Das Wörterbuch der Flucht (Friedhof der Wörter)
Flucht ist so alt wie die Geschichte der Menschen – und so alt wie die Geschichte der Deutschen. Das Auswandererhaus in Bremerhaven, das sein zehnjähriges Bestehen feiert, zeigt in eindrucksvollen Ausstellungen: Deutschland ist seit Jahrhunderten geprägt durch Menschen, die fliehen.
Wer im Wörterbuch der Flucht liest, entdeckt den Reichtum unserer Sprache und entdeckt die Schicksale, die sich in den Wörtern verbergen. Diese Gruppen sind im Auswandererhaus versammelt:
Die Glaubensflüchtlinge aus Frankreich im 17. Jahrhundert, etwa die Hugenotten, die nach Thüringen kamen;
die politischen und wirtschaftlichen Flüchtlinge im 19. Jahrhundert, das Historiker als das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ werten: Die Liberalen flohen vor Verfolgung, die Armen aus existentieller Not; rund sieben Millionen gingen in Bremerhaven an Bord und hofften in der Neuen Welt auf ein besseres Leben;
Die jüdischen Flüchtlinge in der Nazi-Zeit, aber auch in den Jahrzehnten und den Jahrhunderten davor;
die Kriegs-Flüchtlinge im Osten des Deutschen Reichs, die Rache, Zorn und Unterdrückung der Besatzer am Ende des Zweiten Weltkrieges fürchteten;
die Vertriebenen, denen die Sieger des Kriegs die Heimat nahmen, ob in Ostpreußen, Schlesien oder dem Sudetenland;
die Bürgerkriegs-Flüchtlinge heute, die das nackte Leben retten wollen;
die Wirtschafts- oder Armuts-Flüchtlinge unserer Tage, die den deutschen Auswanderern im 19. Jahrhundert ähneln – aber kein gelobtes Land mehr finden, das auf sie wartet und ihnen ein neues Leben verspricht.
Der Einwanderer und der Auswanderer tauchen in der aktuellen Debatte als Begriff nur noch selten auf, es sei denn im politischen Streit um ein Einwanderungsgesetz oder in der Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei.
Asylanten und Migranten sind auch noch Einträge im Wörterbuch der Flucht – und das Bürokraten- und Soziologen-Ungetüm von „Menschen mit Migrationshintergrund“.
So viele Wörter, so viele Menschen und noch mehr in Not.
**
Thüringer Allgemeine, 12. Oktober 2015, Friedhof der Wörter
1 Kommentar
Diskutieren Sie mit uns den Artikel "Das Wörterbuch der Flucht (Friedhof der Wörter)"
Ähnliche Artikel zum Thema
- Die Unlogik der Sprache und die Untiefen der Wörter (Friedhof der Wörter)
- Sternstunden der deutschen Sprache: Schreib und sprich, dass dich die Menschen verstehen!
- Das Wort des Jahres gendert nicht: Gibt es die „Flüchtlingin“? (Friedhof der Wörter)
- Beerdigen wir die „neuen Länder“: Sie bleiben nicht ewig jung (Friedhof der Wörter)
- Gänsefüßchen in der Sprache der Nazis (Friedhof der Wörter)
Sehr geehrter Herr Raue, ich gratuliere Ihnen zu dieser Aufzählung von Flüchtlings- und Migrationsbewegungen! „Migrationshintergrund“, welch ein Wortungetüm, das voerst nicht ersetzbar scheint und vor allem arabische, muslimische, türkische, indische, afrikanische Mitbürgerinnnen und Mitbürger markiert. Es sind ja auch Hunderttausende Deutsche nicht nur im 19. Jahrhundert über Bremerhaven raus Richtung USA, Australien und Neuseeland. Und wir verdanken gerade diesen Deutschen unsere demokratische Struktur, die als ehemalige Emigranten in US-Diensten mit Nazideutschland aufgeräumt haben. Noch in den 60er Jahren gab es eine deutsche Auswanderungswelle, als das „Wirtschaftswunder“ vorübergehend einbrach. Schiller war auf der Flucht und fügte sich nach thüringischer Zwischenstation in Weimar ein. Goethe flüchtigte sich gelegentlich nach Italien. Auch Nietzsche und Thomas Mann büchsten ebenso wie Bert Brecht aus, weil sie Deutschland für sich selbst als gefährdend empfanden. Die Hugenotten prägten Erlangen. Ein Preußen-König holte sich den Voltaire. Wenn letztendlich solche Worte wie „Migrationshintergrund“, auf dem „Friedhof der Wörter“ beerdigt werden sollen, greife ich mit Ihnen gerne zur Schaufel. „Migration“ und „Flucht“, letzterer ein klarer Begriff, wurden von derdeutschen Lokalhistorie erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Thema neu entdeckt. Erinnere mich noch halbwegs gut daran, dass in Taufregistern längst herumgeblättert und „Wanderungsbewungen“ nicht nur innerhalb deutschsprachiger Fläche erforscht wurde, bevor Volker Reitz die „Hunsrücksaga“ szenisch umsetzte. Es gab ja in den 60ern auch etliche Theaterstücke, die Flucht aus enger Welt thematisierten. Sie haben knapp übersehen, dass viele Deutsche in vielen Jahrhunderten auch zur Kolonialisierung in Russland, Rumänien, überhaupt Balkan etc. und sonst wohin angeworben und animiert wurden. Gleichzeitig haben herbei gerufene Polen das Ruhrgebiet auch sprachlich geprägt. Den soziologisch geprägten Begriff „Migrationshintergrund“ etc, meiner Vermutung nach stammend aus der US-Soziologie dank ihrer ewigen Beschäftigung mit „melting pot“,empfinde wahrscheinlich nicht nur ich wegen meines slawischen, im Duden erwähnten Nachnamens, als „abgelutscht“. Leider ist mir bislang kein alternativer, meinetwegen gerne posistiv besetzter Begriff, eingefallen. Ihnen jedoch auch nicht. „Willkommenskultur“ weist in die richtige Richtung, die auch religiöse Aspekt hat. Habe mich neulich in Österreich herumgetrieben. Eisenstadt ist die Partnerstadt von Bad Kissingen. Habe es mir angetan, bei einer wunderschönen Tour rund um den Neusiedler See zur beginnenden Weinernte auch dieses trostlose Kaff Parndorf samt gigantischem Qutletzeugs auch die Stelle anzuschauen, an der Leichenwasser von mehr als 70 eingepferchten Flüchtlingen aus einem Sprinter floss. Sie können mir glauben, dass ich diesmal mit mir einverstanden war, keinen Journalistenausweis mehr zu haben, mit dem ich an gesperrten Flüchtlingsgrenzen im Burgenland wie in der südlichen Steiermark hätte recherchieren können.