Wen schändet ein „Kinderschänder“? Polemik gegen einen unsäglichen Begriff (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Screenshot_reinhold_gall_tweetDer Innenminister in Baden-Württemberg ist SPD-Mitglied und Anhänger der Vorratsdaten-Speicherung. Als seine Partei auf einem Konvent über die Vorratsdaten diskutierte, schrieb er einen Tweet:

Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.“ (Das Komma fehlt im Original)

Immer wieder gehe ich an einem parkenden Auto vorbei, das auf der Heckscheibe propagiert:

Todesstrafe für Kinderschänder

„Kinderschänder“ ist ein Wort, das Neonazis und die NPD gerne gebrauchen; sie fangen damit auch Bürger, die weder braun sind noch NPD-Wähler, aber Gewalt gegen Kinder verurteilen (und wer tut das nicht?). Was bedeutet aber der Begriff „Kinderschänder“?

Er erinnert an einen Begriff wie „Rassenschande“ aus dem Wörterbuch der Nationalsozialisten. Der „Rassenschänder“ wie der „Kinderschänder“ sind zwiespältige Begriffe: Beide bringen Schande über den Schänder – und über den Geschändeten. Wer ein Kind „schändet“, liefert es der Schande aus; es ist befleckt – womöglich gemeinsam mit der Familie. Neben dem Leid steht auch noch der Verlust des Ansehens, der soziale Abstieg.

Zudem suggeriert der Begriff: Das Opfer der Vergewaltigung hat sich nicht gewehrt, es vielleicht sogar provoziert, es ließ sich schänden und gehört somit nicht mehr zum ehrenwerten Teil der Gesellschaft. Das Opfer wird zum zweifachen, zum ewigen Opfer

Der Blogger Sascha Lobo meint: Wer den menschenfeindlichen Begriff „Kinderschänder“ benutzt, nimmt „ein Sitzbad im braunen Schlammwasser hinter dem rechten Rand“. Ein Innenminister, der den NPD-Begriff nutzt, sei „unwürdig in einer Demokratie“.
„Um wie Könige zu prahlen, schänden kleine Wütriche ihr armes Land“, schrieb der Dichter Hölderlin in einem Gedicht. Wir brauchen „schänden“ nicht, wir können von „vergewaltigen“ oder „misshandeln“ sprechen. „Kinderschänder“ sollten wir schnell und geräuschlos auf dem Friedhof der Wörter beerdigen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 29. Juni 2015 (geplant)

2 Kommentare

  • Sehr geehrter Herr Raue,
    das angeführte Hölderlin-Gedicht habe ich gelesen. „…Sirenenton…“
    Dass auch ich Vergewaltigung und Erniedrigung von Kindern verurteile,
    versteht sich von selbst. Wir haben aber nach wie vor ein Problem, von
    den Nazis einst besetzte Begriffe wie „Kinderschänderei“ und „Rassenschande“
    aus dem deutschen „Wortschatz“ zu „tilgen“.
    Meiner Meinung nach sollte auf dem „Friedhof der Wörter,“ kein einziges Wort
    begraben werden.
    Erstens wandeln sich Wortprägungen (linguistisch: „Konnotationen“) und
    Begrifflichkeiten im Laufe der Zeit, zweitens wird ein jedes jemals gebrauchte Wort
    wieder einmal „auferstehen“.
    Sie verbuddeln beinahe päpstlich missionarisch viel zu viele Wörter in Ihrem (Schneider-) „Friedhof der Wörter“.
    Dabei ist es doch ein offenes Geheimnis, dass schon vor der Nazizeit und in dieser selber seit der Antike per „Knabenliebe“ Kinder geschändet wurden wie in jedem autoritären System,
    etwa in der katholischen Kirche bei größtem Gefallen an Kastratengeesang. Die
    komplizierten Verhältnisse in der Familie von Thomas Mann scheinen vergessen.
    Die „Grünen“.sind längst damit beschäftigt, ihr „Päderasten-Problem“
    in Folge der Ideologie „sexueller Befreiung“ verknüpft mit der so genannten
    68er „Revolution“ aufzuarbeiten. Aber dies ist vermutlich wie Drogennutzung
    ebenso eine Thematik „quer Beet“ in allen parlamentarischen Parteien und
    Gesellschaftsschichten.
    Bin auch als Vater von zwei erwachsenen Kindern weit entfernt von „braunem Schlammwasser“.
    Sie zitieren den Blogger Sascha Lobo, der es sich m.E, parolenmäßig sehr einfach macht,
    denn wie bereits erwähnt, ist Lust auf junge Körper Bestandteil nicht nur
    abendländischer und nazi-naher Tradition. Daran darf erneut erinnert werden.
    „Schänden“ bringt doch viel schärfer noch zum Ausdruck, was „misshandeln“ und
    „vergewaltigen“ meinen mag.
    „Kinderschänder“ ist kein „menschenfeindlicher“ rechtsradikaler Kampfbegriff,
    wie Lobo meint, sondern bezeichnet exakt eine Straftat, die in einer Demokratie
    nicht mit Lynchjustiz und dem Todesurteil, sondern mit psychiatrischer Therapie
    „bestraft“ werden muss.
    Befürworter von Datenspeicherung gaukeln in Überwachungsmanie nur vor, man wolle neben „Kinderschändern“ auch terroristische Planungen erwischen und aufdecken. Leider ist letzeres weitaus schwieriger. Und Ihr tagtäglicher Blick auf ein(!) geparktes Auto, das plakativ die Todesstrafe für Kinderschänder verlangt, ist in kantianischem Sinne kein zureichender Grund, ein „Un“-Wort neben vielen anderen zu beerdigen.
    Das von Dolf Sternberger, Gerhard Storz, und W. E. Süskind 1957 erstmals publizierte „Wörterbuch des Unmenschen“ wirkt immer noch nach. Etwa bei P. J. Raue.
    Dieses Wörterbuch hat zwar stilbildend sprachkritisch den bewussten Umgang mit deutscher Sprache befördert und vieles kritisch angeregt, aber nach wie vor ist von „Kernkraftwerken“ statt von „Atomkraftwerken“ die Rede. Der Begriff „Atommüll-Endlager“ scheint wie verschwunden und wird überlagert von „Enegiewende“. Dieses Buch hat aber auch in einigen Köpfen einiges angerichtet,im Deutschunterricht und in Redakktionen: „Begriff- und Stilvorgaben“ und so auch nach der Nazi-Zeit gutmenschlich deutsch gemeint den „Friedhof der Wörter“. Wolfgang Kretschmer

  • Ihr Beitrag ist zwar schon ein Jahr alt, aber nicht minder aktuell. Ich habe im Mai diesen Jahres u.a. zu dem Begriff Kinderschänder unter dem Titel „Missbrauch der Opfer durch Missbrauch der Sprache“ gebloggt. Hier ein Auszug:

    Jedenfalls fühle ich mich als Opfer nicht dadurch in Schande versetzt oder vom Tabu zum schweigen gezwungen, wenn jemand eine Kinderschänderin oder ein Kinderschänder geheißen wird. Vielmehr wurde mir durch Kinderschänder tatsächlich Schande angetan. Meine Reinheit wurde befleckt. Meine Unschuld wurde mir geraubt. Meine Seele wurde erdrosselt. Mein Körper wurde benutzt und beschmutzt. Meine sexuelle Selbstbestimmung wurde missachtet, so wie man meine ganze Person verachtet hatte. Ich wurde zum Objekt perverser Lust. Ich wurde geschändet. Und ich war über Jahrzehnte zutiefst beschämt.

    Den gesamten Artikel finden Sie hier: http://wp.me/p6MOlq-6k

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