Wie schreiben über das Leben in der DDR? Was ist Wahrheit? Was ist subjektiv?

Geschrieben am 9. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Einem Leser missfällt, wenn Menschen, die an der DDR-Grenze gelebt und gelitten haben, zu Wort kommen – und „in die Rolle eines Opfers der DDR gerückt werden“. Seit einigen Wochen ist in der Thüringer Allgemeine die Serie „Die Grenze“ zu lesen, eine politische Wanderung entlang der kompletten innerdeutschen Grenze.

„Leider, ich weiß nicht aus welchen Gründen auch immer, kommen Ihre Darstellungen nicht ohne das Bedienen von Ressentiments aus“, schreibt der Leser. Er habe andere Erfahrungen gemacht, so hatte er beispielsweise „jahrelang permanent unmittelbar (in wenigen Meter Abstand) an der Grenze zu tun und durfte dies auch, ohne auch nur hundertprozentig zu sein, denn ich war weder Genosse und auch kein IM“.

Er schließt seine freundliche Mail: „Es kommt mir manchmal so vor, dass ähnlich wie zu DDR-Zeiten, wo kaum ein Fachvortrag ohne die Erwähnung des x-ten Parteitages der SED begann, auch heute in vielen Artikeln in mindestens einer Passage auf die permanente Unterdrückung und Unfreiheit hingewiesen werden muss, sei es auch mit Un- oder Halbwahrheiten. Vielleicht lassen sich auch solche nicht unbedingt relevanten Aussagen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt vor einer Veröffentlichung überprüfen.“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Es ist kaum möglich, an der Grenze jene links liegenzulassen, die von Schikanen, Vertreibungen und Unfreiheit, von Tod, Verstümmelung und unbewältigten Träumen berichten. Es dürfte auch schwer möglich sein, diese Geschichten als unwichtig zu erachten, wenn wir die Wahrheit der Geschichte erkunden.

Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Bruders, der immer noch unter der Enthauptung seines Bruders leidet? Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Menschen, den heute noch die Blicke der Arbeiter verfolgen, wenn er als junger Häftling in einen Betrieb einmarschierte?

Wie sollen wir ein Trauma, eine tiefe Verletzung überprüfen? Und – wer hat das Recht, diesen Menschen ihre Erfahrungen zu nehmen? Sicher sind das subjektive Erfahrungen, aber auch diese Erfahrungen gehören zur Geschichte.

Wo es möglich ist, haben wir in Dokumenten geforscht, haben Briefe und Urkunden gesichtet – und zitieren eifrig daraus. Wenn die Wahrheit im grauen Nebel verschwindet – wie beim Tod des Grenzers Rudi Arnstadt oder den Schüssen auf Wahlhausen -, dann schreiben wir auch das.

Aber den Opfern ihr Opfer zu bestreiten, käme einer zweiten Erniedrigung gleich. Es zu verschweigen, wäre zumindest unwahrhaftig.

 

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Thüringer Allgemeine, 8. August 2015, Leser fragen

Kommentare von Lesern online:

  • raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
  • Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?

1 Kommentar

  • Ich finde die Artikel über die Grenze, ihre Wirkung auf die Menschen und die Unterdrückung in jeder Form schon wichtig, denn das ist nicht der Sozialismus, den wir in der Schule gelehrt bekamen. Um über die üblichen Schikanen zu berichten, musste man sie schon erlebt haben oder sehr gut recherchiert haben. Wenn man als junge Mutter vom Jugendamt zu hören bekommt: Wenn irgendwann einmal Probleme mit Ihren Mann auftreten, dann kommen sie zu uns; wir (Jugendamt) nehmen die Kinder vorübergehend ins Heim – dann macht man sich schon seine Gedanken oder und wie ich reagiert habe war auch klar: Denn mein Mann war ein Heimkind, und was er erlebt hat, weiß ich nur zu gut.
    Da ich eh im Fokus der Stasi stand, weil ich es mir gewagt hatte, eine Frage, die sie mir stellten, mit den Worten zu beantworten „Woanders lebt man besser als hier“, das war mein ganzen Verbrechen. Und ich hatte gewagt, einen Ungarn in Ungarn heiraten zu wollen. Als Folge daraus wurde mir die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt. Wenn Sie sowas nicht erlebt haben, sehr geehrter Leser, dann gratuliere ich Ihnen, ich habe es anders erlebt.

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