„Hausbesuch“ bei Wut-Lesern: Ein SZ-Reporter reist nach Dresden und München

Geschrieben am 10. Februar 2016 von Paul-Josef Raue.

Wer mit Lesern spricht, die Wut-Briefe schreiben und Pegida loben, der ist überrascht, wie wenige dem Klischee des Neonazis entsprechen. Aber sie mögen die Medien nicht, weil sie mit den Mächtigen unter einer Decke mauscheln, weil sie nicht die Wahrheit schreiben, sagen sie.

Mich erstaunt immer wieder, wie viele von denen, die wütende Briefe schreiben, die Zeitung lesen – trotzdem. Wir sollten mit ihnen sprechen. Dirk Lübke, der Chefredakteur des Mannheimer Morgen, hat nach dem Petry-Schießbefehl-Interview viele Wut-Briefe bekommen: Sie sind nicht objektiv! Er schreibt sie alle an und lädt sie ein zum Gespräch. Kommt jemand? Oder einige? viele?

Wahrscheinlich kommt keiner: Die Redaktion ist fremdes, vielleicht sogar feindliches Terrain. Wahrscheinlich ist es sinnvoller, zu den Leser zu gehen – Hausbesuche.

So hat es die Süddeutsche Zeitung getan, einige von den Wütenden besucht, in München und Dresden. Sie haben den Redakteur eingeladen: Bernd Kastner, der Reporter, reiste an, in Dresden kamen vier Freunde hinzu, es gab Sächsische Eierschecke.

Ein Finanzdienstler hatte aus seiner Firma gemailt:

Ihr Knallchargen von der vierten Gewalt, die Ihr noch nie den Koran gelesen habt! Ich persönlich würde sogar bewaffnete Gewalt gegen den Münchner Moscheeneubau begrüßen.

Er hat tatsächlich „Ihr“ groß geschrieben, aber bei Anruf legte er auf.

„Pegida ist eine Gedankenwelt“, schreibt Kastner. Aber zuerst ist sie eine wirkliche Welt. In München freut sich eine 79-jährige: Jederzeit – nur am Montag und Donnerstag gehe es nicht „Da gebe ich Migranten Deutschunterricht.“

 In Dresden stehen Tucholsky und Kisch im Bücherregal, auf dem Boden liegt ein Stapel der Sächsischen Zeitung. Ihren Namen wollen die Dresdner nicht lesen, sie bekommen ein Pseudonym. „Man wisse ja nie bei der Presse.“ Der 44jährige ist promovierter Diplom-Ingenieur, ein anderer Besitzer einer Autowerkstatt im Erzgebirge.

 Man debattiert, der Reporter stellt klar, was an den Gerüchten nicht stimmt. Fast alles stimmt nicht:

  • Die vier Frauen eines Muslims bekommen alle eine Rente, wenn er gestorben ist? Ja, aber jede nur ein Viertel.
  • Der Staat zahlt den Flüchtlingen die Handy-Gebühr? Jeder bekommt ein Taschengeld, so wie es das Gesetz bestimmt, und damit kann er machen, was er will.
  • In München kann man abends nicht mehr mit der U-Bahn fahren? München ist die sicherste Großstadt, obwohl hier mehr Migranten leben als in Berlin.

Dem Reporter fällt Karl Valentin ein: „Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.“

Jutta Wölk in München will kein Pseudonym, sie lässt sich fotografieren und erzählt, dass sie jeden Tag stundenlang liest, die Welt, die Jüdische Allgemeine, die Süddeutsche.Der Reporter notiert:

„Die SZ sei auch Teil des Schweigekartells, das Anweisungen der Politik befolge. Wie, Frau Wölk, stellen Sie sich das vor? „Da ruft der Seehofer an, die Frau Merkel, und sagt: Das wird nicht gedruckt. So einfach.“ So einfach? „Ich bin überzeugt, dass es so läuft.“ Tatsächlich? „Wie soll ich Ihnen das erklären? Natürlich rufen die nicht selbst an, sie lassen anrufen.“ Woher wissen Sie das? „Natürlich habe ich keinen Beleg dafür.“ Warum dann dieser Vorwurf? „Mir gefällt einfach die Haltung der SZ zur Flüchtlingspolitik nicht.“

Frau Wölks Lippen beginnen zu zittern. „Parallelgesellschaft“, ruft sie, „warum kann man das nicht einfach schreiben?“ Warum sind auf den Fotos in den Medien so oft Flüchtlingsfamilien, so oft Kinder? Es seien doch viel mehr alleinstehende Männer gekommen. Jetzt beben die Lippen.

Frau Wölk hat Angst, sie sagt, fremdenfeindlich sei sie nicht, nur skeptisch; sie beklagt, dass die Medien pauschalieren, pauschaliert selber und sagt: „Gefühle lassen sich nicht so einfach beseitigen.“ Und als der Reporter sie beim Herausgehen fragt, ob sie die Süddeutsche abonniert habe, wundert sich Frau Wölk: „Selbstverständlich.“

Wie wohl die Leser in Dresden und in München die Seite-Drei-Reportage des Reporters beurteilen? Objektiv? Herablassend? Belehrend? Wir könnten von ihnen lernen, wenn wir es wüssten.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar, Seite 3, „Hausbesuch“

2 Kommentare

  • Jede Zeitung sollte auch die, lt. Karl Valentin, komische Seite eines Dings ernst nehmen. Gute Erfahrungen habe ich mit meiner Heimatzeitung, der Thüringer Allgemeinen, gemacht. Egal ob regional oder überregional. Bei Themen, die die Leser brennend interessieren, offene Diskussion bis hin zu Einladungen wo kontrovers diskutiert wurde. Mangel-Die Zeit war immer zu kurz und manche Beiträge inhaltlich deplatziert.

  • Danke für den Beitag. Dann halte ich mal fest: Der „besorgte“ und auch der Wutbürger (generisches Maskulinum!) ist nicht doof und per se auch nicht rechtsextrem. Das ist schon mal eine wichtige Botschaft dieser Tage. Bei allen Journalisten ist die aber noch nicht angekommen. Daher sind Leserforen aus meiner Sicht ausgesprochen wichtig.

    Es gibt aber in der Frage der Berichterstattung noch ein anderes Problem. Untersuchungen über die politische Verortung von Journalisten zeigen an, dass sich 60-70% der Zunft als politisch linksorientiert („links der Mitte“) bezeichnen. Mittlerweile gilt links als gut, rechts als schlecht. Aus meinen beruflichen Arbeitszusammenhängen kann ich diesen Befund bestätigen, der jedoch bei weitem kein Abbild der Gesellschaft ist. Bei den Zeitungslesern findet sich oft ein höherer Grad an politischer Differenzierung als mancher in den Redaktionen annimmt. Und so erklärt sich zum Teil, warum Journalisten immer wieder an vielen Lesern vorbei schreiben und deren Gefühls- und Gedankenwelt nicht (mehr) erreichen. Im Ergebnis bedeutet dies folgerichtig den Rückgang der Auflagen. Warum eine Zeitung kaufen, in der ich meine Positionen nicht finde? Das heißt aber nicht, als Leser würde ich den Kommentar nicht schätzen. Im Gegenteil, der regt ja Diskussion und Kontroverse an.
    Wenn die Journalistenmeinung („Blattposition“) allerdings immer nur eine bestimmte Meinung wiedergibt, dann suche ich mir eben eine andere Zeitung oder – wenn es ein regionales Zeitungsmonopol gibt – ich weiche ins Internet und seine Vielfalt aus. Wenn sich in den Meinungen der Journalisten lediglich die Regierungshaltung spiegelt, wie in den Monaten der eskalierenden Flüchtlingssituation zu beobachten war, in der sich Medien wenig professionell agierend zum Katalysator einer „Willkommenskultur“ im Sinne der GroKo-Regierungspolitik entpuppten, dann werden kritische Leser hellhörig und äußern ihre Besorgnis. Denn natürlich gab es Alternativen zu den einsamen politischen Entscheidungen jener Tage. Wird die Besorgnis nicht ernst genommen oder platt als „Rechts“ stigmatisiert, dann haben Medien ein gesellschaftliches Problem kreiert. Es ist merkwürdig, anschließend einen Zustand (Pegida!) zu beklagen, an dessen Zustandekommen viele Medien mitbeteiligt waren und insofern auch mitverantwortlich sind. Und die AFD profitiert.

    Warum muss eigentlich mit jeder wichtigen Nachricht gleich die Meinung, sprich Deutungsinterpretation durch einen Journalisten mitgeliefert werden? Eine gut recherchierter Bericht zeigt doch oft schon das Spektrum von Einschätzungen der Bürger. Das nenne ich dann Qualitätsjournalismus. Als Leser wünsche ich mir eine Zeitung, die strikt zwischen Bericht und Kommentar, also der persönlichen Meinung eines einzelnen Journalisten, unterscheidet. Die guten Medien machen das, die weniger guten werkeln weiter vermischend vor sich hin.

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