Alle Artikel mit dem Schlagwort " Kontrolle der Mächtigen"

Eine Politikerin ärgert sich über eine Redaktion, schreibt eine Mail – und schickt sie an den falschen Absender

Geschrieben am 24. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Eine junge Bundestagsabgeordnete kommt mit einem Text, offenbar mit zu viel Partei-PR, nicht in die lokale Zeitung. Sie ärgert sich und schickt eine Mail an einen Genossen – und drückt auf die falsche Taste: Die Mail landet in der Redaktion der Fuldaer Zeitung:

Gesendet: Mittwoch, 16. April 2014 16:37
An: […]
Betreff: Re: Kolumne für Morgen

Wahrscheinlich finden die sich jetzt richtig toll… Das ist schon frech, was die sich so leisten. Wir müssen mal wirklich eine Strategie ausarbeiten, wie wir denen einen Strich durch die Rechnung machen können. Ich treffe mich Morgen zum Frühstück mit Hettler von Fuldainfo und wir schauen mal, ob wir Ideen haben.

Gruß

Birgit Kömpel MdB

Die Redaktion bringt die Mail in die Öffentlichkeit:

Fehlgeleitete Mail von Birgit Kömpel sorgt für Empörung
REGION
Liebe Leserinnen und Leser, diese Mail der Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel sollte unsere Redaktion nicht erreichen. Aber sie liegt uns vor, weil die SPD-Abgeordnete sich vertan und sie an uns geschickt hat. Schäbig finden wir den Inhalt. Unaufrichtig finden wir Kömpels Verhalten.

Zum Hintergrund: Seit einigen Jahren bietet unsere Zeitung heimischen Abgeordneten verschiedener Parlamente im Wechsel die Möglichkeit, sich zu vorgegebenen bzw. abgesprochenen Themen in einer Kolumne zu äußern. Damit wollen wir den Abgeordneten die Möglichkeit geben, ihre Sicht der Dinge zu aktuellen Themen darzulegen – und zwar jenseits von Parteipolitik.

Frau Kömpel schrieb vergangene Woche ohne jede Absprache und ohne sich an Vorgaben zu halten. Sie schrieb einen Lobgesang auf die Arbeit der SPD in 100 Tagen großer Koalition.

Aber: Spielregeln gelten für alle. Das haben wir ihr erläutert und diesen Beitrag abgelehnt. Für Sie, liebe Leser, zum Verständnis: In zwei Fällen mussten wir dies in den vier Jahren, die es diese Rubrik gibt, bereits tun. Einmal traf es einen CDU-Mann, einmal eine SPD-Vertreterin. Wie Frau Kömpel in einer offenbar für einen Mitarbeiter bestimmten Mail reagiert hat, lesen Sie oben.

Frau Kömpel soll(te) in Berlin Interessensverwalterin der Bürgerinnen und Bürger ihres Wahlkreises sein. Sie aber überlegt, wie sie einer unabhängigen Tageszeitung und damit auch einem Unternehmen ihres Wahlkreises Schaden zufügen kann – weil eine Redaktion nicht das tut, was sie möchte.

Die Mail der SPD-Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel offenbart uns ihr Medien- und Demokratieverständnis. Deshalb möchten wir sie transparent machen.

Einen Screenshot der Mail können Sie in der Printausgabe oder im E-Paper sehen.

Reicht die Verärgerung einer Politikerin über eine Redaktion, um sie vorzuführen? Trägt die Redaktion nicht ein wenig zu dick auf: Schäbig, unaufrichtig, Offenbarung eines falschen Medien-und Demokratieverständnisses?

Ist wirklich die Unabhängigkeit in Gefahr? Gewinnt am Ende nicht immer die Zeitung? Ist solch eine Dummheit einer offenbar recht unerfahrenen Politikerin nicht eher Stoff für eine Glosse als für eine große Abrechnung: Unsere Demokratie ist in Gefahr?

So stellt sich Thomas Bärsch als neuer Vize-Chefredakteur der TA vor – in einem Gespräch mit den Lesern (Teil 1)

Geschrieben am 12. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Thomas Bärsch verrät im Gespräch mit TA-Lesern, wie er die Zeitung stärken will, was er vom Fußball hält und warum er manchmal an der Politik zweifelt. Jeden Samstag erscheint „Domplatz 1“ in der Thüringer Allgemeine, benannt nach dem Ort, an dem das Lesergespräch stattfindet: Die Journalisten moderieren, ausgewählte Leser fragen, Prominenten antworten – und erstmals ein Redakteur:

Leserin Eva Fehrenbacher: Wie frei ist ein Chefredakteur? Will der Besitzer der Zeitung nicht reinreden und seine Vorstellungen einbringen?

Reinreden wollen viele – und das müssen nicht einmal die Besitzer eines Verlages sein. Wichtig ist, dass sich die Zeitung nicht beeinflussen lässt – weder politisch noch wirtschaftlich. Dafür muss der Chefredakteur sorgen, indem er selbst unabhängig und vor allem stark ist. Eine Redaktion braucht einen starken Rücken – und den muss der Chefredakteur zeigen. Natürlich ist ein Zeitungsverlag ein Wirtschaftsunternehmen, aber eine starke Redaktion wie die der TA ist unabhängig. Das unterscheidet uns auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der zwar keine Finanzierungs-Sorgen hat, aber unter dem Einfluss der Politiker steht. Ein Chefredakteur muss die Glaubwürdigkeit der Zeitung sichern. Nur so sichert er ihren Bestand.

Eva Fehrenbacher: Und das tun Sie?

Dafür steht die gesamte Chefredaktion – und auch der Verlag. Alle, die Verantwortung bei uns tragen, wissen: Glaubwürdigkeit ist unser höchstes Gut; an ihr misst sich das Vertrauen der Leser. Es gibt etliche Umfragen, die zeigen: Unter allen Medien genießt die lokale Zeitung die höchste Glaubwürdigkeit – auch in der Internet-Generation. Diese Glaubwürdigkeit würden wir nie aufs Spiel setzen.Und glücklich sind wir erst, wenn wir wissen, dass uns viele Menschen intensiv lesen. Daran arbeiten wir.

Eva Fehrenbacher: Was wollen Sie verändern?

Zuerst will ich nichts verändern, sondern das hohe Niveau, das die TA hat, stärken. Aber es gibt kein Niveau, das wir nicht noch steigern können.

Eva Fehrenbacher: Wie wollen Sie das Niveau steigern?

Wir müssen noch näher an die Bürger ran. Viele Erfurter identifizieren sich mit ihren Stadtteilen, das habe ich schon nach wenigen Wochen Aufenthalt hier erlebt. Diese Verbundenheit mit dem unmittelbaren Lebensumfeld müssen die Leser auch in der Zeitung wiederfinden.

Leser Dieter Sickel: Unter Ihrer Regie ist im Erfurter Lokalteil die wunderschöne Kolumne entstanden, die mich jeden Tag erfreut: „Anja auf Achse“. Die Redakteurin ist in der Stadt unterwegs, sieht Sachen, die wir nicht mehr sehen, hat offene Augen und öffnet sie uns, die blind sind.

Diese Kolumne haben wir ins Leben gerufen, weil wir bei der Lese-Untersuchung merkten, dass die Erfurter bei uns etwas vermissen, was wir Stadtgefühl nennen. Also haben wir uns – und das heißt: alle Lokalredakteure, wirklich alle – geschworen: Wir zwingen uns, noch mehr draußen zu sein und weniger am Telefon zu hängen; wir wollen entdecken. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. Wir sind, wenn Sie es so wollen, die Augen und die Ohren unserer Leser.

Leserin Marga Kellner: Aber alles sehen und hören Sie auch nicht. Ich würde zum Beispiel gern mal lesen, was das für Menschen sind, die uns als Polizistinnen und Polizisten jeden Tag Schutz geben – die manchmal angespuckt werden und beleidigt. Was machen die? Haben die Kinder? Ich möchte mal die Menschen hinter ihrer Uniform entdecken.

Das ist eine fantastische Anregung, die ich gerne aufgreife. Allerdings ist die Polizei, besonders in den oberen Etagen, sehr zurückhaltend, um es freundlich auszudrücken. Da kollidiert das Dienstrecht oft mit journalistischer Neugier und dem Informationsbedürfnis unserer Leser.
Gleichwohl genießt die Polizei ein hohes Ansehen. Also – wir greifen Ihre Anregung auf.

Leser Egbert König: Wir siedeln in Thüringen immer mehr Firmen an wie Zalando und andere, die viele Arbeitsplätze mit Niedriglöhnen anbieten. Können Sie nicht dafür sorgen, dass unsere Politiker mehr produzierendes Gewerbe zu uns holen?

Da überfordern Sie uns. Für Arbeitsplätze können wir nicht sorgen, und wir können keinen Unternehmer zwingen, nach Erfurt zu kommen. Aber wir können die Entwicklung kritisch begleiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich habe den Eindruck, dass sich die Erfurter Politik nur halbherzig um das Bahnhofsviertel kümmert.

Die Bahn baut hier den größten Knoten Deutschlands, die Gleise 9 und 10 sind fertig. Aber die Politiker scheinen zu zögern, wenn es darum geht, das Gebiet drumherum aufzuwerten. Ich möchte dafür sorgen, dass wir diesen Politikern gegenüber noch kritischer sind – angefangen beim Oberbürgermeister. Ihm muss es Herzenssache sein, ein so wichtiges Stadtviertel für Firmen und qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv zu machen.

Egbert König: Das ist gut, wenn Sie die Politik mehr in die Pflicht nehmen.

Aber wir müssen auch fair bleiben. Was glauben Sie: Welches Bundesland hat – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – die meisten Industriebetriebe in Deutschland?

Alle: Baden-Württemberg? Hessen?

Nein, Thüringen. Wir haben viele kleine und hochproduktive Firmen, nicht wenige sind Marktführer in Europa, drei Dutzend sogar in der Welt. Zudem haben wir, zumindest in Erfurt, eine der besten Industrie- und Handelskammern in Deutschland.

Egbert König: Von den kleinen feinen Unternehmen lesen wir aber wenig in der TA.

Diese Kritik nehme ich sehr ernst, und ich werde dafür sorgen, dass gerade im Lokalteil die kleinen Firmen eine wichtigere Rolle spielen. Schließlich verdienen sehr viele Menschen hier ihren Lebensunterhalt.

*

Thüringer Allgemeine „Domplatz 1“, 12. April 2014

Verfassungsgericht geht nicht weit genug: Alle Politiker müssen raus aus den ZDF- und ARD-Gremien

Geschrieben am 26. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Staat darf sich die Medien nicht zur Beute machen. Er darf weder in die Redaktionen des MDR hineinregieren noch in die Redaktion einer Zeitung. So bestimmt es unsere Verfassung. In Artikel 5 reichen fünf Wörter aus, um die Pressefreiheit zu garantieren: „Eine Zensur findet nicht statt.“

„Zensur“ bedeutet in unserer Verfassung: Der Staat darf vorab weder kontrollieren noch bestimmen, was der MDR senden will und die TA drucken. Diese Freiheit gab es – beispielsweise – nicht für Redaktionen in der DDR. Das Zentralkomitee der Partei rief jeden Tag in den großen Redaktionen an und bestimmte, was berichtet wird, wie berichtet wird und welche Sätze in den Kommentaren zu stehen hatten.

Ansagen gab es auch für die Lokalredaktionen. „Meine Meinung kommt um zwei Uhr aus Berlin!“, witzelten die Redakteure, die bisweilen kuriose Anweisungen zu befolgen hatten wie „Keine Rezepte mit Haselnuss vor Weihnachten veröffentlichen!“ Hintergrund war ein Versorgungs-Engpass.

Bei einer Zeitungsredaktion rufen gerne auch Minister und andere Politiker an, manchmal erregt, manchmal fordernd; andere rufen nie an, verweigern jede Auskunft und zeigen so ihre Missbilligung einer freien Presse, die sie gerne ein bisschen unfreier hätten. Poltern wie schweigen – alles bleibt wirkungslos.

Das ist bei Rundfunk und Fernsehen anders: Politiker üben einen starken Einfluss aus. Wenn der Regierungssprecher zu einer Reise mit der Ministerpräsidentin einlädt und eine Absage bekommt, dann rutscht ihm schon mal ein Satz raus wie: „Das ist nicht schlimm. Wir nehmen ja den MDR mit.“

Nun arbeiten in TV- wie in Zeitungsredaktionen selbstbewusste Journalisten, die auf Unabhängigkeit großen Wert legen. Aber sie haben es bei ARD und ZDF schwerer: Dort sitzen Politiker in Gremien, die sie und ihre Arbeit kontrollieren.

Der Anruf eines Ministers oder der wöchentliche Telefon-Termin mit der Staatskanzlei hinterlässt schon tiefe Spuren: Bei politischen Berichten sitzt schnell die Unsicherheit im Nacken, manchmal schon die Angst.

Das Verfassungsgericht hat die Nöte der Redakteure und die Gefahr für die Demokratie erkannt. Es begrenzt den Einfluss der Politiker. Ob das reicht?

Einem Verfassungsrichter geht die Entscheidung nicht weit genug: Er will die Politiker komplett verbannen. Er hat Recht – auch mit der Befürchtung: Das Versprechen eines staatsfernen Fernsehen bleibt weiter unerfüllt.

(erweiterte Fassung eines Leitartikels der Thüringer Allgemeine, 27. März 2014)

FACEBOOK von Thomas Platt (27.43.):

Dass es in einem freien Land Staatsfernsehen gibt – noch dazu in schockierendem Ausmass -, das ist der Skandal.

Müssen sich Journalisten bei Wulff und ihren Lesern entschuldigen? Nein – warum auch

Geschrieben am 28. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Denken Journalisten nie über sich  und ihre Ethik nach? Machen sie sich nur her über andere, vor allem Mächtige und Möchtegern-Mächtige, haben keine Regeln und sind unfähig zur Selbstkritik?

Der Tag nach dem Wulff-Freispruch ist der große Tag der Hohepriester in unserer Zunft, die ihren  Zeigefinger in die Höhe recken. Günther von Lojewski, Ex-Intendant des SFB,  schreibt in der FAZ über „Wir Journalisten“:

Es ist wohl an der Zeit, dass wir, wir Journalisten, die wir so gern alles (besser) wissen und jeden kritisieren, einmal uns selbst zum Gegenstand öffentlichen Diskurses machen, unsere Standards, unser Ethos und unser Verhältnis zu Freiheit und Macht.

Das Büßergewand steht uns nicht, ist heuchlerisch. Wir haben Standards: Der Pressekodex regelt, wie wir mit unserer Macht umzugehen haben; er sanktioniert jeden, der dagegen verstößt; er regt immer wieder Debatten an über Persönlichkeitsrechte, Schleichwerbung, Vorverurteilung, Diskriminierung von Ausländern usw. 

> Frage an den (Besser-) Wisser von Lojewski: Gegen welche Regel im Pressekodex haben Journalisten in der Wulff-Affäre verstoßen? Wenn es solche Regelverletzung gegeben hat: Haben Sie Beschwerde eingelegt?

> Zweite Frage: Debattieren Journalisten nicht unentwegt über ihre Profession? Gibt es irgendeine Akademie, die Journalismus und seine Ethik nicht mindestens einmal im Jahr zum Thema macht? Diskutieren – beispielsweise – nicht Lokaljournalisten mehrmals im Jahr in einwöchigen Modellseminaren  über ihre Profession (organisiert vom Lokaljournalistenprogramm)? Etablieren nicht immer mehr deutsche Zeitungen einen Ombudsmann, der sich um Fragen und Beschwerden von Lesern kümmert? Ist es nicht eher ein Problem, dass sich die Öffentlichkeit kaum oder gar nicht für unsere Debatten interessiert?

> Dritte Frage: Klärt nicht unser Grundgesetz das Verhältnis der Presse zu Freiheit und Macht? Hat nicht unser Verfassungsgericht klar bestimmt, wie wertvoll die Presse ist in der Kontrolle der Macht? Wollen Sie Artikel 5 ändern? Korrigieren? Einen staatlichen Presserat einrichten?  (Keine Sorge: Es geht nicht.)

> Vierte Frage: Gehört die Kontrolle der Mächtigen nicht zu unseren wichtigsten Aufgabe? In Ihrer Aufzählung der „Grundregeln“ kommt sie nicht vor – aus Versehen?

Schauen wir uns Lojewskis Grundregeln an, die angeblich alle in der Wulff-Affäre von „zahllosen Journalisten“ verletzt wurden:

1. Fakten vor Gerüchten. Das einzige schwerwiegende Gerücht, an das ich mich erinnere, betraf die Vergangenheit der Ehefrau; aber das hat Wulff selber im TV-Interview thematisiert. Journalisten in Niedersachsen war das Gerücht schon lange bekannt; keiner hat es öffentlich gemacht.

War nicht das Problem, dass zu viele Fakten über Wulffs Leben bekannt wurden und vor allem über sein Verhältnis zum Geld?  Fragen konnte man sich in der Tat, ob manche Fakten eine öffentliche Diskussion wert waren.

Übrigens hatte der Bundespräsident ein gestörteres Verhältnis zu Fakten als Journalisten. Wenn wir Halbwahrheiten als Gerücht klassifizieren, dann war darin Wulff der Meister.

2. Sorgfalt vor Schnelligkeit.  Da hätte ich gerne Beispiele. Schauen Sie sich den Fragekatalog der Journalisten an, im Internet  zu lesen: Sie haben in der Regel auf Wulffs Antworten gewartet. Das Problem war bisweilen die Dumpfheit der Fragen, um nicht von Dummheit zu schreiben, aber nicht die Geduld und die Sorgfalt der Journalisten. Das Problem waren die Antworten Wulffs. 

3. Nachricht vor Meinung. Die Regel ist unsinnig: Ein guter Journalist trennt deutlich Nachricht und Meinung, aber er bietet beides an.

4. Unparteilichkeit vor Vorurteil. Die Regel verstehe ich nicht. Ein Journalist ist unparteilich in der Recherche und parteilich im Kommentar. Was das mit Vorurteilen zu tun hat, erschließt sich nicht.

Ob sich wohl ein einziger Journalist öffentlich entschuldigen wird, bei ihm (Wulff) und bei seinem Publikum?

fragt Günther von Lojewski. Ist in Hannover ein Prozess gegen Journalisten geführt worden? Oder hat die Staatsgewalt einen Prozess gegen den Bundespräsidenten vorangetrieben? Und eine andere Staatsgewalt ihn freigesprochen?

Ich fand es unsinnig, dass gegen Wulff ermittelt wurde. Ich finde es meist unsinnig, wenn sich Staatsanwälte in das politische Geschäft einmischen; Politik gehört in Parlamente und in Untersuchungsausschüsse und nicht in Gerichtssäle. Ich finde es richtig, ja notwendig, wenn Journalisten die Mächtigen kontrollieren, auch den Bundespräsidenten. Wir schaden der Demokratie, wenn wir es nicht tun.

Ich entschuldige mich nicht.

Feuilleton schlägt Politik beim Wettstreit um den längsten Satz des Jahres (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Warum schreiben Politiker lange unverständliche Sätze? Tragen Sie eine Meisterschaft aus: Wer schafft den längsten Satz? Schauen wir uns den Wettkampf an: Wer ist Deutscher Satzlängen-Meister 2103?

Im Wahlkampf gaben sich die Politiker, die ihre Wahlprogramme schrieben, viel Mühe, lang und unverständlich zu formulieren – doch reichte es nur für die Bronze-Medaille: 71 Wörter.

Mehr Mühe gaben sich die unbekannten Autoren, die „Geisterschreiber“ des Koalitionsvertrags: Die Silbermedaille für 87 Wörter in einem Satz plus eine Zahl.

Sobald der Aufbau eines europäischen Abwicklungsmechanismus beschlossen ist, kann, nachdem der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung getroffen und die EZB die Aufsicht operativ übernommen hat, als Zwischenlösung ein neues Instrument zur direkten Bankenrekapitalisierung auf Basis der bestehenden ESM-Regelungen mit einem maximalen Volumen von 60 Mrd. Euro und insbesondere mit der entsprechenden Konditionalität und als letztes Instrument einer Haftungskaskade in Frage kommen, wobei sichergestellt ist, dass vorher alle anderen vorrangigen Mittel ausgeschöpft worden sind und ein indirektes ESM-Bankenprogramm mit Blick auf die Schuldentragfähigkeit des Staates ausgeschlossen ist.

Nur – was ist ein Politiker gegen einen Journalisten, einen Theaterkritiker? Nichts, wenn es um die Satzlänge geht. Gerhard Stadelmaier brachte es auf 208 Wörter: Das ist der deutsche Rekord 2013, schon einmal gewürdigt in diesem Blog:

Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).

Im neuen Jahr entdeckt Gerhard Stadelmaier im FAZ-Feuilleton wieder den Reiz und die Kraft der kurzen Sätze, in denen wir kurze Wörter finden voll emotionaler Wucht – wie in der Kritik einer Luc-Bondy-Inszenierung in Paris:

„Die Sterne funkeln im Theaterhimmel. Jetzt beginnt ihr wahrer Traum: die Geschichte, die aus den beiden Schmetterlingen wird. Ein Nachtstück? Eine Eintagsfliegenaffäre? Eine Ehe? Eine Katastrophe? Eine Seligkeit? Alles ist möglich. Nichts ist ausgeschlossen. Aber so, wie es jetzt gerade ist, ist es das pure Glück. Mehr muss auch nicht sein. Ovationen.“

Wir staunen: Ja, kurz ist in der Regel besser! Also – ein Kompliment für den Kritiker. Wäre da nur nicht die „Eintagsfliegenaffäre.

Erweiterte Fassung eines „Friedhof der Wörter“ in Thüringer Allgemeine 27. Januar 2014

„Nichtverständlichkeitserlass“ für Autoren des Koalitionsvertrags

Geschrieben am 19. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Wenn es um „solide Finanzen“ geht, wird bei unserer Regierung die Sprache unsolide. Da wimmelt es im Koalitionsvertrag von Wörtern, die auf einer Eil-Beerdigung zu Grabe getragen werden sollten.

Wörter türmen sich zu Ungetümen auf: „Schnellreaktionsmechnismus“ oder „Nichtanwendungserlasse“ oder ein Wort wie „OECD-BEPS (Base Erosion and Profit Shifting)-Initiative“, das selbst Fachleute ins Grübeln verschlägt. So ließe sich ein Vorrat an Unwörtern sammeln für viele Jahre.

Das Argument, Spezialbegriffe müssen nur Experten verstehen, zählt nicht: Ein Koalitionsvertrag bestimmt das Leben aller Bürger auf Jahre hinaus – und muss von allen und nicht von wenigen verstanden werden. So ist das in einer Demokratie.

Ein „BEPS“ interessiert jeden: Warum hat es ein mittelständischer Betrieb im Thüringer Wald so schwer, auf dem Weltmarkt mit großen Konzernen mitzuhalten? Die Großen bringen ihre Gewinne, ganz legal, in Staaten mit niedrigen Steuern, etwa auf die britischen Jungferninseln. Dies Urlaubsparadies in der Karibik hat so viele Einwohner wie Mühlhausen, ist aber in China der zweitgrößte Investor aller Staaten.

Der mittelständische Unternehmer, der beispielsweise Kurbelwellen herstellt, will faire Bedingungen und nicht immer verlieren gegen einen Konzern, der in seiner Steuerabteilung mehr Angestellte beschäftigt als der Mittelständler in seiner Produktion. Was die Regierung dagegen tun will, interessiert den Chef ebenso wie seine Arbeiter. Also muss ein politisches Programm für alle verständlich sein.

Offenbar gab es einen Nichtverständlichkeitserlass für die Autoren, die den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Ein Kapitel, wie Politik verständlich werden kann, fehlt im Vertrag. Ob es Absicht ist?

Thüringer Allgemeine 20. Januar 2014 (Friedhof der Wörter)

BILD wird zur APO: Was Journalismus in einer Großen Koalition leisten muss

Geschrieben am 17. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Bild als APOMan kann die Nase rümpfen, sich abwenden – weil die Bildzeitung es macht. Aber das Boulevard-Blatt zeigt heute auf der Titelseite, wer immer die wahre Opposition in der Republik ist – und erst recht in einer Großen Koalition, in der es praktisch keine Opposition im Parlament mehr gibt: Die Journalisten.

Eine Demokratie funktioniert durch eine Kontrolle, die den Namen verdient – denn Macht neigt dazu, sich selbst zu begnügen, immer mehr Macht zu sammeln und Kritiker abzuwehren. Diese Kontrolle üben Journalisten aus in  unabhängigen Zeitungen und Magazinen.

Überhöhen wir uns nicht? Werden wir nicht übermütig mit Bild an der Spitze?

Nein! Erinnert sei an das Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts:

In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung.

Richten wir uns darauf ein, zwischen den Stühlen zu stehen – ungemütlich, aber mächtiger als die Mini-Opposition im Bundestag!

**

Ausführlicher Auszug aus dem Spiegel-Urteil von 1966 in der neuen Auflage des Neuen Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus im Kapitel 4 (Seite 21)

Die große Einschüchterungs-Koalition startet: Parteichef protestiert wegen kritischer Interview-Fragen

Geschrieben am 30. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Auf ARD und ZDF kommen schwere Zeiten zu. In der großen Koalition wird die Zahl der Beschwerden beim Intendanten deutlich anwachsen; sogar die CSU wird die SPD vor bissigen Kommentaren und unbotmäßigen Interviewern schützen wollen ebenso wie die SPD die CDU usw.

Einen Vorgeschmack gibt es schon vor der Regierungsbildung: CSU-Chef Seehofer hat – nach eigenen Angaben – einen Brief an den ZDF-Intendanten geschrieben, weil die Heute-Moderatorin Marietta Slomka drei Minuten lang kritische Fragen gestellt hatte an SPD-Chef Gabriel; dieser antwortete mit „Blödsinn“, „Quatsch beenden“ und fiel der Moderatorin mehrfach ins Wort.

Zur Ehrenrettung von Gabriel ist anzufügen: Er beschwert sich offenbar nicht, sondern sagte Bild:

Frau Slomka hat mich sozusagen mit verstärkter Höflichkeit befragt, und das darf sie auch. Und ich habe mit verstärkter Höflichkeit geantwortet.

Quelle: Bild 30.11.2013

Facebook-Kommentar von Martin K. Burghartz:

Beschwerden beim Intendanten geht gar nicht. Slomka allerdings nur scheininvestigativ. Eigentlich ne Null schon immer. Das Prinzip. Eine Frage auswendig lernen und unabhängig von der Antwort so lange stellen, bis der Befragte austickt.

Dieter Hildebrandt, Journalisten und schmusende Politiker

Geschrieben am 21. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Politiker schmusen uns zu.

Mit einem Ohr habe ich dies Zitat von Dieter Hildebrandt gehört in einem der vielen Rundfunksender, die heute dem verstorbenen Kabarettisten nachrufen. Der Spötter aus München hatte sich, als sein Spott nicht mehr zu überhören war, der Umarmung der Politiker erwehren müssen; bei der SPD ist er ihr nicht selten erlegen. Heute loben ihn alle, vor allem die, die seinen Spott zu Lebzeiten kaum oder gar nicht ertragen konnten.

Journalisten geht es im Umgang mit Politikern ähnlich: Umarmung ist die perfekte Form der Bestechung. Es fällt einem Redakteur schwer, einem Oberbürgermeister beim Hummercocktal den Wunsch abzuschlagen, noch nicht über ein Großprojekt zu berichten. Gerade im Lokalen ist die Balance zwischen Distanz und Nähe schwer zu halten.

Erfolgreiche Bezahlschranke, aber weniger tiefe Recherche

Geschrieben am 28. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue.

„Wir zahlen nichts“, sagten die Leser der Online-Seiten von Haaretz. „Sie haben gelogen“, sagt Lior Kodner, der Online-Chef der israelischen Zeitung. In einem Land, in dem es mehr Smartphones gibt als Bürger, scheint es zu gelingen: Die Online-Leser zahlen für guten Journalismus.

Es gibt keine eigene Online-Redaktion. Die dreihundert Redakteure sitzen in einem Newsroom, schreiben für die gedruckte Zeitung wie für Online – auch wenn das viele noch üben müssen. Nach dem Wochenende sitzen die Redakteure in der Sonntags-Konferenz zusammen und sprechen über die am meisten gelesenen Artikel der Online-Seiten der vergangenen Woche und des Sabbats.

Was alle noch verstehen müssen: „Wie schreiben wir eine Geschichte in der digitalen Welt?“ Dazu gehören, so Lior Kodner, auch Töne – wenn beispielsweise eine Lokomotive in der Story vorkommt – oder auch kleine Filme. So weit wie Haaretz ist offenbar noch keine große Zeitung in Israel. Der Markt für hebräische Online-Seiten ist auch klein: Gerade mal sieben Millionen potentielle Nutzer in Israel; zwei Millionen davon gehen im Monat auf die Haaretz-Seiten. Weil die Konflikte in Israel und den Nahen Ost auch außerhalb von Israel interessieren, bietet Haaretz nicht nur eine gedruckte Ausgabe in englischer Sprache an, sondern auch eine englische Online-Version, die – je nach Konfliktlage – zwischen zwei und drei Millionen Leser anzieht.

Haaretz musste experimentieren und online gehen, weil die Einnahmen immer mehr zurückgehen – wie nahezu überall in der westlichen Welt. Doch der Journalismus verliert Kraft, „power“, beobachtet Hanoch Marmori, der zehn Jahre lang Chefredakteur von Haaretz war: Weniger investigative Recherche, weniger Bohren in der Tiefe. Der Grund? Die Redakteure wollen das Management nicht aufschrecken, sie wollen keine Risiken eingehen und schauen zu, nur noch Geschichten zu bringen, die die Leute lesen wollen.

Nur auf die Online-Liste der meistgelesenen Artikel zu schauen, sei falsch, meint der Online-Chef Lior Kodner. Man dürfe die gedruckte Zeitung nicht allein nach den Einschaltquoten von Online ausrichten. Man solle sie zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen, aber die Zeitung habe schon ein eigenes Gewicht.

Arabische Journalisten schreiben kaum für die israelische Zeitung. Das beklagt auch der frühere Chefredakteur: Es gibt einen arabischen Kolumnisten, der sehr populär ist, aber sonst keine, auch nicht in den anderen Zeitungen. „Sie wollen nicht“, sagt Hanoch Marmari, und fügt leise an: „Vielleicht schaffen sie es auch nicht.“

Die Israelis scheinen Journalismus bei der Armee zu lernen, guten, unabhängigen Journalismus, wie fast alle versichern. „Die Armee ist die einzige wichtige Journalismus-Schule“, sagt Marmari, und alle nicken, weil auch alle drei Jahre in der Armee dienen (Frauen zwei Jahre) und jedes Jahr zu Reserve-Übungen eingezogen werden: Die Armee als Schule der Nation.

Quelle:
Diskussion am 27. Oktober 2013 im „Israel Democracy Institute“, zusammen mit der Adenauer-Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung (anläßlich von 50 Jahre Israel-Reisen
#bpb50israel)

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