Dürfen Chefredakteure beim Interview mit der Kanzlerin „entgleisen“?
„Fürchterliche und beleidigende Entgleisungen“ entdeckt ein 84 Jahre alter und nach eigener Auskunft parteiloser Leser der Thüringer Allgemeine in den Fragen der Chefredakteure beim Interview mit der Kanzlerin. Das Interview hatten die Chefredakteure der drei Thüringer Tageszeitungen (TA, OTZ, TLZ) gemeinsam geführt und wortgleich veröffentlicht.
Vor allem eine Frage empfindet der Leser als „unerhört und falsch“ und erinnert ihn an Politiker in der alten BRD des kalten Kriegs:
Sehr wahrscheinlich werden stasibelastete Politiker für die Linke in den Thüringer Landtag einziehen. Nach Ansicht der Thüringer CDU ist die Linke ein Sammelbecken für Stalinisten, linke Gewalttäter und Stasi-Zuträger. Teilen Sie diese Meinung?
Unser Leser zweifelt sehr, „dass die Thüringer CDU so falsch geprägt ist, wie das in der Fragestellung behauptet wird“.
Chefredakteur antwortet:
Sehr geehrter Herr S.,
die Frage an die Kanzlerin nimmt das Zitat eines führenden CDU-Politikers in Thüringen auf. Der Fraktionsvorsitzende Mike Mohring sagte in einem Interview mit Bernd Hilder, dem Chef der TLZ:
Bodo Ramelow verstellt sich. Hinter der vermeintlich bürgerlichen Fassade des Fraktionsvorsitzenden der Thüringer Linken verbirgt sich eine Gruppe aus Stalinisten, aus Extremisten, aus Leuten, die beim Schwarzen Block aktiv sind, aus linken Gewalttätern und ehemaligen Stasi-Spitzeln.
< Hier werden wir Journalisten für eine "Entgleisung", so sie eine ist, in Haftung genommen, die wir lediglich zitieren - um zu erfahren, ob die Kanzlerin so denkt wie ihr Parteifreund in Thüringen. Wir sind nur die Boten, mehr nicht. Es ist auch nicht Aufgabe von Journalisten, Werbung für Politiker zu machen und die Floskeln ihrer Pressesprecher und Wahlkampf-Manager zu drucken. Es ist unsere Aufgabe, mit unbequemen, gar frechen Fragen dem Politiker die Wahrheit seines Denkens zu entlocken. Das schulden wir unseren Lesern und den Bürgern. Ist uns das mit dem Merkel-Interview gelungen? Im Gegensatz zu Ihnen fanden andere Leser das Interview als zu zahm. Ich gebe zu: Unerhört, falsch und entgleisend waren die Fragen wohl nicht; im Gegenteil: Wir hätten schon ein bisschen bissiger sein können. Thüringer Allgemeine, Samstag-Kolumne „Leser fragen“ 23. August 2014
**
Der Leserbrief in Auszügen, am 20. August 2014 auf der TA-Leserseite veröffentlicht:
Eine Stimme für die Linke
Frau Merkel wird gefragt: „Sehr wahrscheinlich werden stasibelastete Politiker für die Linke in den Thüringer Landtag einziehen. Nach Ansicht der Thüringer CDU ist die Linke ein Sammelbecken für Stalinisten, linke Gewalttäter und Stasi-Zuträger. Teilen Sie diese Meinung?“.
Hierzu antwortet ein 84-jähriger Bürger aus Erfurt, der in der DDR gelebt, ordentlich gearbeitet und seit 61 Jahren eine Familie mit einer Frau hat, seit 1989 parteilos ist und seit der Wende als Senior sehr aktiv ehrenamtlich tätig ist.
Die bereits erwähnte unerhörte, falsche Fragestellung von Chefredakteuren der drei Zeitungen in Thüringen zeigt eine Grundeinstellung dieser Chefs, die an den Kalten Krieg von vor 1989 erinnert, wie er von den Politikern und anderen klugen Leuten von der alten BRD öffentlich geführt wurde.
Ich zweifle sehr, dass die „Thüringer CDU“ so falsch geprägt ist, wie das in der Fragestellung der Redakteure gesagt und behauptet wird.
Die Linke ist heute eine Partei, die besonders in den östlichen Bundesländern von zum Teil mehr Menschen vertrauensvoll angesehen und gewählt wird, da sie mit sauberen und demokratischen Mitteln für die Interessen der Menschen hier eintritt und dabei die soziale Gerechtigkeit und andere Grundinteressen der Menschen hoch angebunden vertritt.
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Das war keine „Entgleisung“, das war die Widerspiegelung des tatsächlichen Lebens im derzeitigen, demokratischen Deutschland. Oder anders ausgedrückt, das war Mut zur Wahrheit. Dazu sind (eigentlich) die Medien in unserem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet.
Was nützen „Parteisoldaten“ die auf Linie gebracht sind? Was nützen Medien, die dem Slogan folgen: Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich. Wenn dass so ist, dann überlege ich, bei wem ich die nächste „Großanzeige“ schalte oder nicht! Diese Tendenz ist erkennbar, wem es passt oder auch nicht! Das Interview hat gezeigt, dass Redaktionen dieser Auffassung auch entgegen wirken können. Hoffentlich macht das Schule. Die Leser werden es danken.
Demokratie lebt nur, wenn es aufmerksame – und unabhängige Medien gibt. Gibt es die überhaupt noch?
W. Jörgens
Lieber Herr Jörgens,
erst wollte ich Ihre Frage, ob es überhaupt noch unabhängige Medien gebe, schnoddrig kurz mit „Unsinn! Ja, reichlich“ beantworten. In der Tat gibt es sie. Ihr „noch“ hat mich stutzig gemacht. Aber es sind nicht Politiker und andere Mächte, die Unabhängigkeit bedrohen (auch wenn sie’s nicht mögen), es sind ökonomische Faktoren, die guten Journalismus immer schwerer machen.
25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Sieg der Marktwirtschaft muss diese beweisen, dass sie unabhängigen Journalismus und eine starke Presse ermöglicht und finanziert. Sie haben Recht: Demokratie lebt nur, wenn es unabhängige Medien gibt!