120 Wörter in einem Satz: Caroline Emckes Vorbild-Reportage

Geschrieben am 26. September 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 26. September 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Vorbildlich (Best Practice).

Es gibt Geschichten, die haben keinen Anfang, weil niemand weiß, wieso sie geschehen. Sie lassen sich erzählen, aber sie lassen sich nicht begreifen. Sie werfen nur Fragen auf und bieten keine Antworten. Die Geschichte von Grace ist so eine Geschichte.

So beginnt Caroline Emckes Reportage im Zeit-Magazin ( 2011) über Grace, einem vierjährigen Mädchen in Kenia, vergewaltigt und schwer verletzt von einem Nachbarn, einem mächtigen Mann. Das Dorf hört zu, wie das Mädchen weint und schreit.

Eine Tante geht mit dem Mädchen in die Stadt, erstattet Anzeige, gibt das Kind in die Obhut eines Heims für misshandelte Mädchen.

Für ihre Reportage „Der lange Weg zur Gerechtigkeit“ bekommt Caroline Emcke den Ulrich-Wickert-Preis für Kinderrechte. Die Reportage ist eine der besten Reportagen der vergangenen Jahre, eine vorbildliche, nicht nur wegen ihres Themas. Wer solch Unmenschlichkeit beschreibt, braucht keine Worte des Abscheus, keinen moralischen Aufschrei – er muss nur unaufgeregt berichten, der Reihe nach. Die Fakten reichen.

Markus Lanz lobte in der Jury-Sitzung: „Carolin Emcke nimmt den Menschen nicht die Würde. Sie kommt nicht in Gutsherrenart und sagt, wie es zu sein hat.“ Carolin Emcke ist eine Reporterin; sie schreibt auf, wie es ist.

Nur einmal in ihrer Reportage schleicht sich ein Wort  wie „Ungeheuerlichkeit“ ein:

 Grace‘ Leben beginnt nicht mit ihrem Geburtstag, der ist nicht verzeichnet, sondern mit jenem 3. März 2010, dem Tag, an dem sie, halb bewusstlos, von ihrer Tante Joyce auf dem Arm ins Krankenhaus getragen wurde. »Blut und Flüssigkeit auf der Unterhose«, steht mit blauem Kugelschreiber auf dem schmucklosen Zettel, der in der Akte abgeheftet ist und auf dem ein Arzt im Methodist Hospital von Maua die Ungeheuerlichkeit notiert hat: 13 Kilo Gewicht, Körpertemperatur 37 Grad, eine eingehende Vaginaluntersuchung sei nicht möglich gewesen, weil die Patientin große Schmerzen gehabt habe, der Arzt schließt mit der Diagnose »Vergewaltigtes Kind mit genitalen Verletzungen«.

Wolf Schneider wird es für unmöglich halten, jeder Stilist „Stop“ rufen, wenn in einer Reportage ein Satz auftaucht, der 120 Wörter lang ist (darin: 37 englische Wörter und 9 Wörter Bibelzitat und 6 Mal wiederholt „klapp“). Carolin Emckes sechster Satz, der erste erzählende, er erzeugt mit einfachen Mitteln Atemlosigkeit, ist lang, aber verständlich. Grace singt:

»If you’re happy and you know it, clap your hands« , sie klatscht in die Hände, klapp, klapp, Grace singt und klatscht vergnügt wie alle anderen Kinder, »If you’re happy and you know it, clap your hands« , klapp, klapp, es ist acht Uhr morgens, die erste Stunde des christlichen Kindergartens in Meru,  Kenia,  hat begonnen, erst mit einem Bibelvers, »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde«, und nun mit diesem Lied der Freude, die man sehen und hören muss, »If you’re happy and you know it, then you really got to show it, clap your hands« , klapp, klapp, Grace trägt wie die anderen achtzehn Kinder ihre Schuluniform, einen blauen Jeansrock und ein rotes Polohemd unter einem blauen Wollpullover.

Ulrich Wickert hat den Preis gestiftet unter dem Dach der Stiftung „Hilfe mit Plan“; er wird am 11. Oktober 2012, dem UN-Mädchentag, in Berlin verliehen. Neben Carolin Emcke wird er auch an Autoren aus Simbabwe sowie vier Ländern Westafrikas vergeben.

Paul-Josef Raue gehörte der Jury an neben Karl Günther Barth (Hamburger Abendblatt), Marko Brockmann (Radijojo), Karen Heumann (kempertrautmann), Brigitte Huber (Brigitte), Christoph Lanz (Deutsche Welle), Markus Lanz (ZDF), Werner Bauch (Plan Deutschland) und Stifter Ulrich Wickert.

(zu: Handbuch-Kapitel 32 Die Reportage)

1 Kommentar

  • Eine ergreifenden Reportage, die mir den Atem stocken lässt. Diese Worte haben direkt in mein Herz getroffen. Der Satz baut eine unheimliche Spannungskurve weitab von den Richtlinien des Online Satzbaues. Lang ist gleich unverständlich – rigorose Regeln und Vorschriften bedürfen immer eine Verbindung zur Praxis und diese lässt sich von Fall zu Fall abwandeln, Zugunsten der Erzählkunst.

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