Alle Artikel mit dem Schlagwort " Kontrolle der Mächtigen"

Ein TV-Interview – als abschreckendes Beispiel für Volontäre: Ramelow und die Eier

Geschrieben am 4. Februar 2015 von Paul-Josef Raue.

Herzlich Willkommen in der Serie „Thüringens Minister“ und heute heißt es Thüringer Ministerpräsident. Herzlich Willkommen Bodo Ramelow!

Heute früh musste ich intensiv an Sie denken, als ich ein Rührei gemacht habe. Ich schlug die Eierpackung auf und da war ein großes Ei drin. Das war fast doppelt so groß wie die anderen, und da habe ich mich ganz arg erschrocken und habe gedacht: Das kann ich jetzt nicht essen. Dann habe ich gedacht: Warum eigentlich nicht? Warum müssen wir denn genormt sein? Da habe ich es mutig aufgeschlagen, und da war die Doppelpower drin, nämlich zwei Eidotter. Da dachte ich, es ist ein bisschen wie Bodo Ramelow.

So beginnt ein Interview im Weimarer Lokalsender Salve TV: Geschäftsführerin Judith Noll hat Ministerpräsident Ramelow zu Gast. Jürgen Brautmeier, Vorsitzender der deutschen Medienanstalten, empfiehlt die Interviews des Senders in die Journalistenausbildung zu integrieren – als abschreckendes Beispiel für Hofberichterstattung statt Staatsferne.

Bei Salve TV kommt etwa in der zweiwöchentlichen Sendung „Ramelow & Co“ der Ministerpräsident ausführlich zu Wort. Brautmeier: „Die Öffentlichkeitsarbeit der Politik und der Parteien darf nicht vermischt werden mit der journalistischen Arbeit der unabhängigen Medien.“ So erweise man auch der Politik eher einen Bärendienst. Und bei den Zuschauern werde der Eindruck erweckt, Journalisten und Politiker würden miteinander kungeln. „Dabei haben Journalisten als vierte Gewalt die wichtige Aufgabe, Politik zu kontrollieren.“

Das Rühr-Ei-Interview nahm der Moderator Oliver Welke auch auszugsweise in seine Heute Show beim ZDF und kommentierte: „Ich habe schon viele verstörende Interview-Anfänge gesehen, aber das schlägt alles.“

„Sie wollen aber nicht sagen, dass Sie mich aufschlagen wollen?“ reagiert Bodo Ramelow auf den Rührei-Beginn der Journalistin. So geht das Interview weiter:

Noll: Ich will Sie auch nicht essen, und ich finde sie auch nicht Ihh, aber ich weiß, dass Sie sich mit Hühnern auskennen.
Ramelow: Ich bin gelernter Lebensmittelkaufmann und könnte jetzt anmerken, dass das, was sie in der Packung gefunden haben. nicht den Handelsklassen entsprochen hat, weil es kann immer nur in einer Handelsklassenpackung immer die gleiche Größe nur drin sein. Wenn müsste man eine Doppelhandelsklasse extra ausweisen, oder Sie haben bei einem Bauer gekauft, das wäre ja sehr lobenswert, auf dem Markt – und dann haben Sie von Freilandhühnern die Eier gekauft und dann hoffe ich, dass es auch besonders gut geschmeckt hat.
Noll: Auf jeden Fall habe ich jetzt die doppelte Portion Ei.

Ramelow erzählt von seiner Ausbildung bei Karstadt und scherzt mit der Moderatorin: „Sie erinnern sich gut an Dinge, die ich irgendwann mal erzählt habe aus meinem Leben – das war fahrlässig. Ich hätte Ihnen das nicht erzählen sollen.“ Daraufhin entgegnet die Moderatorin:

„Ich weiß auch, dass irgendwo eine Narbe an Ihrer Hand ist. Aber jetzt müssen wir aufpassen, sonst heißt es: Frau Noll kennt Herrn Ramelow… Aber wie das kommt, dass es inzwischen verwerflich ist, Sie zu kennen – ich darf mich auch noch erinnern an die Zeit, als Sie hier saßen und sagten: Ich will Ministerpräsident werden. Jetzt sind Sie Ministerpräsident, und für viele wird es immer schärfer.“

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Quelle: Thüringer Allgemeine 4 Februar 2015, Salve TV Mediathek, Heute Show, ZDF-Mediathek

Facebook Kommentare

von Joachim Widmann (4. Februar um 10:29)

Die offene Unterwürfigkeit und Kumpelei ist einerseits unerträglich, andererseits aber auch so etwas wie ein Transparenzhinweis. Die Interviewerin versucht ja nicht einmal, es Journalismus ähnlich sehen zu lassen. Dass gerade Regionalmedien sich in Interviews mit Spitzenpolitikern aus oder in ihrer Region als Stichwortgeber für Verlautbarungen verstehen oder sich mangels Recherche gewissermaßen versehentlich als solche verhalten, ist ja leider insgesamt keine Seltenheit.

Alexander Will, 4. Februar um 10:54

Ich bin fassungslos. Kein Wunder, dass die Leute Journalisten immer stärker als Speichellecker und Dummköpfe wahrnehmen. Man kann’s ihnen manchmal wirklich nicht verübeln…

Joachim Widmann 4. Februar um 10:57

Nein, Herr Will: Das ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Diese Frau repräsentiert nicht „die Journalisten“. Nicht einmal ohne „die“. Sie steht erst eimal nur für sich selbst und die eigene Unterwürfigkeit.

Alexander Will 4. Februar um 10:58

Leider eben in der Öffentlichkeit nicht. Das wird anders wahrgenommen. Es wird uns allen angekreidet, da kann man sich noch so sehr wehren…

Ramelow, Staatsfernsehen und die Kontrolle der Macht: Bestialisch (Leser fragen)

Geschrieben am 1. Februar 2015 von Paul-Josef Raue.

Der neue Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) hat im Weimarer Privat-Sender Salve TV eine Sendung, in der er seine Politik ohne lästige Fragen von Journalisten preisen kann. Die Sendung „Ramelow & Co“ wird gerade von Medienrechtlern scharf kritisiert als „Staatsfernsehen“. Leser der Thüringer Allgemeine sehen das anders, so schreibt ein Leser aus Apolda:

Mit mir fragen auch viele Leser, was die Hetzkampagne gegen Salve-TV und gegen den neuen Ministerpräsidenten Ramelow bezwecken soll. Soll eine wahrheitsgetreue hautnahe Darstellung der Tagesarbeit des Neuen an der Spitze Thüringens, die durchaus interessant ist, verhindert und er in seiner freien Meinungsäußerung beschnitten werden?

Und eine Leserin aus Erfurt stellt fest: „Das ist doch dann endlich mal nachvollziehbare Demokratie.“

Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“

Sie gehen beide davon aus, dass Politiker prinzipiell die Wahrheit sagen, uneigennützig sind und nicht ihre eigene Macht im Sinne haben, sondern stets das Wohl des Volkes. Man muss ihnen nur zuhören und schon kennen wir die Wahrheit und können Demokratie nachvollziehen.

Das wäre schön, aber die Erfahrung zeigt: Politiker mögen zwar über ein reines Herz verfügen, das allein die Wahrheit liebt, aber dennoch ist eine gute Kontrolle sinnvoll im Namen der Bürger und zum Nutzen der Demokratie.

Diese Kontrolle üben Medien aus – und nicht Politiker selber. So sieht es auch unsere Verfassung.

Jürgen Brautmeier ist ein unverdächtiger Zeuge. Er leitet die Direktorenkonferenz der Medienanstalten, also der Anstalten, die Rundfunk und Fernsehen in privater Hand zu kontrollieren haben. Er sagt: „Es gehört zu den Grundlagen unserer Verfassung, dass sich der Staat aus dem Rundfunk herauszuhalten hat. Deshalb wäre ich Ministerpräsident Ramelow dankbar, wenn er von sich aus seine Sendungsabsichten aufgibt. Alles andere wäre ein Tabubruch.“

Wenn ein Ministerpräsident kontrolliert wird, ist das weder eine Hetze noch eine Beschneidung seiner freien Meinungsäußerung. Er verfügt über eine eigene Abteilung, die seine Meinungen – oder auch Wahrheiten – der Welt mitteilt und den Presse-Stellen in den Ministerien Sprachregelungen verfügt wie etwa zu Salve-TV: „Der Vorwurf der staatlichen Einflussnahme ist nicht zutreffend.“

Wir alle sollten wachsam bleiben. Wer wachsam ist, sollte auch nicht der Hetze verdächtigt werden – auch nicht als „bestialisch“ eingeordnet, wie Salve-TV die Berichterstattung unserer Zeitung nannte. Wächter können irren, aber Bestien sind wir nicht.

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Thüringer Allgemeine 31. Januar 2015

Ramelow führt in Thüringen „Staatsfernsehen“ ein

Geschrieben am 17. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow sprach gestern erstmals im TV-Sender Salve, ohne dass Journalisten ihn mit Fragen stören konnten. „Ramelow & Co“, so der Serien-Titel, wird jede zweite Woche ausgestrahlt. Im Konzept des Weimarer Senders heißt es: Ramelow wird eigenständig vor der Kamera zusammenfassen und reflektieren. Dabei spricht er direkt in die Kamera.

Ramelow verwirklicht so, wovon Adenauer träumte: Ein Staatsfernsehen. Dem ersten Kanzler der Bundesrepublik hatte das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vorgeschoben. „Das ist wie Staatsfernsehen, das geht so nicht“, kritisiert in der Thüringer Allgemeine der SPD-Bundestagsabgeordnete Steffen Lemme, der auch der Versammlung der Thüringer Landesmedienanstalt vorsteht. Wenn Ramelow, so Lemme, ungestört zu den Thüringern sprechen wolle, „kann er sich auch gleich selbstständig machen mit einem eigenen Medienunternehmen“.

Trotz der Kritik, die aus allen politischen Lagern kommt, will Ramelow nicht von dem Auftritt abrücken, wie die Staatskanzlei mitteilt. Der Medienwissenschaftler Horst Röper aus Dortmund findet den Auftritt absurd und sagt der Thüringer Allgemeine:

Ich habe noch nie gehört, dass ein Ministerpräsident sich selbst kommentieren darf. Das ist unglaublich, das ist entsetzlich. Hier verabschieden wir uns vom Journalismus. Dass es so etwas geben könnte, hat vermutlich niemand geahnt.

Für den Salve-TV-Hauptgesellschafter Klaus-Dieter Böhm ist Ramelows Solo-Auftritt der Versuch, „Politik transparent zu machen“.

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Quelle: Thüringer Allgemeine 17.1.2015

Ramelow & Co: Leser beklagt eine „Angst- und Verunglimpfungs-Kampagne“

Geschrieben am 22. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt:

Ich bin kein Linker, ich bin ein SPD-Anhänger. Wie können Sie es zulassen, dass gegen Rot-Rot-Grün und Herrn Ramelow die Angst- und Verunglimpfungskampagne weitergeht?

Selten war eine Regierungsbildung so heftig diskutiert wird die Rot-Rot-Grüne in Thüringen, die seit Wochen Öffentlichkeit wie Zeitung umtreibt mit Debatten über den Unrechtsstaat DDR und die Last der Diktatur auf den Schultern der Gegenwart überhaupt. Aktueller Anlass für den Leser war ein Foto auf der Titelseite am Montag nach dem Mauerfall-Jubiläum: Es zeigt die Erfurter Domplatz-Demonstration, auf der sich viertausend Bürger mit Kerzen in den Händen gegen die rot-rot-grüne Koalition wandten. Der Leser wollte lieber über die Feiern zum Mauerfall-Jubiläum auf der Titelseite lesen und folgert: „Mit dieser eindeutig parteilastigen Berichterstattung machen Sie die TA zum Sprachblatt der CDU.“

In der Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Der Vorwurf der „Angstmache- und Verunglimpfungskampagne“ geht an die Ehre eines Journalisten – denn unser Ehrenkodex bestimmt: „Die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ Das bedeutet:

Wir schauen bei den Mächtigen genau hin, also auch bei denen, die zu den Mächtigen aufsteigen wollen – dabei interessiert uns keine Partei. Würden wir anders handeln, wären wir wirklich ein Parteiblatt. Wir geben allen eine faire demokratische Chance, wie Sie es fordern: Darum beobachten wir die Politiker, wenn möglich auf Schritt und Tritt. Das ist unsere Aufgabe.

Wir dürfen auch nicht wegschauen: Das Unterdrücken von Nachrichten missachtet das Recht der Leser, sich selber eine Meinung zu bilden. Ob eine Nachricht, eine Diskussion, eine Affäre oder ein Skandal einem Politiker oder einer Partei schadet oder nutzt, das entscheidet der Wähler. Wir liefern nur die Informationen und regen zur Meinungsbildung an.

Den Vorwurf, ein Parteiblatt von SPD oder Linken zu sein, bekamen wir in den vergangenen Jahren von der CDU und CDU-Wählern, als wir die Affären von Zimmermann bis Gnauck aufgedeckt und ausführlich berichtet hatten. Wir machen eben keine Affären, wir berichten über sie. Angst und Verleumdung ist nicht unser Geschäft.

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Thüringer Allgemeine 22. November 2014

Darf eine Zeitung das Bild eines rasenden Politikers drucken? Ramelows Blitzerfoto und Quietsche-Enten

Geschrieben am 15. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser der Thüringer Allgemeine fragt zum „Blitzerstreit des B.R.“, gemeint ist Bodo Ramelow, der erster Ministerpräsident der Linken in Deutschland werden will: „Der Abdruck des Blitzerfotos ist gesetzwidrig, er verletzt das hohe Gut des Persönlichkeitsrechtes – warum dazu kein Hinweis?“ Der Leser bezieht sich auf Berichte und Fotos, zuerst der Bildzeitung, über Bodo Ramelow, der zu schnell gefahren sein soll, wie ein Blitzerfoto beweise (was von ihm bestritten wird: Erst akzeptierte er den Bußgeldbescheid nicht, aber zahlte dann laut eigener Angabe doch, nachdem der Fall ans Amtsgericht weitergeleitet und öffentlich diskutiert worden war).

Auch die Thüringer Allgemeine und der FAZ berichteten ausführlich, FAZ und Bild sogar mit Angabe des Kennzeichens von Ramelows Wagen.

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ auf der Leserseite:

Es gibt in der Tat ein Recht am eigenen Bild. Doch gibt es auch eine Reihe von Ausnahmen – vor allem für Bürger, die gewählt sind als Vertreter des Volks, für Bürger, die berühmt sind und die sich in der Öffentlichkeit stolz präsentieren.

Blitzerfotos waren sogar Gegenstand einer Klage beim Bundesverfassungsgerichts, das entschied: Sie sind erlaubt, denn sie werden auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet und sind jedermann wahrnehmbar – und schließlich gehe es um die Sicherheit im Straßenverkehr, die eine Einschränkung der „grundrechtlichen Freiheiten“ erlaubt.

Vor allem Politiker, die von den Bürgern als Vorbild gesehen werden, müssen akzeptieren, dass sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Bodo Ramelow nennt dies in einer Facebook-Nachricht sinngemäß: Die Presse spiele mit Quietsche-Enten. Selbst eine Politikerin wie Heidi Simonis, die abgewählt war, musste ertragen, dass sie beim Einkaufen fotografiert wurde. Der Bundesgerichtshof entschied: Die Bürger dürfen erfahren, wie sich ein Politiker verhalte – gerade in spektakulären Situationen. Er könne sich “nicht ohne Weiteres der Berichterstattung unter Berufung auf seine Privatheit entziehen“.

Und dass sich Bodo Ramelow in einer spektakulären Situation befindet, dürfte selbst bei ihm unstrittig sein, wie sein persönliches Engagement in den sozialen Netzwerken beweist.

Zudem: Wen sollte ein Reporter nach der Zustimmung zur Veröffentlichung des Blitzerfotos fragen, wenn unklar ist, wer überhaupt auf dem Foto abgebildet ist?

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 15. November 2014 (hier erweitert)

Quellen: Bild 6.11. „Wird hier Thüringens neuer Landeschef geblitzt?“ und FAZ 7.11. von Claus Peter Müller „Zur Akteneinsicht gebracht“

Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure

Geschrieben am 7. November 2014 von Paul-Josef Raue.

„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:

Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.

Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.

Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.

Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.

Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.

Journalisten sind Teil des Systems

Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.

Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.

Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.

Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.

Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.

Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.

Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam

Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.

Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.

Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.

Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.

Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.

Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen

Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.

In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.

Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.

Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.

Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit

Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.

Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.

Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.

Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.

Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.

Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.

Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.

Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit

Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.

Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.

Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.

Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.

Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.

Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit

Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.

Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.

Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.

Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.

Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“

Thüringer Allgemeine, 3. November 2014

Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)

Die Zeitung der Zukunft, die Zukunft des Journalismus und der Wert des Lokalen – Ein Interview

Geschrieben am 2. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?, fragte mich Monika Lungmus vor dem Verbandstag des DJV in Weimar. Auf der Online-DJV-Seite ist die redigierte Fassung des Interviews zu lesen; hier die erweiterte Fassung.

Wie sehen Sie die Zukunft des Journalismus? Hat der Journalismus überhaupt noch eine Zukunft?

Paul-Josef Raue: Der Journalismus muss eine Zukunft haben. Denn eine Demokratie ohne gut recherchierenden, tiefgehenden Journalismus hat keine Chance. Wir reden hier nicht nur darüber, ob es weiterhin gedruckte Zeitungen geben wird.

Für eine Demokratie ist ein starker Journalismus unerlässlich. Das ist also auch eine Forderung an die Politiker. Sie müssen die Bedingungen erhalten, dass es einen Journalismus gibt, der die Mächtigen kontrollieren kann.

In der Branche wird ja bereits über Alternativen zur marktwirtschaftlichen Finanzierung des Journalismus diskutiert. Was halten Sie von der Diskussion?

Ich finde die Diskussion richtig, auch wenn ich glaube, dass die marktwirtschaftliche Konstruktion der Presse noch relativ lange, also in den nächsten zehn, zwanzig Jahren, Bestand haben wird. Ich sehe allerdings an den Rändern durchaus Probleme: Wir haben heute schon Landkreise, in denen sich eine Zeitung nicht mehr finanzieren kann. Hier funktioniert also die Kontrolle der Politiker nicht mehr ausreichend, obwohl gerade im Lokalen ein starker Journalismus notwendig ist.

Welche Förderung könnten Sie sich hier vorstellen?

Ich könnte mir auch private Initiativen vorstellen, sei es in Form von Stiftungen, von Vereinen oder mit Recherche-Stipendien von großen Organisationen; ich denke auch an vorbildliche Projekte wie „Zeitungszeit“ in Nordrhein-Westfalen, wo Land und Verlage gemeinsam Schüler an die Zeitung heranführen. Man müsste auch schauen, was andere europäische Staaten an Presseförderung betreiben.

Ich bin aber überzeugt, dass private Initiativen allein nicht reichen. Auch die Verlage haben die Möglichkeiten, die alte wie neue Medien bieten, noch lange nicht ausgereizt. Verleger, Manager und wir Redakteure müssen Konzepte entwickeln, wie wir den Inhalt – gerade im Lokalen und Regionalen – am besten an die Bürger und auch an verschiedene Zielgruppen bringen.

Mit dem lokalen und regionalen Inhalt haben wir einen kostbaren Schatz, den selbst Google und andere Mega-Digitalen nicht besitzen. Wir müssen viel intensiver über die Bedürfnisse der Menschen forschen: Was wollt ihr lesen – wann und in welcher Form?

Wir machen uns in Leitartikeln lustig etwa über die Bahn, wenn sie ihre Kunden nicht zufrieden stellt. Kennen Sie Verlage, die regelmäßig die Zufriedenheit der Leser ermittelt? Das ist auch ein Appell an Manager, denen mehr einfallen will als Sparen, aber auch an uns Journalisten: Wie sehen wir denn die Zukunft? Zudem ist es endgültig Zeit, die Mauer zwischen Verlag und Redaktionen einzureißen.

Wenn Sie mal aufs Handwerk schauen: Wie können und müssen sich Journalisten heute für die Zukunft aufstellen? Was erwarten Sie von künftigen Journalisten?

Das Bewusstsein für Qualität ist bei den Lesern enorm gestiegen. Der normale Leser ist nicht mehr abzuspeisen mit einer 0815-Berichterstattung.

Ganz vorne muss stehen, dass Journalisten wieder öfter zur Recherche kommen. Das ist nicht nur Sache des Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung. Weit ins Lokale hinein müssen wir wieder tiefer und besser recherchieren und dafür auch die neuen Möglichkeiten des Datenjournalismus nutzen.

Was wäre für Sie noch wichtig?

Als ich Journalismus gelernt habe, mussten wir uns keine Gedanken machen, wie sich der Journalismus finanziert. Das ist heute anders. Die neue Journalisten-Generation, aber auch die der Älteren, muss über Geschäfts-Modelle nachdenken. Wir nutzen noch lange nicht unsere Möglichkeiten, wenn ich zum Beispiel an regionale Magazine denke, an Bücher, an Zielgruppen-Newsletter und vieles mehr.

Wir müssen die Strukturen aufbrechen: Muss die Zeitung immer und überall jeden Tag erscheinen? Oder zusätzlich am Sonntag? Wie können wir gezielt ganz bestimmte Zielgruppen erreichen? Das heißt: Wir müssen unser Spektrum an Möglichkeiten, wie wir unseren Inhalt ans Publikum bringen, deutlich erweitern.

Kommen wir zur Funke-Gruppe, zu der Ihre Zeitung gehört. Hier wird derzeit darüber diskutiert, ob alle zur Gruppe gehörigen Titel ihren Mantel künftig aus Essen erhalten sollen. Was halten sie von der Idee?

Wir führen unter den Chefredakteuren derzeit die Debatte, was wir zentralisieren können – um sowohl den Lesern mehr Qualität bieten als auch Redakteure wie Geld effektiv einsetzen zu können (zum Beispiel in die digitale Zukunft, die viel Geld fordert aber noch wenig einbringt). Die Konzern-Führung hat diese Aufgabe in die Redaktionen gegeben: Das ist der richtige Weg. Verlage, die es von oben verordnet haben, sind gescheitert, zu Recht.

Für unsere drei Zeitungen in Thüringen ist ein zentraler Mantel beispielsweise kein Thema. Wir haben gar keinen Mantel mehr im alten Sinne. Wir schreiben in unserer Thüringer Allgemeine von der ersten bis zur letzten Seite weitgehend aus der Perspektive der Leser. Wir haben nicht mehr den typischen Politikteil, den typischen Wirtschaftsteil – das ist bei uns alles sehr stark auf Thüringen bezogen, eben auf den Alltag und das Leben unserer Leser

Wir können in Erfurt, Weimar und Gera, wir können im Osten keinen Mantel aus Essen anbieten. Wir haben auch gar keinen Platz für einen fremden Mantel. Wir bieten unseren Lesern – und in erster Linie nicht aus Spargründen – eine relativ schmale Zeitung an, meist 24 oder 28 Seiten. Wir haben von unseren Lesern gelernt: Sie wollen eine Zeitung, die übersichtlich ist und ihnen das Wesentliche in hoher Qualität bietet, das sie in ihrer knappen Zeit bewältigen können. Sie wollen nicht suchen und blättern, sie wollen lesen.

Wir haben alles rausgeworfen, was aus Sicht der Leser nicht zur Kernkompetenz gehört. Wir verzichten etwa auf eine endlose Tagesschau-Wiederholung und komprimieren sie auf eine Seite.

Das Herz der Regionalzeitung ist das Lokale. Und dennoch wird hier vielfach gespart. Sie kennen dies selbst. Ihre Redaktion arbeitet ja im Lokalen – zum Beispiel in Weimar – mit der Thüringischen Landeszeitung zusammen. Wie passt das zusammen?

Zunächst: Unsere Lokalredaktionen sind nicht kleiner geworden. Wir haben im Lokalen denselben Personalstamm wie vor fünf Jahren, als ich in Erfurt angefangen habe.

Kleiner geworden ist die Zentralredaktion, so dass wir den Personalstamm in den Lokalredaktionen zusammen mit dem Thüringen-Desk halten konnten. Gleichwohl machen die Reporter in der Zentrale einen großartigen Job, holten vier Jahre hintereinander einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise, darunter einmal den ersten für die exzellent recherchierte Treuhand-Serie; eine Reihe anderer renommierter Preise kam hinzu, auch für unsere Lokalredaktionen. Ich übertreibe also nicht, wenn ich die TA-Redaktion zu einer der besten in Deutschland zähle.

Zur Thüringischen Landeszeitung (TLZ), unserer Konkurrenz: Sie erscheint sowohl im Verbreitungsgebiet der Thüringer Allgemeinen(TA) als auch in dem der Ostthüringer Zeitung (OTZ). Die TLZ, eine frühere Zeitung der LDPD, ist eine relativ kleine Zeitung, aber sie hat eine große Bedeutung. Denn sie versammelt alle Leser, die kein früheres SED-Organ lesen möchten. Die Unterscheidung zur TA und OTZ spielt sich heute hauptsächlich in der Kommentierung von Thüringer und überregionalen Themen ab. Hier hat die TLZ eine klare eigene Positionierung.

Im Lokalen, das haben wir von den Lesern erfahren, können wir gut zusammenarbeiten. Die Redaktionen sprechen sich bei normalen Terminen wie Pressekonferenzen ab, wer was macht. Das betrifft zum Beispiel nicht unbedingt die Stadtratssitzungen, da behält jeder Titel sein eigenes Profil. Die Kooperation soll also dazu dienen, die Qualität im Lokalen zu erhalten.

Anfang der 90er Jahre erschienen in Thüringen noch 24 Tageszeitungen bei 2,5 Millionen Einwohnern, heute gibt es nur noch sechs Titel: Drei gehören zur Funke-Mediengruppe, drei zur Südwestdeutschen Medienholding. Was bedeutet diese eingebüßte Pressevielfalt für den Journalismus in Thüringen?

Das war in den Revolutions-Wirren eine besondere historische Situation. Ich habe ja selbst seinerzeit eine Zeitung gegründet: die Eisenacher Presse. Das war in jeder Hinsicht Wahnsinn – und in dieser Zeit richtig und wichtig.

Aber es war auch klar, dass das so nicht auf die Dauer funktionieren würde. Das bekommt man gar nicht finanziert: 24 Zeitungen,davon allein 7 in Eisenach, einer Stadt mit 50.000 Einwohnern! Ich halte heute sechs Zeitungen in einem Bundesland mit 2,2 Millionen Einwohnern für viel.

Die drei Titel unserer Funke-Gruppe arbeiten eigenständig. Jeder von uns freut sich, wenn er einen eigenen Coup gelandet hat. Natürlich kämpfen wir nicht so sehr gegeneinander. Wir kämpfen aber um das Interesse und die Zeit der Leser. Das ist das Entscheidende.

Und wenn jemand mit meiner Zeitung unzufrieden ist, dann geht er zur TLZ – oder umgekehrt. Er geht aber nicht in die Nicht-Leserschaft. Das ist der Vorteil unserer Konstruktion.

Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?

Ich würde mir eine Redaktion zusammenstellen, in der Recherche an erster Stelle steht. Ich würde mir junge Leute holen, die diesen „embedded journalism“, also die Nähe zu den Honoratioren, überhaupt nicht kennen.

Dann würde ich Mitarbeiter engagieren, die mit Daten umgehen können, die sich bestens mit der Technik auskennen.

Als Drittes wäre mir Verständlichkeit wichtig; die Leser müssen unsere Texte verstehen. Das Handwerk des verständlichen Stils müssen Redakteure perfekt beherrschen, sonst nutzt all der Recherche-Aufwand nichts. Und sie schreiben auch schön in dem Sinne, dass die Leser Lust aufs Lesen bekommen.

Viertens: Die Mitarbeiter meiner Traumredaktion gehen auf die Menschen zu, reden mit ihnen, nehmen wahr, wo deren Bedürfnisse liegen. Sie respektieren, ja sie mögen ihre Leser und lassen sie das spüren.

fünftens: Es müssten Leute sein, die ein Bauchgefühl für Überraschungen haben, die also Neues wagen, auch wenn Leserforschung und Leserbriefe anderes angeben.

Und der sechste Punkt hieße: Die Traumredaktion hat genügend Personal…

Auf jeden Fall. Wir sind derzeit an einem Scheidepunkt, wo Quantität und Qualität oft nicht mehr zusammenpassen. Aber generell glaube ich, dass Quantität nicht zwangsläufig Qualität bedeutet. Journalismus ist ein Beruf, für den man brennen muss. Jeder Beamte in einer Redaktion ist mir ein Graus.

Von welchem Journalismus träumen Sie? Wie sieht der Journalist der Zukunft aus? (Antworten zum DJV-Verbandstag)

Geschrieben am 14. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Bundesverbandstag des Deutsche Journalisten-VerbandS (DJV) steigt mit etwa 350 Delegierten am 3. und 4. November 2014 in Weimar. In einem Magazin geben neben anderem die Thüringer Chefredakteure Antworten auf drei vorgegebene Fragen. Hier sind meine:

Von welcher Art Journalismus träumen Sie?

Ich muss nicht träumen, diesen Journalismus gibt es seit der Erfindung unabhängiger Zeitungen: Er kontrolliert die Mächtigen; er hilft den Bürgern durch verständliche und tiefgründige Artikel, die richtigen Entscheidungen in einer Demokratie zu treffen bei Wahlen, bei eigenem Engagement in Initiativen oder im Ehrenamt; er scheidet das Unwichtige vom Wichtigen. Und er erzählt, wann immer es möglich ist, von Menschen und ihren Plänen, Schicksalen und Hoffnungen, von ihrem Glück und ihrem Elend  – damit Leser Lust aufs Lesen bekommen und Stoff für ihre Unterhaltungen, wo auch immer.

Welche Anforderungen stellen Sie an Journalistinnen/Journalisten?

Sie beherrschen ihr Handwerk, so wie es seit langem geachtet ist (siehe Antwort auf Frage 1), aber verbinden es souverän mit den neuen digitalen Möglichkeiten in Recherche und Darstellung. Vor allem haben sie hohen Respekt vor den Lesern, den älteren wie auch den jungen, deren Bedürfnisse sie erkennen und befriedigen müssen. Das ist nicht neu, war aber in den seligen Zeiten des Beamtenjournalismus belächelt: Sie kümmern sich um die Leserforschung, die ihnen auch unbekannte Wünsche der Leser verrät, und sie  entwickeln Ideen, wie unabhängiger Journalismus auch in Zeiten schwindender Werbe-Umsätze zu finanzieren ist – und die Demokratie ihr stabiles Fundament behält. Dazu brauchen sie, wie seit altersher, Selbstvertrauen ohne Hochmut, Zivilcourage, Nervenkraft und die Fähigkeit der Unterscheidung.

Wie sieht die Thüringer Medienlandschaft in 10 Jahren aus?

Propheten haben im Journalismus nicht zu suchen, sie sollten in Beratungsfirmen gehen, die an dem Thema gut verdienen. Gehen wir von Sicherheiten aus: Die Bürger werden immer unabhängigen Journalismus brauchen und achten, Journalismus der sie respektiert, also verständlich und attraktiv ist, und der sie dort abholt, wo sie leben und träumen. Und da es immer noch Filme und Bücher gibt – weit über ihr prophezeites Todesdatum hinaus -, wird es auch immer gedruckte Zeitungen geben. Wahrscheinlich erleben wir eine Renaissance der Tageszeitung schneller, als wir denken. Aber bei allem Pessimismus, in dem  sich Redakteure gerne suhlen: Es kommt allein auf guten Journalismus an, gleich wie er dargeboten wird. 

**

Antworten auf Fragen des DJV Thüringen, der zum Verbandstag in Weimar den Delegierten in einem Magazin Thüringen vorstellt.

Der „Spiegel“ zitiert Kohl aus nicht-autorisierten Gesprächen: Unmoralisch? Verstoß gegen Pressekodex?

Geschrieben am 7. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

„Schwan begeht einen Vertrauensbruch, das ist keine Frage“, schreibt Rene Pfister in der Spiegel-Geschichte über das Schwan-Buch nach Gesprächen mit Helmut Kohl, aufgezeichnet und auf Tonband aufgenommen vor 12 Jahren. Dürfen Journalisten Vertrauen brechen? Verstossen sie so nicht gegen jede Moral?

Die folgende Passage zur Recherche hat  im „Handbuch des Journalismus“ reichlich Irritation und Widerspruch ausgelöst:

Manchmal spielen eher unmoralische Motive die Hauptrolle, damit der Moral zum Siege verholfen wird. Hätte nicht der Spiegel einem Informanten eine horrende Summe bezahlt, so wüssten wir immer noch nicht, auf welche Weise sich die Chefs der „Neuen Heimat“ bereichert haben.

Also – Recherchen sind weder moralisch noch unmoralisch, entscheidend ist allein, was am Ende herauskommt: Eine Wahrheit, die die Bürger unbedingt wissen müssen. Oder nicht.

Ähnlich schwankend ist die Argumentation des „Pressekodex“. Erst lesen wir „Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.“ Meist wenn der Kodex  „grundsätzlich“ schreibt, meint er das Gegenteil: es gibt reichlich Ausnahmen, zum Beispiel:

Vertraulichkeit muss nicht  gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen… Über als geheim bezeichnete Vorgänge und Vorhaben darf berichtet werden, wenn nach sorgfältiger Abwägung festgestellt wird, dass das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit höher rangiert als die für die Geheimhaltung angeführten Gründe.

Da stehen alle Türen weit offen, um einmal zugesichertes Vertrauen brechen zu dürfen. Rene Pfister nennt mehrere Gründe für Schwans Vertrauensbruch:

1. Kohl hat die Gespräche geführt, damit sie veröffentlicht werden. Streit ist nicht, ob sie veröffentlicht werden, sondern wann. Pfister vermutet, Kohl – oder seine neue Frau – wolle bestimmen, „welchen Platz er einmal in den Geschichtsbüchern einnehmen würde“.
2.  Kohls Erinnerungen sind ein „historischer Schatz“ der jungen deutschen Geschichte, ein „historisches Vermächtnis“, wie das Landgericht Köln vor einem Jahr feststellte. Für Historiker sind sie eine einzigartige Quelle. So etwas nennt man ein hohes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit.
3. Wir Zeitgenossen erfahren Neues über die Geschichte und die Mächtigen im Land – erzählt von einem, der fast zwei Jahrzehnte der Mächtigste war.
4. Wir erfahren Neues über die Deutsche Einheit, dem wichtigsten Ereignis der Nachkriegszeit.
5. Die Interviews mit Schwan sind offenbar die einzigen, in denen  sich Kohl relativ unverstellt einem Journalisten offenbart hat.
6. Kohl selber hielt wenig von Vertraulichkeit: In seinen Memoiren veröffentlichte er mehrere vertrauliche Briefe Weizsäckers.
7. Kohl ist so krank, dass er keine ausführlichen Interviews mehr geben kann.

Erinnern wir uns auch noch: Während jeder Deutsche, jeder weniger berühmte, ertragen musste, dass aus seinen Stasi-Akten zitiert wurde, schaffte es Helmut Kohl, dass seine Stasi-Akte gesperrt blieb. Der Kanzler wollte sein Bild für die Geschichte selber zeichnen. Das kann kein Journalist dulden, wenn er gründlich recherchiert.

Haben Schwan und der Spiegel also Kohl hintergangen? Ja, aber die Wahrheit und das Informationsbedürfnis der Bürger haben einen höheren Rang, einen Verfassungsrang. Die deutsche Geschichte, wie sie wirklich war und wie sie die sehen, die vom Volk gewählt sind,diese deutsche Geschichte gehört dem Volk und nicht dem höchsten Volksvertreter, dem Kanzler a.D. Helmut Kohl.

Sicher hat Moral einen festen Platz im Journalismus. Den höchsten Grad der Moral nenne ich die Verfassungs-Moral. Sie ist unser erstes Gebot.

**

Beitrag für Bülend Ürük, Chefredakteur von Newsroom.de, der diese Fragen zum Spiegel-Aufmacher stellte; alle Antworten unter newsroom.de:

  • Darf man als Journalist Recherchen verwenden, auch wenn ein Gesprächspartner, dem man dies auch vorher zugesichert hat, dies ablehnt, dies nicht möchte?
  • Wie würden Sie reagieren in einem Fall wie jetzt bei Herrn Schwan und Herrn Kohl? Würden Sie trotzdem auf Gespräche zurückgreifen und daraus ein Buch machen?
  • Gebe es Skrupel, wenn es nicht die Person Helmut Kohl wäre, über die Herr Schwan schreibt? Was wäre, wenn es ein weniger berühmter Mensch der Zeitgeschichte wäre?
  • „Hintergeht“ man seinen Gesprächspartner nicht, wenn man trotz seines Vetos auf diese Gespräche zurückgreift? Ist das ethisch sauber?
  • Wie wirkt sich das auf den Journalismus aus, wenn wir Zusagen an Gesprächspartner nicht mehr halten? Können Gesprächspartner dann noch sicher sein, dass wir eine Info, die sie uns im Vertrauen oder unter Bedingungen gegeben haben, nicht doch später ganz nach unserem Sinn verwenden?
  • Und wie ist das eigentlich, wenn man „nur“ über ein Buch berichtet, wie jetzt im aktuellen Fall der „Spiegel“ – hätten Sie moralische Bedenken, über ein Werk zu berichten, das so viel Streit zwischen den Beteiligten hervorgebracht hat?
  • Hat so etwas wie „Moral“ überhaupt Platz im Journalismus oder ist es nicht viel wichtiger, aufzudecken, Themen zu setzen und andere Geschehnisse zu ignorieren?

NACHTRAG
Das Landgericht Köln hat Anfang Oktober einen Antrag Kohls, die Buchauslieferung zu stoppen, abgelehnt mit der Begründung: Es geht nicht um Urheber-, sondern um Persönlichnkeitsrechte. Nun muss das Oberlandesgericht entscheiden, bei dem Kohls Anwälte Beschwerde eingelegt haben.

Was ist der Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Pressefreiheit?

Geschrieben am 16. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Meinungsfreiheit ist das Recht eines jeden Bürgers, das er ausüben kann oder lassen.

Meinungsfreiheit liegt auch der Pressefreiheit zugrunde, sie ist aber auch eine Pflicht: Ein Journalist kann nicht selbst entscheiden, ob und wie er eine Nachricht bringt; er handelt im Auftrag der Verfassung, er ist Treuhänder des Bürgers, dem er alles, was für ihn wichtig ist, mitteilen muss.

Aus einem Leitartikel zur Thüringenwahl „Das Elend der Politik – und die AfD“ entstand auf Facebook eine kleine Debatte um die Pressefreiheit, die hier in Auszügen dokumentiert ist:

Mario Schattney
Das Elend der Politik wäre vielleicht auch das Elend einer mit der Politik symbiotisch verstrickten Medienklasse? Muss sich der Bürger in krisenhaften Zeiten wie diesen am Ende von beiden verschaukelt fühlen? Erstaunlich und bemerkenswert ist doch, wieviel politisch-mediale Häme und Geringschätzung in unserer vorgeblich demokratischen Kultur der AfD entgegen bläst …

Raue:
Sicher sind die Medien mit der Politik verbunden. Wir haben die Mächtigen zu kontrollieren und – wie das Verfassungsgericht bestimmte – Diskussionen in Gang zu halten, um als orientierende Kraft zu wirken. Die kritische Nähe von Medien und Politik ist also ein Verfassungsauftrag: Die Presse als Verbindung zwischen Volk und Politik. Die Frage heute ist: Reicht das? Müssen wir nicht selber aktiv werden, Konzepte entwickeln? Dann bewegen wir uns aber in vermintes Gebiet und könnten selber zum Akteur von Politik werden. Dürfen wir das? Müssen wir das tun?

Wolfgang Kretschmer:
Selbstverständlich ist die verfassungsmäßig aus guten Gründen unklar definierte Schnittmenge von Politik und Medien ein „vermintes Gebiet“. Diesen Begriff hätte ich derzeit allerdings nicht gewählt.

Medien und Politik, Medien und Wirtschaft, diese Verhältnisse sind Hochspannungssektoren in der Meinungsbildung demokratischer Gesellschaften, die auch wegen allerlei irrlichtender Gestalten unter „Strom“ Stehenden einiges ethisch aushalten müssen, weil sie jeweils teils einig in der Meinung teils kontrovers sind, aber auch von einander lernen, jedenfalls im besten Falle.

Journalistenjob ist es nun, abgesehen von Meinungsumfragen, herauszufinden, wo sind die Abstimmungshochburgen der AfD und dort vor Ort herumzuforschen. Je nach gutem Journalismus wird dies dann für „Volk und Politik“ aufschlussreich sein. Kurz und gut, wir sind irgendwie immer „Mitakteure“, im Sinne der aus der Ethnologie und aus anderen Disziplinen bekannt problematischen wissenschaftlichen Figur der „teilnehmenden Beobachtung“. Und wenn wir unsere Meinung sagen wollen, tun wir dies in einem fundiert furiosen Kommentar, der das Blatt fürs Publikum interessant macht. Pressefreiheit ist Meinungsfreiheit.

Raue:
Einverstanden, aber Pressefreiheit ist mehr als Meinungsfreiheit, ist Verantwortung für die Demokratie und die Gesellschaft, ist Verantwortung für die Freiheit.

Wolfgang Kretschmer
Pressefreiheit ist in einer Demokratie Meinungsfreiheit (Kommentieren, das begann mal mit Flugbättern), das Recht, möglichst ungehindert investigativ zu recherchieren, Aktenzugang zu haben, im Gespräch mit Menschen die Hintergründe von bedeutenden Ereignissen zu eruieren oder durch journalistische Arbeit zunächst Unbedeutendes als wichtig ins öffentliche Bewusstsein zu transportieren. Insofern nehmen wir Verantwortung für Demokratie, Gesellschaft und Freiheit wahr, sind daher auch politische Akteure und Beförderer demokratischer Prozesse.

Um mal im Bild zu bleiben: Andere haben ein Interesse daran, ihr Terrain zu verminen, wiederum andere aus unserer Branche legen Minen. Das geneigte Lesepublikum macht sich ja auch selber so seine Gedanken, ob per Paper oder zunehmend online. Die sind auch mitunter schlauer als unsereins. Wir sind doch gar nicht weit auseinander. Oder?

Harald Klipp
Die Verantwortung für die Grundwerte darf aber nicht dazu führen, dass wir selbst mitmischen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass ein Journalist mit Parteibuch seiner Rolle als Journalist nicht mehr gerecht werden kann. Das Beispiel Susanne Gaschke zeigt, dass es ein Riesenunterschied ist, ob man als Journalist beobachtet, bewertet und kommentiert oder selbst zum politischen Akteur wird. Wenn es beim HSV in der Fußball-Bundesliga nicht läuft, biete ich mich ja auch nicht als Trainer oder Torwart an. Und das ist gut so.

Paul-Josef Raue
Zu Wolfgang Kretschmer: Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind zwar in einem Artikel des Grundgesetzes erwähnt, aber unterscheiden sich: Jeder, der eine Meinung hat, darf sie äußern – es ist ein Recht, das nur an den Rändern eingeschränkt ist (z.B. Beleidigung, üble Nachrede, Leugnung des Holocaust); die Meinungsfreiheit ist keine Pflicht: Wer seine Meinung nicht äußern will, kann nicht dazu gezwungen werden.

Die Pressefreiheit wird von Journalisten wahrgenommen; ihnen gilt der Schutz vor Eingriffen des Staates wie Zensur, Beugehaft o.ä. Die Pressefreiheit ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Wir handeln im Auftrag der Bürger – das ist eben der Verfassungsauftrag – und wir besorgen den Bürgern alle wichtigen Informationen, wahrheitsgemäß und unverzüglich. Das müssen wir tun.

Auch beschränken wir freiwillig, dem Verfassungsauftrag folgend, unsere Meinungsfreiheit: Der Pressekodex ist über weite Strecken eine solche Einschränkung. Jeder darf sagen: Metzger Schweinebrust hat die besten Schnitzel und nirgends gibt es bessere; wir dürfen es nicht schreiben usw.

Wolfgang Kretschmer
Meinungs- und Pressefreiheit sind im Grundgesetz nicht erwähnt, sondern hammerhart festgeschrieben.Grauzonen gibt es im alltäglichen Schreibgeschäft. Ich sehe gar nicht, wo wir auseinander sind! Unsere Texte zum Thema dienen eher einer notwendigen reflektierenden Selbstvergewisserung. Unser langsam dahinschwindener Beruf genießt ja nicht den allerbesten Ruf. Und as ist auch gut so.

Ich bleibe dabei: Wir sollten zu den AfD-Hochburgen gehen und nachschauen, was die Menschen bewegt und in ihren Köpfen haben. Darüber kann man ganz sanft und viele Aspekte betrachtend und beobachtend schreiben. Selbst dann, wenn man was von Habermas und Luhmann gelesen hat. Wir müssen als Redakteure und Journalisten manches auch verständlich machen und überraschende Varianten und Widersprüche aufdecken. Das gibt interessanten Lesestoff und ändert vielleicht gängige Meinungen. Womöglich könnte unsereins auch mal darüber nachdenken, dass wir in unserem Job auch in sich ebenso seelisch wie seelig hin- und hergerissene Figuren sind (Kir Royal, Heidemann etc etc.)..

Schnitzel: Meine Recherchen etwa zur Südtiroler Speckproduktion oder meine Meinung zum geplanten Seilbahnprojekt in Brixen bringe ich jeweils anderswo unter (Textsorten). Und immer ist selbst dabei klar ersichtlich, dass ich ein spezielles forschendes Erkentnisinteresse habe. Und wenn Metzger Schweinebrust bei seiner Werbung für die besten Schnitzel pfuscht,, dann haue ich den selbst als Kunden einer Tageszeitung in die Pfanne. Dies wird dann im Verlag durchgestanden

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