Das SZ-Streiflicht feiert Gnadenhochzeit mit einem 67-Wörter-Schachtelsatz

Die besten Streiflicht-Glossen erscheinen als Buch wie diesem von 2004: Verdeckte Ermittlungen zwischen Himmel und Hölle. (Foto: SZ)
Jeder Journalist, der von sich überzeugt ist, also jeder Journalist möchte das Streiflicht kopieren. Er möchte wenigstens einmal so schreiben wie die besten Schreiber im Süden Deutschlands und dem Rest der Republik. „Aber vor dem Kopieren sei gewarnt“, lesen wir im Neuen Handbuch des Journalismus: „Es ist fast hoffnungslos.“
Heute vor siebzig Jahren, am 12. Juni 1946, druckte die Süddeutsche Zeitung das erste Streiflicht. Im Historischen Lexikon Bayerns widmet Paul Hoser dem Streiflicht ein eigenes kleines Kapitel:
Typisch ist das auf der ersten Seite links oben platzierte „Streiflicht“, das seit Juni 1946 täglich erscheint. Das auf Schöningh zurückgehende „Streiflicht“ war ursprünglich ein stark moralisch argumentierender, ernsthafter Kommentar und entwickelte sich erst allmählich zu einer spöttischen, scharf pointierten Glosse, die auf 73 Zeilen Länge festgelegt ist. Bei besonderen Ereignissen aber kehrt das Streiflicht zu einem ernst reflektierenden Kommentar zurück, wie etwa am 21. Oktober 1977, drei Tage nach der Ermordung Hanns Martin Schleyers.
Der von Hoser erwähnte Schöningh hat den katholischen Vornamen Franz Josef. Schöningh schrieb das erste Streiflicht und ahnte kaum, dass mehr als 20.000 folgen würden. Zum Jubiläum drucken Zeitungen gerne das erste Stück nach, doch die Süddeutsche vom 11. Juni 2016 verzichtet und tritt ein wenig nach; dies ist zwar kein Merkmal des Streiflichts, wird von den Autoren jedoch nicht unbedingt vermieden. Er „konstatiert…
dass der Text, eine tagespolitische Erörterung, heute als Streiflicht keine Chance hätte. Seine Würde rührt daher, dass mit ihm die wohl älteste Glosse Deutschlands beginnt, ein Markenprodukt.
Die historische Würdigung des Streiflichts erscheint nicht auf der ersten Seite der SZ, sondern irgendwo auf einer der vielen Seiten des dicken Wochenend-Exemplars. Dies mag zwei Gründe haben: Sie ist etwa doppelt so lang; sie ist kein Meisterstück.
Der anonyme Autor versucht zum Siebzigsten, zur Gnadenhochzeit, unbedingt einen 70-Wörter-Satz unterzubringen. Es gelingt ihm fast, drei Wörter nur fehlen:
Dessen ungeachtet ist es nicht verkehrt, auch das Streiflicht als eine Glasperlenkunst zu sehen, bei dem mit den Inhalten und Werten unserer Kultur gespielt – Kritiker sagen: getändelt – wird, und wer das nicht glaubt, sollte die Streiflichtschreiber einmal dabei beobachten, wenn sie wie Hesses Magister Josef Knecht sich mit der Frage quälen, ob nicht auch sie von aristokratischer Selbstgenügsamkeit, sinnentleerter Virtuosität und kraftloser Abgeschiedenheit vom Leben bedroht sind.
Er nimmt noch einen zweiten Anlauf zum Marathon-Satz, stellt die Frage „Adelt es eine Kolumne, wenn Schule und Wissenschaft sich ihrer annehmen?“, doch kommt er mit der 57-Wörter-Antwort wieder nicht ins Ziel:
Nun, es ist jedenfalls keine Schande, mag es gleich mühsam sein, frustrierten Gymnasiasten zu erklären, dass und warum ihre schlecht benotete Streiflicht-Interpretation hierorts nicht nachkorrigiert werden kann, mag gleich die eine oder andere Magisterarbeit gar nicht zum Gipfel gelangt, sondern schon in den Mühen der Ebene, bei der Stoffsammlung und beim Vorzeigen der benützten Literatur, versandet sein.
Der anonyme SZ-Streiflicht-Würdiger erwähnt den Germanisten-Vorwurf, das Streiflicht habe einen „komplizierten syntaktischen Satzbau“ und eine „komplizierte Gedankenführung“: Er zeigt wortüberwältigend, dass es Vorwürfe geben kann, die berechtigt sind.
Als das Streiflicht entstand, folgte die Redaktion der amerikanischen Tradition, Meinungen nicht mit dem Namen des Kommentators zu versehen. Dass dies zur Streiflicht-Tradition wurde, erstaunt jeden, der das Selbstbewusstsein von Journalisten kennt: Unmöglich, sich mit einem Meisterstück auf der Titelseite nicht schmücken zu dürfen!
In den Büchern, die die besten Streiflichter versammeln, stehen dann die Autoren: Die Ruhmeshalle der berühmtesten Kolumne Deutschlands. So führt Paul Hoser in seinem bayerischen Lexikon den Autoren-Stamm auf:
Werner Friedmann, Erich Kuby, Heinz Holldack (1905-1971), Hermann Proebst, Fred Hepp (1923-1998,1955-1988 in der SZ tätig), Claus Heinrich Meyer (1931-2008), Rainer Stephan (geb. 1948), Hermann Unterstöger (geb. 1943), Axel Hacke (geb. 1956), Wolfgang Görl (geb. 1954), Hilmar Klute (geb. 1967) und Joachim Käppner (geb. 1961); vereinzelt schrieb auch Joachim Kaiser Streiflichter. Mit über 2.000 Streiflichtern hält Hepp den Rekord.
Fügen wir an: Kurt Kister, der aktuelle Chefredakteur, der sein Streiflicht am 21. April 2004 über Nutella schrieb, also dickflüssige Werbung trieb:
Wenn man irgendwo zu Gast ist, muss man nur den Kühlschrank öffnen. Sieht man im Inneren ein Glas Nutella stehen, dann weiß man, dass man mit dem Bestücker des Kühlschranks keine wie auch immer geartete Beziehung eingehen sollte. Die Nusscreme muss dickflüssig tropfend sein wie frisch gefördertes bahrainisches Rohöl.
Eine Redaktion muss die beste in Deutschland sein, wenn an ihrer Spitze ein Mann steht, der im Streiflicht Nutella mit Rohöl vergleicht und eine Lebensweisheit findet, die auch für schwere Zeiten taugt:
Nutella also ist, wie Streichkäse und Dosenravioli, gut für die Menschen. Nur in den Kühlschrank gehört sie nicht.
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