Charlie und „Satire im Kreuzfeuer“: Erfurter Kabarettist Ulf Annel über Tucholskys Aufsatz

Geschrieben am 10. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

„Satire darf alles. Gewissermaßen ist es der Luxemburg-Satz von der Freiheit, die immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist. Aber denken muss man schon.“ In einem Gastbeitrag der Thüringer Allgemeine schreibt der Erfurter Kabarettist Ulf Annel über Kurt Tucholskys Aufsatz und Menschen mit Haltung:

Kurt Tucholskys Geburtstag jährte sich gestern zum 125. Mal. Das allgemeine (Des)Interesse am Pazifisten und Antifaschisten Tucholsky und die aktuellen Ereignisse in Frankreich ließen den Ehrentag medial klein, machten aber ein Zitat riesengroß: „Was darf die Satire? Alles.“ Ein Fragesatz, eine Antwort, Punkt.

Aber dieses Zitat ist nur das Ende eines längeren Artikels, den Tucholsky im Januar 1919 für das „Berliner Tageblatt“ schrieb. Ein großer Krieg war vorbei, nicht jedoch der Kampf um die Deutungshoheit, was dieser Krieg für Deutschland war und was man für die Zukunft daraus lernen könne.

Wirklich neu war allerdings, dass die Zensur aufgehoben war und man nun gegen diesen Krieg, seine Verursacher und Profiteure anschreiben konnte. Man lese den ganzen Artikel. Es geht darin nicht nur um den Krieg allein, es geht vor allem um die Befreiung des Denkens, um Aufklärung, um das Recht, alles, aber auch wirklich alles sagen zu dürfen. Aber dieses Recht schließt ein, dass man ein Mensch – gibt es ein genaueres Wort, als das so oft missbrauchte? – mit einem Standpunkt sein muss. „Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier“, schrieb Tucholsky, „nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.“

Satire darf alles. Gewissermaßen ist es der Luxemburg-Satz von der Freiheit, die immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist. Aber denken muss man schon. Insofern bedeutet „Alles“ eben nicht alles. Der Satz ist gleichsam wahrhaftig, aber auch satirisch überspitzt. Oder will man allen Ernstes behaupten, Satire dürfe und würde ernsthaft zu Mord, Totschlag, zu Intoleranz und Rassismus, zu Lug und Betrug aufrufen?

Aber nichts und niemand darf für sich in Anspruch nehmen, Satire dürfe sich nicht mit ihm und seinem Tun und Denken beschäftigen. In diesem Sinne gibt es kein Tabu. Keines!

Wenn auch das die Satire beschreibende Wortmaterial nicht ohne Waffen auskommt – wie oft wurde das feine Florett beschworen, mit dem Dieter Hildebrandt umgegangen sein soll -, so ist es doch nur ein Wortbild. Nie sah ich Hildebrandt mit umgeschnallter Hieb- oder Stichwaffe. Aber seine Hiebe und Stiche saßen. Der Grund ist ganz einfach: Er hatte eine Haltung. In seinem Kopf gab es immer diesen Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, zwischen Ideal und Realität. Er nahm die Fakten und kommentierte kabarettistisch. Hildebrandt wusste genau, dass dabei immer der Zeigefinger des lehrhaften Aufklärers nach oben zuckte. Nie war es ihm genug, was die Medien an Fakten und Zusammenhängen brachten, vor allem vermisste er immer wieder die Fragen: Warum? Und: Wem nützt es? Bei der Beantwortung dieser Fragen nahm er kein Blatt vor den Mund. Alles wurde gesagt. Erinnert man sich heute noch daran, dass seine Sendung einmal von Bayern ausgeschaltet wurde? Ausgeschaltet. Was für ein Wort, gibt man es Mördern in den Mund. Satiriker sind keine Mörder. Satiriker sterben, wenn Mörder sie mundtot machen wollen.

Und nun? Noch ein Zitat. Bertolt Brecht: „Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse“. Diesen Satz hat er der Hauptfigur seines Theater-Stückes „Leben des Galilei“ in den Mund gelegt. In der Realität wurde Galileo Galilei von Religionsvertretern mit dem Tode bedroht.

Thüringer Allgemeine 10. Januar 2015

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Was darf Satire?

Auszüge aus dem Artikel Kurt Tucholskys für das Berliner Tageblatt vom 27. Januar 1919

Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.

Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: „Nein!“ Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.

Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den. (…)

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend. (…)

Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.

Was darf die Satire?

Alles.

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