Journalisten lernen von Dichtern: Wenn ich meinen Text leise lese, wird er besser

Geschrieben am 4. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Abends in einer guten Redaktion: Es murmelt – ein Journalistenchor aus Selbstgesprächen. Die Texte sind fertig, die Reporter oder Blattmacher lesen leise, in sich versunken. Es ist wie in einem mittelalterlichen Kloster, in dem die Mönche in der Bibel lesen. Erwischt der Abt einen stummen Mönch, herrscht er ihn an: „Warum liest Du nicht?“ Wenn der Mönch bockig antwortet „Ich lese doch“, tadelt ihn der Abt: „Ich höre nichts!“

Die Hirnforschung hat überraschend die These bestätigt, dass wir beim stummen Lesen und Schreiben auch hören. Unser Gehirn übersetzt die Wörter in Töne, der Lesende aktiviert also auch das Areal fürs Hören.

Schreiben ist ein einsames Geschäft, ist ein Selbstgespräch des Journalisten. Das „Gespräch“ ist dabei wörtlich zu nehmen: Wer schreibt, der spricht – selbst wenn nichts zu hören ist. So wird jeder Text besser, wenn wir ihn leise sprechen – und jedesmal, wenn wir stolpern, nicht ein zweites Mal lesen, sondern den Text verbessern. Dort wo wir stolpern, schachtelt der Satz, hemmen Zahlen oder eine Klammer den Lesefluss, reihen sich zu viele Adverbien aneinander usw.

Wenn ich schon stolpere, der den Text kennt, dann stolpert erst recht der Leser, der den Text nicht kennt. Darauf zu hoffen, dass der Leser ein zweites Mal ansetzt, um den Text zu verstehen, ist trügerisch, sehr trügerisch.

Die Schriftstellerin Judith Hermann erzählt in einem Interview mit Nils Minkmar, wie sie schreibt:

Ich habe mir den Text immer wieder laut vorgelesen, bis der Klang stimmte, meine Vorstellung von Rhythmus. Das hat ziemlich lange gedauert, am Anfang hatte ich gar keine Zeit, mich für das energetische Gespinst der Sprache zu interessieren, ich war auch viel zu aufgeregt, unruhig, zu nervös.

Judith Hermann erzählt auch, wie sie einen Roman schreibt. Diese Arbeitsweise taugt aber nur für Journalisten, die Bücher schreiben – nicht für die Tagesarbeit geeignet:

> Ich habe die Geschichte von Anfang bis Ende aufgeschrieben.
> Dann habe ich sie noch einmal abgeschrieben, und beim Abschreiben habe ich noch einmal umformuliert, geordnet, auch gekürzt,
< und dann habe ich sie ein drittes und letztes Mal abgeschrieben. Ich habe gestrichen.

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Quelle:
Hermann-Interview in FAZ 2. August 2014

Lesetipp:
Stanilas Dehaene (französischer Neurowissenschaftler): Lesen – Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert (Knaus,24.99)
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