem Klischee des Neonazis entsprechen. Aber sie mögen die Medien nicht, weil sie mit den Mächtigen unter einer Decke mauscheln, weil sie nicht die Wahrheit schreiben, sagen sie.
Mich erstaunt immer wieder, wie viele von denen, die wütende Briefe schreiben, die Zeitung lesen – trotzdem. Wir sollten mit ihnen sprechen. Dirk Lübke, der Chefredakteur des Mannheimer Morgen, hat nach dem Petry-Schießbefehl-Interview viele Wut-Briefe bekommen: Sie sind nicht objektiv! Er schreibt sie alle an und lädt sie ein zum Gespräch. Kommt jemand? Oder einige? viele?
Wahrscheinlich kommt keiner: Die Redaktion ist fremdes, vielleicht sogar feindliches Terrain. Wahrscheinlich ist es sinnvoller, zu den Leser zu gehen – Hausbesuche.
So hat es die Süddeutsche Zeitung getan, einige von den Wütenden besucht, in München und Dresden. Sie haben den Redakteur eingeladen: Bernd Kastner, der Reporter, reiste an, in Dresden kamen vier Freunde hinzu, es gab Sächsische Eierschecke.
Ein Finanzdienstler hatte aus seiner Firma gemailt:
Ihr Knallchargen von der vierten Gewalt, die Ihr noch nie den Koran gelesen habt! Ich persönlich würde sogar bewaffnete Gewalt gegen den Münchner Moscheeneubau begrüßen.
Er hat tatsächlich „Ihr“ groß geschrieben, aber bei Anruf legte er auf.
„Pegida ist eine Gedankenwelt“, schreibt Kastner. Aber zuerst ist sie eine wirkliche Welt. In München freut sich eine 79-jährige: Jederzeit – nur am Montag und Donnerstag gehe es nicht „Da gebe ich Migranten Deutschunterricht.“
In Dresden stehen Tucholsky und Kisch im Bücherregal, auf dem Boden liegt ein Stapel der Sächsischen Zeitung. Ihren Namen wollen die Dresdner nicht lesen, sie bekommen ein Pseudonym. „Man wisse ja nie bei der Presse.“ Der 44jährige ist promovierter Diplom-Ingenieur, ein anderer Besitzer einer Autowerkstatt im Erzgebirge.
Man debattiert, der Reporter stellt klar, was an den Gerüchten nicht stimmt. Fast alles stimmt nicht:
- Die vier Frauen eines Muslims bekommen alle eine Rente, wenn er gestorben ist? Ja, aber jede nur ein Viertel.
- Der Staat zahlt den Flüchtlingen die Handy-Gebühr? Jeder bekommt ein Taschengeld, so wie es das Gesetz bestimmt, und damit kann er machen, was er will.
- In München kann man abends nicht mehr mit der U-Bahn fahren? München ist die sicherste Großstadt, obwohl hier mehr Migranten leben als in Berlin.
Dem Reporter fällt Karl Valentin ein: „Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.“
Jutta Wölk in München will kein Pseudonym, sie lässt sich fotografieren und erzählt, dass sie jeden Tag stundenlang liest, die Welt, die Jüdische Allgemeine, die Süddeutsche.Der Reporter notiert:
„Die SZ sei auch Teil des Schweigekartells, das Anweisungen der Politik befolge. Wie, Frau Wölk, stellen Sie sich das vor? „Da ruft der Seehofer an, die Frau Merkel, und sagt: Das wird nicht gedruckt. So einfach.“ So einfach? „Ich bin überzeugt, dass es so läuft.“ Tatsächlich? „Wie soll ich Ihnen das erklären? Natürlich rufen die nicht selbst an, sie lassen anrufen.“ Woher wissen Sie das? „Natürlich habe ich keinen Beleg dafür.“ Warum dann dieser Vorwurf? „Mir gefällt einfach die Haltung der SZ zur Flüchtlingspolitik nicht.“
Frau Wölks Lippen beginnen zu zittern. „Parallelgesellschaft“, ruft sie, „warum kann man das nicht einfach schreiben?“ Warum sind auf den Fotos in den Medien so oft Flüchtlingsfamilien, so oft Kinder? Es seien doch viel mehr alleinstehende Männer gekommen. Jetzt beben die Lippen.
Frau Wölk hat Angst, sie sagt, fremdenfeindlich sei sie nicht, nur skeptisch; sie beklagt, dass die Medien pauschalieren, pauschaliert selber und sagt: „Gefühle lassen sich nicht so einfach beseitigen.“ Und als der Reporter sie beim Herausgehen fragt, ob sie die Süddeutsche abonniert habe, wundert sich Frau Wölk: „Selbstverständlich.“
Wie wohl die Leser in Dresden und in München die Seite-Drei-Reportage des Reporters beurteilen? Objektiv? Herablassend? Belehrend? Wir könnten von ihnen lernen, wenn wir es wüssten.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar, Seite 3, „Hausbesuch“
Ein neues Verb: „lügenpressen“
Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung in Koblenz, prägt ein neues Verb: „lügenpressen“ – also ich lügenpresse dich, du lügenpresst mich usw.. So geschehen in einem Tweet, nachdem Frauke Petry, die AfD-Vorsitzende, während der Autorisierung den Schießbefehl gegen Flüchtlinge nicht mehr erwähnte. Lindner machte dies öffentlich und twittert nun:
Für die AfD ist es also „übelste Verleumdung“, wenn transparent wird, wie Frauke Petry lügenpressen wollte…
Petry und der Schießbefehl: Ein Plädoyer für die Autorisierung von Interviews
Frauke Petry sei Dank: Sie macht uns Journalisten klar, welche Errungenschaft das Autorisieren von Interviews ist! Das war auch in Deutschland ins Gerede gekommen, als Jill Abramson, die Chefredakteurin der New York Times, 2012 erklärt hatte – angelsächsischer Tradition folgend: Wir schreiben, was gesagt ist! Wir lassen keine Zitate mehr autorisieren!
Frauke Petry, die Vorsitzende der AfD, hat dem Mannheimer Morgen ein Interview gegeben, die Druckfassung autorisiert und darin einen Schießbefehl auf illegal einreisende Flüchtlinge gefordert. Als die Kritik zu heftig wurde, auch in der eigenen Partei, besann sich Petry auf ihren bewährten Slogan „Lügenpresse“ und sagte dem MDR:
Wir erleben in den Medien das, was so häufig passiert: Dass der Kontext dessen, was gesagt wird, sträflich missachtet wird und dass sich dann die politische Konkurrenz auf verkürzte Zitate wirft.
Laut dpa erklärte Petry: „Man wollte die Schlagzeile produzieren, dass die AfD auf Flüchtlinge schießen will.“ Das halte sie „für journalistisch total inakzeptabel“. Das Interview sei im „Stil eines Verhörs“ geführt worden.
Dirk Lübke, Chefredakteur des Mannheimer Morgen, erklärte Bülend Ürük von Kress:
Was ist daran nötigend, wenn Frauke Petry uns selber das Interview angeboten hat, sie und ihr Sprecher jedes Wort zur Autorisierung vorgelegt bekommen haben, jedes Wort und jeden Satz mehrmals gelesen und schließlich zur Veröffentlichung freigegeben haben?
Hätte Lübke auf eine Autorisierung verzichtet, stünde Aussage gegen Aussage und Pegida hätte ein neues Beispiel für die „Lügenpresse“.
Die Kölner Silvesternacht, die Medien und das Verschweigen: Die Wahrheit ist politisch korrekt
Was für ein Satz: „Die Wahrheit ist politisch korrekt“! Er beendet einen Kommentar von Chefredakteur Jost Lübben, am 7. Januar 2016 in der Westfalenpost veröffentlicht. Lübben antwortet einem Leser, der die Zeitung nach den Misshandlungen von Frauen in der Silvesternacht kritisiert: „zu spät, viel zu wenig und keine Hinweise auf die Täter“.
Jost Lübben antwortet in seiner Zeitung:
Es geht ums Grundsätzliche. Werden Journalisten gesteuert?Ich bin seit 30 Jahren in diesem Beruf, und in dieser langen Zeit hat noch kein Politiker oder Verleger ernsthaft versucht, mich von einer Berichterstattung abzuhalten oder zu einer bestimmten Tendenz zu drängen. Unser Produkt wird jeden Tag oder jeden Monat von Menschen bezahlt, denen unsere Arbeit etwas wert ist.Das schafft Unabhängigkeit, bringt aber auch Verantwortung mit sich. Von der Gefahr, Fehler zu machen, befreit es nicht. Einen solchen Fehler haben wir am Montag gemacht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.Die ganze Dimension der Ereignisse rund um die Kölner Domplatte war größer als zunächst eingeschätzt. In der gestrigen und der heutigen Ausgabe nimmt das Thema großen Raum ein und es wurde keineswegs verschwiegen, dass die mutmaßlichen Täter vor allem dem nordafrikanischen oder arabischen Raum zuzuordnen sind. Niemand hält uns davon ab.
Gerade aber, wenn viele Umstände ungeklärt sind, muss Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. Nur ein Beispiel: Ging es im Kern um sexuelle Übergriffe auf Frauen oder um widerliche Ablenkungsmanöver für dreiste Diebstähle von organisierten Banden? Die Antwort auf diese Frage ist für das künftige Handeln des Staates bedeutsam.Die Wahrheit bleibt auf jeden Fall politisch korrekt.
Innenminister de Maiziere gegen den Presserat: Es darf keine Schweigespirale geben
Ein Migrations- oder ein Flüchtlingshintergrund darf nicht verschwiegen werden. Das wäre im Ergebnis nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Politik und Medien bewusste Verzerrung vorwerfen.
Sagt Innenminister Thomas de Maizières im Interview mit der FAZ. Er meint das generell und plädiert indirekt für die Abschaffung von Richtlinie 12.1 des Pressekodex, die eine Erwähnung von Nationalitäten bei Straftätern nur ausnahmsweise gestattet („Erwähnung könnte Vorurteile gegenüber schutzbedürftigen Gruppen schüren.“) Die Tabuisierung der Herkunft von Kriminalität ist laut de Maizières nicht der richtige Weg.
Der Innenminister plädiert dafür, dass der Bürger sich selber eine Meinung bilden solle in Kenntnis aller Informationen:
Wir müssen schon aufpassen, dass nicht vor lauter politischer Korrektheit die Dinge nicht beim Namen genannt werden. Und wir müssen die Bürger auch nicht in Watte packen.
Der Innenminister greift einen Begriff auf, den Elisabeth Noelle-Neumann, Chefin des Allensbacher Meinungsforschungs-Institut, vor gut vier Jahrzehnten geprägt hat: „Es darf keine Schweigespirale geben.“. Medien bestimmen laut Noelle-Neumann die öffentliche Meinung, so dass Bürger, die eine andere Meinung haben, gehemmt werden, diese zu äußern: „Belohnt wird Konformität, bestraft wird der Verstoß gegen das übereinstimmende Urteil“, so Noelle-Neumann in ihrem Buch „Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut“.
Im Interview bezieht de Maizières die Schweigespirale nicht nur auf die traditionellen Medien, sondern vor allem auf das Internet, das seine „große aufklärerische Wirkung“ verloren habe:
Internetforen sind sich selbst bestätigende Zirkel, in denen fremde Argumente als störend empfunden werden.
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Quelle: FAZ 9. Januar 2016, Aufmacher Titelseite und Seite 2
Kriminelle Ausländer und Flüchtlinge: Muss der Presserat seinen Kodex ändern?
Nach dem Silvesterabend auf dem Kölner Bahnhofsplatz werden Medien hart kritisiert: Dürfen sie sexuelle Übergriffe auf Frauen verschweigen oder verharmlosen, um Fremdenfeindlichkeit nicht zu schüren? Dürfen sie die Herkunft der Täter unterdrücken?
Auf der einen Seite sind Medien wie ARD und ZDF, aber auch die taz, die ihre Zurückhaltung verteidigen. Daniel Bax schreibt in der taz:
Unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz, sind auch seriöse Medien im vorauseilendem Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt.
Auf der anderen Seite kritisieren nicht nur Nutzer der sozialen Medien die Zurückhaltung oder gar Einseitigkeit von Journalisten, vor allem im Fernsehen, sondern beispielsweise auch Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer. Er versteht die Menschen, die den „Nanny-Journalisten“ vorwerfen, „eher einem pädagogischen als einem journalistischen Auftrag zu folgen“.
Das sind die Fakten und Fragen:
- Der Presserat zieht diese Grenze in der Berichterstattung:
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
In dieser Richtlinie 12 überwiegt das pädagogische Moment. Der Presserat setzt voraus: Die Leser oder zumindest eine ausreichend große Zahl haben Vorurteile. Daraus folgt er: Der Journalist soll durch Verschweigen bewirken, dass die Leser in ihren Vorurteilen nicht bestärkt werden.
- Wie berichten Journalisten über Debatten, die öffentlich toben, ausgelöst durch die sozialen Netzwerke und einem Aktualitäts-Druck, der kaum Zeit zum Nachdenken lässt? Journalisten haben eine Recherche- und Sorgfalts-Pflicht: Reicht der Hinweis darauf aus, erst spät – vielleicht zu spät – zu informieren und reagieren?
- Gibt es eine Tendenz zur moralischen Zensur in einigen Medien? Hindert diese Zensur an einer intensiven Recherche? Der Vorwurf der Einseitigkeit aus moralischen Gründen trifft vor allen ARD und ZDF. FAZ-Redakteur Michael Hanfeld nennt es das „betreute Fernsehen“.
- Stehen wir vor einer Spaltung der Medien, zumindest im Internet: Die aktuellen, schnellen und vorschnellen, die jede Nachricht sofort raushauen, gegen die seriösen, die auf Sorgfalt achten, den Hintergrund ausleuchten und dem Leser Orientierung geben?
Die Debatte, geführt von Journalisten und in sozialen Netzwerken, sollte der Presserat aufgreifen: Dürfen Journalisten in einer aufgeklärten Gesellschaft zum Vormund ihrer Leser und Zuschauer werden? Sind sie laut Verfassung nicht Treuhänder der Bürger, die selber entscheiden sollen, wie sie Nachrichten bewerten? Hat sich die Öffentlichkeit nicht wesentlich durch die sozialen Netzwerke verändert – und muss nicht der Pressekodex darauf reagieren?
Sieben Tag nach der Silvesternacht in Köln hat sich der Presserat noch nicht geäußert – im Gegensatz zum DJV, der größten Journalistengewerkschaft; ihr Vorsitzender Frank Überall:
Eine nicht durch solide Recherchen gedeckte Verdachtsberichterstattung ist nicht nur unvereinbar mit den Prinzipien des professionellen Journalismus, sondern auch innenpolitisch brandgefährlich.
Begrüßungskultur am Grenzzaun: Wörter und Unwörter in Österreich (Friedhof der Wörter)
Die Österreicher sprechen deutsch, aber sie trauen den Deutschen nicht mehr, wenn es um das „Wort des Jahres“ geht. Sie wählen ein eigenes und haben 2015 die bessere Wahl getroffen: „Begrüßungskultur“. Man mag „Seid nett zu den Fremden!“ gut oder schlecht finden, aber das Wort beherrschte die Debatte des Jahres, drang erst in die Schlagzeilen der Zeitungen vor, dann in den Wortschatz der Politiker und schließlich in unsere Alltagssprache.
Schwer zu entdecken ist, wer das Wort erfunden hat, zumal es aus zwei lange gebräuchlichen Wörtern zusammengesetzt ist. Seitdem die Kultur schon mit dem Beutel vermählt wurde, muss sie für alles Mögliche ihren Namen hingeben. Hundert und mehr Zusammensetzungen sind bekannt von der Pop-Kultur über die Mono-, Nackt-, Primitiv- bis zur Urnenfelder-Kultur.
Zu Flüchtlingen, dem Thema des Jahres auch in Österreich, passt dort auch das Unwort des Jahres: „Besondere bauliche Maßnahmen“, von denen die Innenministerin sprach, um nicht vom Grenz-Zaun sprechen zu müssen an der Grenze zu Slowenien.
Warum sind die Österreicher klüger bei der Wahl zu den Wörtern des Jahres? Nicht ausschließlich Wissenschaftler und Experten, die dem Alltag vielleicht schon entrückt sind, wählen wie in Deutschland, sondern die Bürger selber. 34.000 gaben ihre Stimme ab: Das ist zwar keine Massenbewegung, ist ein halbes Prozent der Bevölkerung, aber entspräche gut 350.000 in Deutschland – die wohl kaum für „Flüchtling“ gestimmt hätten.
Die „Lügenpresse“ ist von Dresden auch nach Wien geschwappt, so dass die Österreicher dem Wort die Silbermedaille umhängen im Wettstreit um das Unwort des Jahres. Bronze gibt es für ein besonders perfides Wort, das Manager erfunden haben, um nicht mehr von massenhaften Kündigungen sprechen zu müssen oder der Schließung von Unternehmen: „Kostendämpfungspfad“.
Das Wort führt in die Irre, meint die Jury der „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“. Sprache allerdings soll die Menschen verbinden, statt in die Irre zu führen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 4. Januar 2016
Nico Rosberg oder vom Nachteil des Rampenlichts: „Man vergisst, dass Zeitungen oft Unsinn schreiben“
Sogar meine Freunde und Familie bewerten und interpretieren ja auch das, was sie von mir im Fernsehen oder in anderen Medien sehen. Das stimmt oft nicht sehr mit der Wahrheit überein… Ich halte Abstand, ich achte wenig darauf, was gesagt und geschrieben wird…
SZ-Redakteur Michael Neudecker erinnert Rosberg an die Frauenfußball-WM 2011, als er auf die Reporter-Frage antwortet, ob er zuschaue: „Warum nicht, man guckt doch auch die Paralympics“ und die Schlagzeile lesen musste „Rosberg vergleicht Frauenfußball mit Behindertensport!“
…das ist ein super Beispiel dafür, was passiert, wenn einmal was in den Medien ist, für das du gar nichts kannst. Der Schaden ist da, du kannst das nicht mehr einfangen…Man vergisst, dass Zeitungen oft Unsinn schreiben… Meistens.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung, 21. November 2015
Investigativer Kampf: „‚Kann, soll, angeblich‘ kamen niemals in den großen Spiegel Storys vor“
Die beste Kontrolle der Medien sind die Medien selbst – erst recht wenn sie konkurrieren, neidisch sind und eifersüchtig auf den Erfolg der anderen. Ein Lehrstück ist zur Zeit die Spiegel-Enthüllung über die Korruption bei der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft nach Deutschland: Reichen die Vermutungen? Gibt es Beweise oder nur Indizien? Stimmt wenig oder nichts?
Zwei Fronten haben sich formiert – und einer schaut zu: Der Spiegel auf der einen Seite, Bild auf der anderen Seite, die Süddeutsche abwartend und skeptisch. Hans Leyendecker (SZ), Deutschlands bester Investigativer, bleibt in einem Interview mit MDR Figaro in der Deckung, ihm sind die Vorwürfe des Spiegel nicht wasserdicht – und ein schwacher Moderator stellt ihm nur windelweiche und von wenig Kenntnis getrübte Fragen. Es scheint, als erwarte der Ex-Spiegel-Reporter Leyendecker einen Gesichts- oder gar Glaubwürdigkeits-Verlust seines alten Arbeitgebers, den er nicht fröhlich verlassen hatte.
Bild lässt Niersbach, den DFB-Chef, zurückschlagen – wie der Spiegel als Titelgeschichte, eine Woche danach. Franz-Josef Wagner macht sich in seiner Brief-Kolumne über die Profis vom Spiegel her:
Lieber Spiegel, Du hast Deinen Wortschatz erweitert. Lauter neue Spiegel-Wörter in der WM-Story:
Soll… angeblich… offenbar… mutmaßlich… anschaulich… möglicherweise.
Für mich sprach der Spiegel bisher immer eine direkte Sprache. Wörter wie „kann, soll, angeblich“ kamen niemals in den großen Storys vor. Sätze, die so anfangen, sind wie auf Sand geschrieben.
In der Tat liest sich der Spiegel-Aufmacher, als habe die Rechtsabteilung eifrig mitredigiert.
Aus der Konkurrenz der Medien ist ein Kampf der Medien geworden und ein Kampf um die Wahrheit. Investigativ gilt auch für die gegenseitige Kontrolle der Medien: Wer am besten recherchiert, ist vorn. Wer will da noch von Lügenpresse reden?
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