Geschliffenes Deutsch: Journalisten und ihr Sprachgefühl (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Was ist richtig: Das Dorf an der Grenze wurde geschleift? Oder: Das Dorf wurde geschliffen? Fügen wir diese Frage einem Test hinzu, den man sinnvoll zum Trauer-Jubiläum der Rechtschreibreform veröffentlichen könnte.

Leser beschweren sich gerne über Schludrigkeiten in unserer Zeitung, die in der Eile des journalistischen Geschäfts geschehen und die auch der Gegenleser in der Fülle der Wörter überliest. Freuen wir uns über jeden Leser, der wirklich schwere Fehler entdeckt – wie den Weimarer Professor Siegfried Freitag. Er fragt in einem Brief an die Thüringer Allgemeine: „Ist hier Sprachgefühl ein wenig verloren gegangen?“, und meint schwere Fehler  in meiner Serie „Die Grenze“.

Dort habe ich Dörfer „geschliffen“ statt „geschleift“. Aber richtig ist: Diamant werden geschliffen, Dörfer werden geschleift. Selbst der Duden achtet noch auf den Unterschied, obwohl er sich bei anderen Wörtern schon beugt wie bei „gewinkt“ (richtig) und „gewunken“.

Dörfer, die geschliffen wurden, wären nicht vom Boden der DDR verschwunden, sondern hätten den Wettbewerb zum schönsten Dorf gewonnen: Solch feinen, aber gewichtigen Unterschied nennt Professor Freitag zu Recht „Sprachgefühl“.

Brigitte Grunert schreibt die Sprach-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“. Sie entdeckte, wie die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Wahlkampf auch übers Schleifen stolperte – und das Gegenteil von dem sagte, was sie sagen wollte. Als sie sich über den Plan der FDP aufregte, Steuern zu senken, meinte sie:

„Wenn es eine Entlastung der Besserverdienenden geben soll, dann kann das nur heißen, dass der Sozialstaat geschliffen werden soll.“

Das bedeutete: Der Sozialstaat wird leuchten wie ein geschliffener Diamant, wenn Politiker die Steuern senken. Das Gegenteil wollte sie sagen.

Wahrscheinlich werden ihre Anhänger „geschleift“ verstanden haben. Gleichwohl stimmt, was die Berliner Sprachexpertin Grunert schreibt: „Ach, geschliffenes Deutsch ist rar, aber es lohnt sich, die Bemühungen darum nicht schleifen zu lassen.“

**

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 24. August 2015

Diskutieren Sie mit uns den Artikel "Geschliffenes Deutsch: Journalisten und ihr Sprachgefühl (Friedhof der Wörter)"