Vorbildlicher Journalismus: Judith Luigs Reportage über eine Schwangere, die ihr Kind verliert

Geschrieben am 17. November 2013 von Paul-Josef Raue.

„Mein Kind lebt nur in mir“ ist eine der bewegendsten Reportagen, die ich seit langem gelesen habe. Die Welt-Redakteurin Judith Luig erzählt von einer Mutter, die nach vier Monaten Schwangerschaft ihr Kind verliert; es ist wegen einer schweren Krankheit, Trisomie 18, nicht lebensfähig.

Das Thema verträgt keinen spektakulären ersten Satz, kein Erdbeben. Der Einstieg darf, ja muss kühl sein, sachlich:

Wir sitzen auf der Bank im Gang. Die Ärztin hält in der einen Hand die Tablette, in der anderen ein Glas Wasser. Sie hat gleich Feierabend.

Wir wissen nicht genau, wer das „wir“ ist; es dürfte die Reporterin sein, die zum „Ich“ greift, einem selbst in Reportagen seltenen Wort; Journalisten mögen das „Ich“ nicht, wenigstens nicht in Zeitungen und Magazinen.

Das Grauen schleicht sich nur langsam in die Reportage ein. Die Autorin bleibt noch in der Distanz, sie wechselt erst einmal zu einer Nebenfigur, der Ärztin:

Es war kein leichter Dienst. Aber doch Alltag. Sie hat einer Frau erklären müssen, wie das Kind, das sie erwartet, durch die Tablette, die sie schlucken soll, sterben wird. Am Tag darauf müsse die Frau wiederkommen. Dann werden durch Medikamente die Wehen ausgelöst.

Über das Sterben zu schreiben ist fast unmöglich, über das Sterben eines Kindes zu schreiben hält selbst ein Reporter kaum aus, der viel gesehen hat. Wie hält man seine eigenen Gefühle im Zaum? Die Autorin bleibt auf Distanz, lässt die Ärztin erzählen und beobachtet aus den Augenwinkeln die schwangere Frau – die blass wird, „zweimal sackte sie fast weg“.

Gut dreißig Zeilen lang beschreibt die Autorin das Gespräch zwischen der Ärztin und der Mutter. Der Leser kann noch, wenn auch mühsam, in der emotionalen Distanz bleiben. Es geht um die Abtreibung:

Dann hat die Ärztin ihr geraten, sich ihr Kind anzuschauen, wenn es auf der Welt sei. Damit sie ein bisschen besser verstehen könne, was geschehen ist. Damit sie abschließen könne mit dieser Geschichte. Die Frau nickt. Aber sie versteht nicht. Die Frau bin ich.

Mit diesen vier Worten „Die Frau bin ich“ kippt die Reportage; sie bewegt sich aus der Distanz in die Nähe und nimmt den Leser mit. Wer jetzt noch abseits bleibt, ist verloren; wer jetzt seine Gefühle noch unter Kontrolle hat, der hat keine. Der Autorin gelingt, was selten eine Reportage schafft: Der Leser liefert sich der Reporterin aus.

Eine gute Reportage gelingt allerdings nur, wenn die Sprache stimmt und wenn eine Spannung den Leser in den Bann zieht: Judith Luig, die Ich-Reporterin, hält die Spannung, indem sie ihre Geschichte im Präsens erzählt und weitgehend auf Adjektive verzichtet. Die Hauptwörter tragen die Reportage, geben ihr die emotionale Wucht.

„Kein leichter Dienst“, diese Wendung enthält eine der wenigen Adjektive des Textes. Und nur einmal verliert sich die Reporterin, nennt sie die Redensart „ein bisschen schwanger gibt es nicht“ eine „alte, blöde, deutsche Weisheit“. Man könnte einwenden: Auf diese drei Adjektive hätte sie verzichten können – nur hilft dieser Ausbruch auch dem Leser, Luft zu holen. Der Text geht eben an die Nieren.

Judith Luig beschreibt die Krankheit ihres ungeborenen Kindes, berichtet von den Diagnosen, rettet sich in Zahlen, um das Ungeheuerliche zu bannen: 2,8 Millimeter Nackenfalte, 6,5 Millimeter –

Kinder mit dem letzten Wert sterben zu 95 Prozent in den ersten Monaten der Schwangerschaft. Mein Kind hat eine Nackenfalte von 8,6 Millimetern.

Es gibt nichts Kühleres als Zahlen, deshalb sollten sie in einem Text nur sparsam verwendet werden; hier markieren die Zahlen die Grenze zwischen Leben und Tod – und zwischen den Zahlen steht: „mein Kind“.

Es folgt der Kontrast, die andere Welt, die einfache Beschreibung eines anderen Alltags:

Die Ärztin will nach Hause. Sie hat drei Töchter, die warten, dass ihre Mutter sie von der Schule abholt. Morgen ist Sonnabend. Da machen sie einen Ausflug mit der ganzen Familie. Ich weiß nicht, warum ich die Ärztin gefragt habe, was sie am Wochenende mache und ob sie selber Kinder habe. Ich wollte vielleicht nur über etwas anderes als über das reden, was sie mir sagen musste.

Auch der Leser mag die kleine Abwechslung, auch er will etwas anderes lesen, zur Ruhe kommen. Es ist bewundernswert, wie die Ich-Reporterin die Kontrolle über ihren Text behält und die Wirkung auf den Leser bedenkt. Judith Luig bleibt auf der Sachebene, berichtet vom Down-Syndrom, von Frauen, die im immer höheren Alter schwanger werden – um ein Mal, ein einziges Mal in den Zynismus zu fallen, der das schwierige Leben manchmal leichter macht. Wie denkt man über Frauen, die ihr krankes Kind abtreiben lassen?

In den Texten liest es sich so, als würden Frauen wie ich ihre Schwangerschaft einfach in der Mittagspause an der Kasse stornieren lassen, um dann wieder zu ihrer unglaublich tollen Karriere und ihrem selbstsüchtigen Leben zurückzugehen. Männer kommen in diesen Texten höchst selten vor. Höchstens mal pflichtschuldigst als Nebenbemerkung.

Es folgt die Moral, die Frage der Schuld – und die Aufforderung an den Leser: Und wie denkst Du? Sprichst Du mich auch schon schuldig?

Wir haben es geschafft, dass sich Frauen wie ich, die ein Kind verlieren, bevor es ein Kind ist, auch noch schuldig dafür fühlen. Ich bin nicht gut genug. Ich habe versagt. Wenn man mit den Frauen redet, deren Kind die Schwangerschaft nicht überlebt hat oder das zu früh geboren wurde, um zu leben, dann hört man diese Sätze immer wieder. Doch man hört sie nur dann, wenn es einem selbst geschehen ist. Denn mit nicht Betroffenen sprechen die wenigsten Frauen darüber. Manche, weil sie sich schämen. Andere, weil sie keine Worte für ihren Verlust haben. Aber viele auch deswegen, weil sie sich nicht verteidigen wollen für ihre Geschichte und für ihr Kind.

Eine gute Reportage hat einen Rhythmus und einen roten Faden. Judith Luigs Text wechselt ständig von der Erzählung in den inneren Monolog: Krankenhaus, Beerdigungsinstitut, Besuch der Freundin. Die Autorin macht es dem Leser und sich selber leicht, in dem sie der Reihe nach erzählt. Nur einmal bricht sie aus der Chronologie aus, wechselt ins Imperfekt. „Ich kann heute nicht mehr sagen, wann ich mich ergeben habe“, mit diesem Satz leitet die Autorin den langen Rückblick ein: Die Untersuchungen bei der Pränataldiagnostikerin.

Mitten in diesem Rückblick wechselt sie scheinbar ohne Grund vom Imperfekt wieder ins Präsens, eigentlich ein Fehler – aber er fiel mir erst beim zweiten, beim analytischen Lesen auf:

Ich will nichts tun, was die Schwangerschaft gefährdet, sagte ich.

Diese Schwangerschaft gefährden Sie nicht mehr, sagte die Genetikerin.

Ich glaube, da war mir immer noch nicht klar, was sie meinte… Meine größte Sorge war, dass das Kind leiden könnte. Noch zwei Wochen, so sagt die Forschung, und es würde Schmerzen empfinden.

Ich gehe raus, an die Luft, rufe den Vater des Kindes an. Ich schreie und weine, er weiß nicht, was er sagen soll. Was kann man schon sagen.

Auch bei der Fruchtwasseruntersuchung ein paar Tage später bleibt die Begriffsstutzigkeit an mir haften…

Den Ausstieg aus der Vergangenheits-Form wählt die Autorin nicht im Strom der Erzählung, sondern bei einer Unterbrechung, beim Wechsel vom inneren Monolog in die Erinnerung. Der Trick: Die Erinnerung wird ebenso chronologisch erzählt, der Leser läuft also wieder mit, hat vergessen, dass die Autorin zurückblickt; er ist im Präsens, der Gegenwart der Erinnerung.

Und wie kehrt Judith Luig von der Erinnerung in die Gegenwart zurück? Sie berichtet von einer Kollegin, die auch ihr Kind verloren hat, verwebt so Gegenwart und Vergangenheit:

Mit anderen Menschen zu reden, die Ähnliches erlebt haben, tröstet. Eine Kollegin hat ihr Kind noch zu DDR-Zeiten verloren. Damals nahmen einen die Schwestern im Krankenhaus noch nicht so ernst wie heute. Auch heute noch, 25 Jahre später, denkt diese Kollegin an das Kind. Für niemanden sonst hat es dieses Kind gegeben, sagt sie, aber für mich schon.

Ich finde nicht zurück ins Leben. Ich will auch gar nicht. Wochenlang bleibe ich zu Hause. Überfordert selbst von den kleinsten Aufgaben. Kaffeekochen. Milch einkaufen. Rechtzeitig schlafen gehen…

Mit „Ich finde nicht zurück ins Leben“ beginnt der Schlussteil der Reportage, die in den beiden letzten Sätzen mit dem Zurückfinden ins Leben schließt. So kühl die Reportage im ersten Satz begann, so euphorisch endet sie:

Ich habe ein Kind erwartet, das nicht leben konnte. Aber dass es dieses Kind, wenn auch nur diese kurze Zeit, gegeben hat, das war ein großes Glück.

zur Reporterin (nach Reporterforum.de):
Judith Luig begann ihre Karriere als Reporterin über Schützenkönige, Karnevalsprinzessinnen und Goldene Hochzeiten 1998 bei der Bonner Rundschau. Von 2001 bis 2009 war sie Redakteurin im Magazin der taz, später Ressortleiterin von tazzwei und berichtete dort vor allem über Frauen, Männer und Paralleluniversen. Seit November 2009 ist sie Redakteurin bei der Welt/Welt am Sonntag/ Berliner Morgenpost im Ressort Magazin/Reportage/Vermischtes.

Zur Reportage:
Erschienen in Die Welt vom 16.11.13: „Mein Kind lebt nur in mir“

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