Alle Artikel mit dem Schlagwort " Kontrolle der Mächtigen"

Das Elend der Politik (Kommentar zur Landtagswahl in Thüringen)

Geschrieben am 14. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Wer, um alles in der Welt, wählt eigentlich die AfD? Wer dort sein Kreuz malte, der wusste: Die Partei wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in keiner Koalition mitregieren.  Eine Stimme für die AfD ist also – wenn es um die Macht geht – eine verlorene Stimme.

Trotzdem stimmte jeder zehnte Thüringer, der sich zum Wählen entschlossen hatte, für eine nahezu unbekannte Truppe, die zerstritten war und kein klares Konzept hat. Nehmen wir die Thüringer hinzu, die bei dem trüben Wetter lieber zu Hause blieben, dann kommen wir auf die stärkste Fraktion überhaupt: Die Bürger, die es nicht so recht interessiert, wer über ihre Zukunft bestimmt.

Selten ist das große Problem unserer Demokratie so klar geworden wie gestern in Thüringen:   Den Mächtigen läuft das Volk davon. Die beiden größten Parteien haben zwar Prozentpunkte gewonnen, aber  wahrscheinlich Wähler verloren. Der Jubel bei CDU und Linke in Thüringen, die sich beide wie Sieger fühlen, wird nur ein paar Tage anhalten, dann wird  Katzenjammer einsetzen und hoffentlich das Nachdenken: Wieviel Desinteresse kann eine Demokratie aushalten? Wird sich das Problem auswachsen? 

Nein, im Gegenteil: Schauen wir auf die Wahlanalysen, dann wird die Lage noch dramatischer: Die Wähler der AfD sind gerade die jungen Wähler. Wer jünger ist als 29, der machte öfter bei der AfD sein Kreuz als bei der SPD und fast so oft wie bei der Linken.

Wer zynisch das Ergebnis  interpretiert, der könnte sagen: Wenn es den Bürgern schlechter geht, wird sich schnell  wieder alles richten. In der Tat sind fast zwei Drittel so zufrieden wie nie zuvor.  Doch auf schlechte Zeiten zu hoffen, ist ebenso töricht wie gefährlich. 

Politiker müssen  endlich  klar machen, dass sich die Bürger mit Verdrossenheit und Verweigerung selber schaden. Wir brauchen mehr Politiker, die Vertrauen und Kompetenz zeigen. Es ist Zeit!

PS. Und was ist der Auftrag an uns Journalisten? Dürfen wir nur zuschauen? Oder müssen wir selber Konzepte und Lösungen finden?
    

**

Thüringer Allgemeine 15.9.2014 (hier erweiterte Fassung)

Ice-Bucket-Challenge: Darf sich ein Redakteur von einem Politiker im Wahlkampf einladen lassen?

Geschrieben am 14. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Wahlkampf in Thüringen. 16.000 Zuschauer im Erfurter Stadion warten auf den Anpfiff des Ost-Derbys gegen Dresden in der Dritten Liga. Am Rande des Rasens steht Bodo Ramelow, Spitzenkandidat der Linken, mit einem roten „Linken“-T-Shirt; rechts und links von ihm stehen auf zwei Hockern Rot-Weiß-Balljungen mit Eiskübel. Ein künftiger Ministerpräsident, möglicherweise, schüttet sich nicht selber Eiswasser über den Kopf.

Wir sind bei der Eiswasser-Wette, dem Ice Buckett Challenge, in den USA erfunden, um Geld für die kaum erforschte Nervenkrankheit ALS zu besorgen. Wer nicht Eiswasser über seinen Kopf kippt, zahlt hundert Dollar; Bill Gates hat sich beteiligt, Mark Zuckerberg und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann (der einen „gewissen Christian Wulff“ und seine Frau nominiert haben soll). Nicht reagiert haben Joachim Löw, Angela Merkel und Wladimir Putin.

Auch das gehört eben zum Ritual der Wette: Bodo Ramelow nennt drei Menschen, die seinem Vorbild folgen sollen. Darunter ist sein „spezieller Freund“, der Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, gegen den er im Wahlkampf unzählige Tweets, Retweets, eine Unterlassungserklärung verfasst hat und reichlich Missfallens-Bekundungen erlassen.

Soll ein Chefredakteur (oder auch jeder andere Redakteur) über dies Stöckchen im Wahlkampf springen? Wird er dann nicht Teil des Wahlkampfs? Macht er sich nicht lächerlich vor seiner Leserschaft einer seriösen Zeitung? Oder ist er einfach ein Spielverderber? Einer, der alles zu ernst nimmt?

„Kann er nicht digital“, twittert einer, als meine Antwort nicht rechtzeitig kommt. Man muss, nach den Regeln, innerhalb von 24 Stunden eiskübeln. Meine Antwort an Ramelow:

Sie können mich nicht einladen: ich bin Journalist, kein Wahlkämpfer. Ich kämpfe weder für sie, noch für andere.

Ramelow ist indigniert und grummelt, ich hätte das Ganze nicht verstanden und sollte mal Wikipedia lesen. Meine Antwort:

Wiki lesen: „Ein Internet-Phänomen, von vielen ausgenutzt, sich selbst in Szene zu setzen.“

Übrigens: Die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis lehnte auch ab: „Ich spende lieber still und leise.“

Hanns Joachim Friedrichs sprach den legendärer Satz, im Handbuch auf Seite 176 zu finden:

Einen guten Journalist erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.

Den beiden schließe ich mich an, ebenso:

Mittlerweile schwappt die Eiskübel-Welle weiter, ohne dass noch großartig auf diesen ernsten Hintergrund hingewiesen wird. Bei der aktuellen Flut an Eiswasser in sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, es werde nur noch Wasser geschüttet, um sich ins Gespräch zu bringen. […] So wird aus einer Idee, die eine ernste Angelegenheit humorvoll verpackt, ein verwässertes Internet-Phänomen, das von vielen letzten Endes nur ausgenutzt wird, um sich selbst in Szene setzen.

Tanja Morschhäuser: Verwässertes Internet-Meme. Frankfurter Rundschau, abgerufen am 23. August 2014.

Wenn Politiker ausrasten: Wahlkampf und die Nerven von Redakteuren wie Kämpfern

Geschrieben am 13. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Wahlkampf in Thüringen war ein heftiger. Es deutet sich ein Wechsel an, und ein Novum in der deutschen Geschichte: Der erste deutsche Ministerpräsident von den Linken, der Nachfolge-Partei der SED – im 25. Jahr nach dem Fall der Mauer.

Selten thematisieren Redakteure, was sich alles zwischen Politikern und Redaktionen abspielt. Mirko Krüger, Desk-Chef der Thüringer Allgemeine, hat in einem Leitartikel auf der Titelseite die „Misstöne im Thüringer Wahlkampf“ erklärt:

Je näher die Entscheidung rückt, umso mehr liegen die Nerven vieler Kandidaten blank. Das bekommen auch Journalisten zu spüren. Seit Tagen häufen sich Anrufe von Politikern in der Redaktion; wohlgemerkt: von Politikern aus nahezu jedem politischen Lager.

Der eine fühlt sich beleidigt, wenn wir über ihn berichten. Ein anderer flippt regelrecht aus, dass über ihn angeblich zu wenig berichtet würde. Ein dritter droht mit Abbestellung seines Zeitungsabos. Ihm passt nicht, dass sein parteiinterner Konkurrent in einem Artikel erwähnt worden ist.

In solchen Momenten macht unter Journalisten gern mal eine ketzerische Bemerkung die Runde. Zeitung machen könnte so schön sein, wenn es keine Politiker gäbe. . .

Wirklich? Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Die letzten Tage vor einer Wahl offenbaren nicht selten auf besondere Weise den wahren Charakter mancher Kandidaten.

In den USA lauern deshalb vor allem politische Gegner auf verbale Entgleisungen und Wutausbrüche ihrer Gegner. Wenn etwa ein Funktionär, der ach so gern ein Staatsmann wäre, ab und an ausrastet, lässt sich das herrlich ausschlachten.

Solche Videos zeigt man gern im eigenen Wahlkampf – und fragt dabei die Bürger: Möchten Sie wirklich die Zukunft unseres Landes in die Hände dieses Politikers legen?

Gut möglich, dass noch heute mein Telefon klingelt. Gut möglich, dass schon wieder ein Kandidat meint, ich könne ja nur ihn allein gemeint haben. Das wäre sogar gut: Jede Besserung beginnt mit Einsicht.

Was sich detailliert in der Redaktion an Druck und Drohung durch Politiker abspielt, können andere besser beschreiben.  Claus Peter Müller hat in der FAZ den Linken-Kandidaten Bodo Ramelow beobachtet:

 Ob alles stimmt, was über Ramelow geschrieben wird, sei dahingestellt. Aber er hält das Stöckchen, über das die anderen springen. Er macht sich interessant, um dann aber auch die Grenzen der Berichterstattung mit aller juristischen Entschlossenheit aufzuzeigen. In der „Tageszeitung“ steht, seine Mutter habe ihn wegen seiner schulischen Leistungen mit der Peitsche geschlagen. Von „Gewaltorgien“ soll er gesprochen haben.

Kaum eine Reflexion über Ramelow versäumt, seine Legasthenie zu thematisieren. Als aber jüngst ein Autor der Zeitung „Thüringer Allgemeine“ zu dem Schluss kam, Ramelow sei ein Narzisst, wurde er ungehalten und forderte von der Chefredaktion die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung. 

Die Korrespondenz versandte er im ganzen Land. Nun haben es alle schriftlich: „Lesen konnte und kann ich und zwar sehr gut“, steht dort als einer von vielen Punkten. Auch dass Ramelow nie Lehrling in Marburg gewesen sei, sondern dort Lehrlinge ausgebildet habe. Ferner habe er nicht an der Beerdigung von Professor Wolfgang Abendroth teilgenommen, und der „Abbruch des Interviews“ mit dem „Spiegel“ sei aufgrund von Beleidigungen durch den fragenden Journalisten „notwendig“ gewesen. 

Das ist eben auch ein Wesenszug des Kandidaten Ramelow. Er gilt als dünnhäutig und empfindsam.

Die Thüringer Allgemeine hat keine Unterlassungserklärung abgegeben. Im Klartext-Verlag hat sie ein E-Book herausgegeben: Frank Schauka – Bodo Ramelow. Eine biographische Skizze

Im Frühjahr gab ebenfalls der Klartext-Verlag die Biografie der Ministerpräsidentin heraus, geschrieben vom TA-Redakteur Martin Debes: Christine Lieberknecht – Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin (Besprechung in der WAZ und im MDR).
**

Quellen:
FAZ-Online vom 11. September „Ramelow im Präsidenten-Modus“
TA vom 6. September

Wahlprogramme im Osten: Bürgerfern. Der Experte: „Wer nicht verstanden wird, kann nicht überzeugen“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 6. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Was sind „revolvierende Fonds“? Wer sind „LSBTTIQ-Menschen“? Und was bedeuten „Trittsteinbiotope“, „Kaskadenmodelle“ und „Außenwirtschaftsgutscheine“? Genug! Genug! 

Alle Jahre wieder schauen sich Wissenschaftler aus Hohenheim die Wahl-Programme an.
Und alle Jahre wieder, so auch bei den ostdeutschen Landtagswahlen,  lautet ihr Fazit: Unverständliche Wörter, Fachbegriffe und Anglizismen  und viel zu lange Sätze und Schachtelsätze. Kurzum: Die meisten Programme sind unverständlich, bürgerfern und nähren die Verdrossenheit der Wähler.

Offenbar können sich die Experten in den Parteien austoben und Sätze schreiben, die nur sie verstehen. Oder haben die Parteien den Wähler schon abgeschrieben? Denken sie:  Programme liest doch keiner, allenfalls die Mitglieder?

Die Wissenschaftler um Professor Frank Brettschneider fanden in Thüringer Programmen Wörter wie
„Contractings“ (Linke), „Public-Private-Partnership-Verträge (PPP)“ (Piraten), Clustermanagement, Green-Tech, Spin-Offs oder Racial Profiling (alle SPD). Trotzdem kommt die SPD zusammen mit den Grünen auf dem zweiten Platz der Verständlichkeits-Parade.

Sieger im Verständlichkeits-Wettstreit ist die CDU, die von 20 möglichen Punkten immerhin 11 holte. Auf den letzten Platz mit knapp 4 Punkten kommt die Linke. „Ihre Wahlprogramme in Sachsen und in Thüringen sind noch unverständlicher als politikwissenschaftliche Doktorarbeiten“, sagt Professor Brettschneider.

„Wer nicht verstanden wird, kann auch nicht überzeugen“, fasst der Hohenheimer Professor zusammen. „Ohne ein hohes Bildungsniveau oder politisches Fachwissen sind einige Inhalte  schwer verständlich. An den Bedürfnissen der Leser, die sich nicht tagtäglich mit diesen Themen beschäftigen, schreiben Parteien damit vorbei.“

Warum hat die ständige Kritik an den Programmen kaum eine Resonanz? Schon ein Deutsch-Leistungskurs wäre in der Lage, etwa einen 54 Wörter-Satz im Linken-Programm lesbarer und somit verständlicher zu machen; ein Doppelpunkt und die Auflösung des Endlos-Nebensatzes reichte:
 

Wir machen uns dafür stark, dass die Koordination von Kriegen der Bundeswehr in anderen Staaten so schwer wie möglich gemacht wird, offizielle Vertreterinnen und Vertreter des Landes sich der militärischen Traditionspflege und bei Gelöbnissen enthalten, internationale Friedensinitiativen auch von Thüringen aus gestartet werden und die Bundeswehr nicht in Schulen für ihre Rekrutierung werben darf.

**

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter 8. September 2014

Diekmann hat bei Wulff-Frühstück nicht angebliche Rotlicht-Vergangenheit der Gattin angesprochen, so Diekmann

Geschrieben am 26. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Veränderte Überschrift
@KaiDiekmann korrigierte in einem Tweet:

@pjraue BEI JENEM FRÜHSTÜCK spielte das Thema in der Tat keinerlei Rolle! Heisst nicht, dass es nicht eine andere Gelegenheit gab!

Die ursprüngliche Überschrift lautete: „Diekmann hat mit Wulf nicht über angebliche Rotlicht-Vergangenheit der Gattin gesprochen, sagt Diekmann“

**

Was geschah beim Frühstück im Schloss Bellevue, als Bundespräsident Wulff Bild-Chefredakteur Diekmann zu Kaffee und Toast eingeladen hatte – damals wohl noch ein Herz, aber ohne Seele? Die Berliner Morgenpost lauschte und schrieb nach dem Wulff-TV-Auftritt bei Maybrit Illner:

Wer seine Urlaube mit Top-Wirtschaftsleuten verbringt, wer Amt und Freundschaften bis zur Unkenntlichkeit vermischt, der ist eine dubiose öffentliche Figur. Und wenn Kai Diekmann bei einem privaten Frühstück im Schloss Bellevue die neue Ehefrau Bettina Wulff auf ihre angebliche Rotlichtvergangenheit anspricht, dann wäre spätestens das der Moment gewesen, den Mann sofort vor die Tür zu setzen. Warum hat Wulff damals kein Rückgrat gezeigt?

Diekmann antwortet kurz vor Mitternacht per Twitter:

@KaiDiekmann: Ganz einfach, liebe @morgenpost: Ich habe das Thema bei jenem Frühstück gar nicht angesprochen.

Worüber haben die Drei denn gesprochen? Die FAZ hatte Wulffs Mailbox-Nachricht auf Diekmanns Handy veröffentlicht – ist jetzt die Süddeutsche an der Reihe, Diekmanns Gedächtnisprotokoll des Frühstücks im Bellevue zu drucken?

++

Quellen: Morgenpost 25.7.2014 / Tweet Diekmann

Dieckmann Wulff

Interview-Eklat (2) – Spiegel-Reporter erzählt vom Wulff-Gespräch: Es hat einige Male vor dem Abbruch gestanden

Geschrieben am 20. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

„Ich war eine Provokation“ steht auf dem Titel des neuen Spiegel, das auf einem Gespräch mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff basiert, dessen Autorisierung lange fraglich war. So erzählt Spiegel-Reporter Peter Müller in einem Video auf Spiegel-Online. Wird es üblich, dass ein Interview, vor allem ein hart geführtes, begleitet wird von einem „Making of“? Also einem Bericht des Redakteurs, wie schwierig die Autorisierung war? Diese Berichte, einseitig von Natur aus, werden ja nicht autorisiert.

Gerade hat Markus Wiegand im Wirtschaftsjournalist erzählt, wie schwierig die Autorisierung eines Weimer-Interviews war (siehe dazu den Blog „Elite der Journalisten sind Weicheier“).

Offenbar missfällt immer mehr Reportern die deutsche Eigenart, Interviews autorisieren zu lassen. Sie beneiden ihre amerikanischen und britischen Kollegen, die – wie die New York Times – prinzipiell nicht autorisieren lassen. Doch hat der deutsche Sonderweg einen großen Vorteil: Politiker und andere Funktionäre sprechen frei und üben nicht vorher Phrasen und Textbausteine wie bei den unsäglichen TV-Erklärungen.

Vor wenigen Tagen erzählte Katrin Göring-Eckardt bei einem Redaktionsbesuch in Erfurt: Sie habe sich vor dem Interview mit einem angelsächsischen Journalisten gut vorbereitet und alle möglichen Sätze im Kopf bereitgelegt. Allerdings habe der Journalist von sich aus einer Autorisierung zugestimmt: „Ich weiß, dass Sie hier andere Sitten haben.“

Im Wulff-Interview, an dem auch Chefredakteur Büchner teilnahm (als einziger auf dem Foto grimmig schauend), beklagt Wulff verschiedene Spiegel-Titel, die Verrohung des Diskurses, Häme, Diffamierung und Denunziationen. Er verlangt härtere Regeln und Strafen des Presserats.

Kai Diekmann, Bild-Chefredakteur, weiß noch mehr. Er twittert:

Warum hat es so lange gedauert, das Interview mit Wulff zu veröffentlichen? Ist doch schon vor über 5 Wochen geführt worden…

Sind Leserbrief-Schreiber eher unglückliche Menschen?

Geschrieben am 7. Juni 2014 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser fragt sich: Bin ich ein unglücklicher Mensch? Er ist sich sicher: Nein! Er stellte diese Frage, als er am Sonnabend vor der Europa- und Kommunalwahl den Leitartikel in der Thüringer Allgemeine las, der so begann:

„Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.“

Der Leser aus Weimar macht sich seine Gedanken: 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bürger, die gern Leserbriefe schreiben, Pessimisten und unglücklich sind. Ich schätze es sehr, wenn Menschen ihre politischen Standpunkte einer größeren Öffentlichkeit vorstellen und somit auch zur Diskussion anregen. Dazu gehören sicher Mut, Einfühlungsvermögen und Überzeugtheit. 

Wenn dabei mitunter ein gewisses Maß an politischer Weitsicht fehlt, so ist doch ein hoher Grad an Vertrauen gegenüber der Zeitung zu erkennen.

Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, das mir nicht nur verfassungsmäßig Meinungsfreiheit garantiert, sondern diese auch in vieler Hinsicht fördert. Das ist gut so und kann noch besser werden, wenn die Gedanken der Bürger in Wort und Schrift eine gewisse Wirksamkeit erreichen. 

So sehe ich in vielen „Leserbriefschreibern“ Optimisten, die an Veränderungen im positiven Sinne glauben und zum weiteren Nachdenken anregen. Wenn ich morgens meine „Thüringer Allgemeine“ aufschlage, interessieren mich zunächst die Meinungen meiner Mitbürger in ihren Leserbriefen, und wende mich dann intensiv den Kommentaren zu. 

Natürlich sehne auch ich mich in der Zeitung nach mehr Beiträgen, die Optimismus und auch Freude ausstrahlen.

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Ihr Brief beschämt mich. Ich bin offenbar zu sehr von uns Redakteuren ausgegangen: 

Wir sehen, oft notgedrungen, die dunklen Seiten der Welt. Wir decken auf, wenn die Mächtigen übermütig werden, und schreiben selten nur, dass sie – wie die meisten Menschen – ihre Arbeit anständig erledigen.   Es ist wie beim Klempner: Er kommt, wenn der Wasserhahn tropft – und nicht, wenn alles in Ordnung ist. 

Uns irritiert schon, dass unsere Recherchen in vielen Leserbriefen zu Verdruss, Verdrossenheit und Pessimismus führen – statt zu der Meinung: Gut,  dass wir in einem Land leben, in dem Redakteure den Mächtigen auf die Finger klopfen und in dem sich vieles ändern kann.

Sie haben uns überzeugt, dass Leserbriefschreiber eigentlich optimistisch sind. Wir stellen uns nun den Leserbriefschreiber als einen glücklichen Menschen vor.

Thüringer Allgemeine 7. Juni 2014

Der Leitartikel vom 24. Mai, auf den sich der Leser bezieht:

Vertreibung aus dem Paradies

Geht es uns gut? Darauf gibt es keine Antwort, welche die meisten akzeptieren könnten: Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.

Was wir eher akzeptieren, ist der Vergleich: Geht es uns besser? Wenn die Menschen in der DDR Westfernsehen schauten, fiel der Vergleich leicht: Denen drüben geht es besser – größere Autos, schönere Reisen und freie Wahlen.

Und heute? Uns Deutschen geht es besser als den meisten in Europa: Unser Wohlstand, viele Arbeitsplätze, offene Grenzen – und vor allem ein fast siebzigjähriger Frieden waren vor einigen Generationen noch ein Traum, der als unerfüllbar galt.

Uns Thüringern geht es besser als den meisten im Osten und sogar als vielen im Westen: Auch bei uns ist ein Traum wahr geworden. Einspruch!, rufen viele. Was läuft nicht alles schief – und sie präsentieren eine lange Liste des Schreckens von den niedrigen Renten bis zum Regelungseifer in Brüssel.

Doch ein Denken und Reden, das nur Schwarz-Weiß und Gut-Böse kennt, macht uns das Leben schwer. Wir sind aus dem Paradies vertrieben und werden es niemals wieder erreichen. Aber wir können dafür sorgen, dass es besser für uns wird – in unserem Dorf, in unserer Stadt, im Kreis und in Europa.

Die Demokratie hat viele Mängel, aber sie ist die einzige Form des Zusammenlebens, in der jeder über seine Zukunft, die seiner Kinder und der Gesellschaft mitreden und mitentscheiden kann. Geht er nicht zur Wahl, entscheiden andere über ihn. Wer will das schon?

Was wären Zeitungen ohne den Verrat? (Zitat der Woche)

Geschrieben am 1. Juni 2014 von Paul-Josef Raue.

Ohne Verrat, ohne zum Verrat bereite Zeitungen taugt die beste Regierung nichts.

Willi Winkler in der SZ vom 31. Mai zu einem Kommentar der New York Times (Online): Michael Kinsley, „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald besprechend, hatte sich gegen Snowden positioniert und der Regierung allein die Entscheidung zugewiesen, Geheimnisse bekannt zu machen. Das sei nicht Aufgabe und Recht der Presse. Kinsleys Begründung: Niemand hat die New York Times gewählt.

Margaret Sullivan ist Public Editor des NYT, eine Art Ombudsfrau („Mittler zwischen Zeitung und ihren Lesern“): Sie tadelte die Redaktion wegen der einseitigen Rezension des Buchs.

Die eigentliche Geburt der Pressefreiheit: Das Verfassungsgericht zur Spiegel-Affäre

Geschrieben am 7. Mai 2014 von Paul-Josef Raue.

Viel Lob für den TV-Film im Ersten „Die Spiegel-Affäre“, zu Recht. Erstaunlich ist jedoch, dass das Verfassungsgericht mit seinem bahnbrechenden Urteil zur Pressefreiheit nicht einmal im Abspann erwähnt wird. Die entscheidenden Sätze haben wir in der Neuauflage „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“ auf Seite 21 zitiert.

Das Bundesverfassungsgericht hat im „Spiegel-Urteil“ am 5. August 1966 den Wert der freien Presse für eine Demokratie deutlich gemacht. Aus den Aufgaben der Presse sind die Verpflichtungen für Redaktionen und Redakteure ableitbar:

Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.

Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.

In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung. In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können.

So wichtig die damit der Presse zufallende „öffentliche Aufgabe“ ist, so wenig kann diese von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.

Der Funktion der freien Presse im demokratischen Staat entspricht ihre Rechtsstellung nach der Verfassung. Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 5 die Pressefreiheit. Wird damit zunächst ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt, das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichen Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtsstellung sichert, so hat die Bestimmung zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite. Sie garantiert das Institut „Freie Presse“.

(BVerfG 20, 162ff.)

Die Spiegel-Affäre, der TV-Film im Ersten und der missionarische Journalismus

Geschrieben am 6. Mai 2014 von Paul-Josef Raue.

Es ist ein eindrucksvoller Film, den das Erste über die Spiegel-Affäre zeigt – nicht nur wegen der unentwegt Weinbrand-trinkenden Redakteure. Der Film räumt gründlich mit der Legende auf, dass Augsteins Kampf eine idealistische Veranstaltung war, um der Pressefreiheit ihren demokratischen Rang zu erstreiten. Dass die Pressefreiheit am Ende so gestärkt war wie in wenigen anderen Ländern, stand nicht in Augsteins Plan.

„Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“ – das schrieb Augstein, das war sein Plan. So stand es 1994 im „Spiegel“. Der Film über die Spiegel-Affäre zeigt beindruckend klar, wie heftig auch die Redakteure gestritten haben – gegen Augstein, ihren Chef. „Du bist besessen“, sagt Augsteins Bruder, ein Rechtsanwalt, über den persönlichen Feldzug gegen Strauß.

„Das ist Propaganda!“, brüllt ein Redakteur über die Vermischung von Gerüchten und Tatsachen – und stellt den Spiegel-Journalismus in die Nähe zum DDR-Journalismus, der sich als Propaganda verstand. Augstein lassen die Vorwürfe kalt: Die grundlegenden journalistischen Werte wie Wahrheit und Fairness nennt er „heuchlerische Anstandsregeln“.

Heute noch diskutieren Journalisten, ob dieser missionarische Journalismus nicht zu einer der bedenklichen Spielarten zählt. So sahen wir es auch in der ersten Auflage des „Handbuch des Journalismus“ vor achtzehn Jahren:

Die vierte Spielart des bedenklichen Journalismus ist der missionarische Journalismus. Ihn kennzeichnet das, was Rudolf Augstein im Spiegel 15/1994 geschrieben hat: „Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“, und: „Als Verteidigungsminister, Außenminister und erst recht als Nachfolger des Bundeskanzlers musste Strauß unmöglich gemacht werden.“

Ist dies die Sprache eines Journalisten? Sollte es sich nicht vielmehr um die Sprache eines Politikers handeln – eines Politikers, der eine einleuchtende politische Ansicht vertrat und sich mit Strauß zugleich in einem weniger einleuchtenden Zweikampf sah, so dass er den Spiegel als Sturmgeschütz auf Strauß ansetzte? Ist es wirklich tollkühn zu fragen, ob das „Journalismus“ heißen soll?

Von der Spiegel-Schlagzeile „Barschels schmutzige Tricks“ hat Augstein sich zwar nachträglich distanziert – aber formuliert war sie natürlich in seinem Geiste: Wir mussten Barschel aus der Regierung katapultieren, schließlich wollten wir die Wahlen in Schleswig-Holstein entscheiden, am Tag nach der Veröffentlichung fanden sie statt.

Und so stützte sich der Spiegel, seiner eigenen Darstellung nach, weil er keine Zeit zum Nachrecherchieren hatte – stützte sich der Spiegel also bei dieser Zeile zunächst allein auf die Aussagen eines Zeugen von schon damals katastrophalem Leumund.

Das Glück des Spiegels dabei war, dass es jahrelang so aussah, als habe er eine Wahrheit nur vorzeitig ausgesprochen. Inzwischen sind wir schlauer: Wir wissen, dass die SPD sich von schmutzigen Tricks keineswegs freigehalten hat und dass der Schmutzigste von allein in dieser Schlammschlacht vermutlich des Spiegels Zeuge war.

Wenn Journalisten selber Politiker sind – wie sollen sie dann eben den Politikern auf die Finger sehen? „Der Journalist“, sagt Johannes Gross, „hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten (…) Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.“

In späteren Auflagen haben wir das Journalisten-Kapitel zugunsten des Online-Kapitels gekürzt. So fiel der „missionarische Journalismus“ heraus ebenso wie diese drei Grundhaltungen, „die wir als bedauerlich empfinden“:

1. Der Krawalljournalismus des Boulevards.
2. Der überflüssige Journalismus in vielen Zeitschriften, die Umfragen ins Heft bringen, nach denen keiner verlangt (etwa: Bei Single-Männern, wenn sie nicht allein schlafen, liegen die Rheinland-Pfälzer zehnmal öfter hinten als die Mecklenburger).
3. Der verknöcherte Journalismus saturierter Abonnements-Zeitungen.

Sehenswert – nicht nur für Journalisten!

Die Spiegel-Affäre, Mittwoch, 7. Mai 2014, 20.15 bis 21.55 im Ersten; anschließend Dokumentation zum Thema.

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

Rubriken

Letzte Kommentare

  • Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
  • Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
  • Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
  • Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
  • Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...

Meistgelesen (Monat)

Sorry. No data so far.