Sind Leserbrief-Schreiber eher unglückliche Menschen?

Geschrieben am 7. Juni 2014 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser fragt sich: Bin ich ein unglücklicher Mensch? Er ist sich sicher: Nein! Er stellte diese Frage, als er am Sonnabend vor der Europa- und Kommunalwahl den Leitartikel in der Thüringer Allgemeine las, der so begann:

„Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.“

Der Leser aus Weimar macht sich seine Gedanken: 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bürger, die gern Leserbriefe schreiben, Pessimisten und unglücklich sind. Ich schätze es sehr, wenn Menschen ihre politischen Standpunkte einer größeren Öffentlichkeit vorstellen und somit auch zur Diskussion anregen. Dazu gehören sicher Mut, Einfühlungsvermögen und Überzeugtheit. 

Wenn dabei mitunter ein gewisses Maß an politischer Weitsicht fehlt, so ist doch ein hoher Grad an Vertrauen gegenüber der Zeitung zu erkennen.

Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, das mir nicht nur verfassungsmäßig Meinungsfreiheit garantiert, sondern diese auch in vieler Hinsicht fördert. Das ist gut so und kann noch besser werden, wenn die Gedanken der Bürger in Wort und Schrift eine gewisse Wirksamkeit erreichen. 

So sehe ich in vielen „Leserbriefschreibern“ Optimisten, die an Veränderungen im positiven Sinne glauben und zum weiteren Nachdenken anregen. Wenn ich morgens meine „Thüringer Allgemeine“ aufschlage, interessieren mich zunächst die Meinungen meiner Mitbürger in ihren Leserbriefen, und wende mich dann intensiv den Kommentaren zu. 

Natürlich sehne auch ich mich in der Zeitung nach mehr Beiträgen, die Optimismus und auch Freude ausstrahlen.

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Ihr Brief beschämt mich. Ich bin offenbar zu sehr von uns Redakteuren ausgegangen: 

Wir sehen, oft notgedrungen, die dunklen Seiten der Welt. Wir decken auf, wenn die Mächtigen übermütig werden, und schreiben selten nur, dass sie – wie die meisten Menschen – ihre Arbeit anständig erledigen.   Es ist wie beim Klempner: Er kommt, wenn der Wasserhahn tropft – und nicht, wenn alles in Ordnung ist. 

Uns irritiert schon, dass unsere Recherchen in vielen Leserbriefen zu Verdruss, Verdrossenheit und Pessimismus führen – statt zu der Meinung: Gut,  dass wir in einem Land leben, in dem Redakteure den Mächtigen auf die Finger klopfen und in dem sich vieles ändern kann.

Sie haben uns überzeugt, dass Leserbriefschreiber eigentlich optimistisch sind. Wir stellen uns nun den Leserbriefschreiber als einen glücklichen Menschen vor.

Thüringer Allgemeine 7. Juni 2014

Der Leitartikel vom 24. Mai, auf den sich der Leser bezieht:

Vertreibung aus dem Paradies

Geht es uns gut? Darauf gibt es keine Antwort, welche die meisten akzeptieren könnten: Wer mit Glücks-Genen auf die Welt kam, ist schon mit wenig zufrieden; wer zum Pessimismus neigt und gerne Leserbriefe schreibt, der ist unglücklich, ob er viel hat oder noch mehr.

Was wir eher akzeptieren, ist der Vergleich: Geht es uns besser? Wenn die Menschen in der DDR Westfernsehen schauten, fiel der Vergleich leicht: Denen drüben geht es besser – größere Autos, schönere Reisen und freie Wahlen.

Und heute? Uns Deutschen geht es besser als den meisten in Europa: Unser Wohlstand, viele Arbeitsplätze, offene Grenzen – und vor allem ein fast siebzigjähriger Frieden waren vor einigen Generationen noch ein Traum, der als unerfüllbar galt.

Uns Thüringern geht es besser als den meisten im Osten und sogar als vielen im Westen: Auch bei uns ist ein Traum wahr geworden. Einspruch!, rufen viele. Was läuft nicht alles schief – und sie präsentieren eine lange Liste des Schreckens von den niedrigen Renten bis zum Regelungseifer in Brüssel.

Doch ein Denken und Reden, das nur Schwarz-Weiß und Gut-Böse kennt, macht uns das Leben schwer. Wir sind aus dem Paradies vertrieben und werden es niemals wieder erreichen. Aber wir können dafür sorgen, dass es besser für uns wird – in unserem Dorf, in unserer Stadt, im Kreis und in Europa.

Die Demokratie hat viele Mängel, aber sie ist die einzige Form des Zusammenlebens, in der jeder über seine Zukunft, die seiner Kinder und der Gesellschaft mitreden und mitentscheiden kann. Geht er nicht zur Wahl, entscheiden andere über ihn. Wer will das schon?

3 Kommentare

  • Nicht die Leserbriefschreiber sind das Problem

    Die Leserbriefschreiber als unglückliche Menschen zu bezeichnen – das ist schon steil. Scheinen doch eher die Online-Kommentarforen von Zeitungen und Magazinen der Tummelplatz für Unzufriedene zu sein. Was früher der Spucknapf war, ist heute die Kommentarfunktion. Damit kann alles und jeder verunglimpft werden. Viele verschanzen sich dafür hinter einem Pseudonym. Dem Echo auf ihre Einlassungen können sie sich trotzdem sicher sein. Nicht nur SPON, Bild.de & Co. werden millionenfach geklickt. Folglich wird wohl jeder Kommentar gelesen, dutzend- bis tausendfach. Von so einem Resonanzboden konnten die Miesepeter vergangener Zeiten nicht mal träumen.

    Zugegeben: Spöttische Kommentare sind mitunter amüsant und treffend. Trotzdem fragt man sich, warum beispielsweise unter jedem Starinterview abschätzige Kommentare auftauchen. Die sind oft austauschbar wie eine Soda-Club-Patrone. Das Standardmuster sieht so aus: 1. Dieser Typ? Hoffnungslos unbegabt! 2. Andere können viel mehr. 3. Warum bekommt so jemand hier ein Forum?
    Jedenfalls nicht, damit Sie in der Mittagspause dort Dampf ablassen können, möchte man unwillkürlich antworten. Für viele Kommentatoren sind die Online-Foren ein digitaler Sandsack. Ärger, Hass und Angstschweiß werden in die Kommentarspalten geboxt.

    Es gibt nachweislich Nutzer, die jeden Tag einen Journalisten, Star oder Politiker abwatschen. Wer den Gescholtenen kennt oder interviewt hat, merkt, wie verdreht das Geschreibsel oft ist.
    Doch die Miesmacher bringen Klicks. Und das ist das Mantra, mit dem man immun gegen Geschwurbel unter dem eigenen Text wird. Es gibt Kollegen, die kaum damit klarkommen. Die grundsätzlich keine Kommentare unter ihren Texten lesen. Doch der Hass-Klick ist so wichtig wie jeder andere Klick.

    Und der Hasskommentar? Sorgt für Unterhaltung, wütende Mitkreischer oder Gegenredner. Willkommen in der kühlen Realität der Aufmerksamkeitsbranche und zurück zum eigentlichen Thema von Paul-Josef Raues Beitrag: dem pessimistischen Leserbrief. Worin unterscheidet der sich vom Online-Kommentar? 1. Er hat es durch ein Sieb geschafft. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass in der Regel nur die gelungenen und interessanten Leserbriefe gedruckt werden. Das bedeutet bei großen Zeitungen, dass vermutlich 90 Prozent der Leserbriefe in der Tonne landen. 2. Für den Leserbrief wird sich mutmaßlich mehr Zeit genommen als für den hingehuschten Forenkommentar. Er ist die ausgeruhtere Form – und das merkt man auch. 3. Wer einen Leserbrief verfasst, muss mit seinem richtigen Namen dafür einstehen. Anonyme Schreiben werden nur in Ausnahmefällen publiziert. 4. Briefe mit rein beleidigendem Charakter werden fast nie gedruckt; schon gar nicht, wenn sie argumentfrei daherkommen.

    Sind Leserbriefschreiber also unglückliche Menschen? Nein, unglücklich ist viel eher der beschriebene Typ der Online-Kommentatoren.

    Jonas Hermann

    • Ein kluger Kommentar, der auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Online-Kommentaren und Leserbriefen hinweist: Redaktionen moderieren das Gespräch mit dem Leser, sie sind ein Filter – nicht nur des guten Geschmacks, sondern auch zum Einhalt demokratischer Regeln. Der Unterschied betrifft auch Redakteure und Blogger: In Redaktionen liest einer, manchmal lesen sogar mehrere über einen Artikel, erst recht über einen Kommentar; davor gibt es Planungen, Absprachen, überhaupt: Gespräche.

      Der Blogger ist in der Regel einsam, er spricht mit sich selber. Der Dialog beginnt erst mit den Kommentaren im Netz, mit den „Miesepetern“. Wenn Jonas Hermann schreibt, dass manche Blogger die Kommentare nicht mehr lesen, dann entgehen ihnen auch die guten, die nachdenklichen, die vernünftigen Briefe.

      Das ist ein Plädoyer für die Zeitungen, auf jeden Fall für Redaktionen – auch online -, die zuerst miteinander sprechen und streiten – und dann das Gespräch mit den Lesern moderieren.

      Dennoch bleibe ich dabei: Die Zahl der Pessimisten ist unter Leserbrief-Schreibern größer als im Durchschnitt der Leser. Das ist meine Beobachtung, der jährlich Tausende von Leserbriefen liest. Allerdings stimmt auch: Auch unter Redakteuren dürfte die Zahl der Pessimisten größer sein als in der Bevölkerung.

      Auf jeden Fall lohnt es sich, in diesem Blog intensiver auf Leserbriefe einzugehen. Jonas Hermann. Danke!

  • Mit den Kollegen, die keine Online-Kommentare lesen, habe ich nicht die Blogger, sondern befreundete Journalisten gemeint. Blogger lesen die Kommentare vermutlich, weil sie ihre wichtigste Nahrungsquelle sind (neben den Klicks).
    Der Journalist hingegen bekommt ein Honorar oder Gehalt und eine Rückmeldung der Redaktion. Um die muss man zwar oft ausdrücklich bitten, doch wenn sie wohlwollend ist, wiegt sie mehr als jeder Leserkommentar.

    Richtig finde ich Paul-Josef Raues Credo, dass das Gespräch mit den Lesern moderiert werden muss. Es zeigt wieder mal: Redaktionen sind im Online-Zeitalter keinesfalls zu ersetzen, sondern beschäftigter denn je.
    Ob man beim Moderieren so viele Kommentare wegholzen muss, wie es „Zeit Online“ tut? Wohl kaum. Allerdings gibt es mindestens eine überregionale Zeitung, die auf ihrem Online-Auftritt fast jeden üblen Kommentar stehen lässt – was genauso fraglich ist.

    Paul-Josef Raue schreibt, er lese jährlich tausende Leserbriefe. Aus dieser Masse an Eindrücken destilliert er die Aussage, dass Leserbriefschreiber tendenziell eher pessimistische Menschen seien. Es wäre dumm, gegen einen derartigen Erfahrungsschatz anzuargumentieren.

    Auch Ihnen vielen Dank, Herr Raue, und ja, gehen Sie doch gerne etwas häufiger auf Leserbriefe ein.

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