Was antwortet man einem Leser, der die Zeitung wegen „grottenschlechter Leserbriefe“ abbestellt

Geschrieben am 29. Juni 2014 von Paul-Josef Raue.

Mir gefallen die Leitartikel auf der Titelseite, aber ich möchte die Zeitung nicht länger lesen – weil mir die Kommentare anderer Leser ärgern: „Oft grottenschlecht unter dem Stammtischniveau.“ So schreibt ein Leser der Thüringer Allgemeine, und so antwortet der Chefredakteur:

Es wäre blamabel für uns Redakteure, wenn wir unsere Kommentare nicht gut formulieren, logisch begründen und pointiert zuspitzen könnten. Das ist unser Handwerk.

Die meisten Leser haben anderes zu tun, als sich den gesamten Tag über mit den kleinen Wirren im Thüringer Kabinett und den großen Wirren der  Welt zu beschäftigen. Aber sie bilden sich eine Meinung dazu, und diese Meinung hat in einer Demokratie einen Wert – unabhängig ob einer Redakteur ist oder Professor, Angestellter oder Arbeitsloser.

In feudalen Zeiten, ob im Kaiserreich oder unter roten Zaren, haben die Mächtigen bestimmt, was das Volk zu denken hatte – und Journalisten, als Propagandisten der Macht, gaben das vorbestimmte Denken weiter. In einer Demokratie gibt es keinen, der das Denken vorschreiben kann.

Zu SED-Zeiten hieß unsere Zeitung „Das Volk“, aber das Volk kam nicht zu Wort. So haben wir vor fünf Jahren, zum 20. Jahrestag der neuen „Thüringer Allgemeine“, die Leser-Seite eingeführt.  Denn eines der großen Anliegen der Revolution war: Wir lassen uns den Mund nicht verbieten! Wir wollen wissen, wie die anderen denken – auch wenn sie anders denken!

Aufgabe von Redakteuren ist auch, eine Auswahl zu treffen und das Gespräch der Leser zu moderieren. Deshalb prüfen wir schon, welche Briefe auf dieser Seite erscheinen – nach diesen Regeln:

> Wir wählen die Briefe nicht nach unseren Vorlieben aus, auch wenn es der Redaktion bisweilen schwer fällt. Vielmehr kommt jedes Thema, das unsere Leser offensichtlich bewegt, in die Zeitung.
> Wir manipulieren nicht: Kommen etwa zur „Ukraine“ zehn Briefe, die Putin verehren, und fünf Briefe, die ihn kritisieren, dann stehen  Briefe im Verhältnis 2:1 in der Zeitung.
> Wir ignorieren Beleidigungen und falsche Behauptungen, Schmähungen und üble Nachrede – wohl wissend, wie schmal der Grat ist. Dies ist der entscheidende Unterschied zu den Internet-Kommentaren, die in der Tat meist schwer zu ertragen sind. 
> Wer Kritik übt, darf allerdings scharf formulieren, darf übertreiben, darf sich der Mehrheit widersetzen, darf grottenschlecht formulieren. Die Meinung ist frei.

Eine Meinung verschwindet übrigens nicht, wenn sie nicht öffentlich wird. Spätestens bei einer Wahl wird sie sichtbar, denn in einer Demokratie hat jeder Bürger eine Stimme.

Diese Seite der Leser hat zudem einen unschätzbaren Vorteil: Unsere Leser kommen untereinander ins Gespräch, sie sprechen und widersprechen, bisweilen gar nicht nett. Unlängst schrieb eine Frau  einem Leser zu seinem Internet-Kommentar: 

„Ich heiße Sie in meiner ehemaligen Heimat Kasachstan willkommen heißen, um Ihnen einen Einblick in die ausländische Willkommenskultur zu ermöglichen. Dort ist jeder willkommen, auch einer wie Sie mit verquerem Denken, unlogischen Argumenten und brauner Propaganda.“ Recht so.

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 28. Juni 2014 (hier ausführlichere Fassung)

1 Kommentar

  • Seit dem ersten Tag, wo die Leserseite „geboren“ wurde, begleite ich diese auch als kritischer Analyst. Zwischenzeitlich sind mehrere Tausend Lesermeinungen veröffentlicht worden. Was habe ich daraus gelernt:
    1. Es ist ein Ausdruck gelebter Demokratie. Manche Mitbürger meinen Demokratie für wen, in wessen Interesse? Diese Frage ist manchmal nicht ganz einfach zu beantworten, wenn man gewisse politische Entscheidungen in ihrer speziellen Wirkung für die „breite Masse“ einer kritischen Betrachtung unterzieht. Das mag so sein. Aber der Querschnitt der veröffentlichten Leserbriefe bringt gerade auch das Spektrum einer, unserer Demokratie zum Ausdruck. Das ist gut so.
    2. Gelernt habe ich auch, dass wegen der Vielzahl der öffentlich geäußerten Meinungen und Auffassungen, nicht anonym!!, die eigenen Auffassungen gefestigt, oder auch korrigiert werden können. Ganz einfach, weil der eigene Blickwinkel für Entwicklungen „geschärft“ und im gewissen Sinn auch objektiviert wird.
    3. Natürlich entscheidet jeder Bürger selbst, wie er sich informieren will. Das steht ihm zu. Auch das ist ein Teil unserer Demokratie. Neben dem Internet, wo nicht wenige Äußerungen unter falschem -, oder gar keinem Namen geäußert werden können (Das betrachte ich als absoluten Mangel) sollte die Tageszeitung, egal welche, mit zu Rate gezogen werden um seine Meinung zu bilden. Und, wer so reagiert, wie der Leser, der die TA abbestellt, hat offensichtlich die Grundanliegen unserer demokratischen Rechte, die durch das Grundgesetz gesichert sind, nicht ganz verstanden. Vielleicht denkt der Leserbriefschreiber aber nochmal über seine Entscheidung nach.
    MfG
    W. Jörgens

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